Die Rückkehr der Salonlinken

Von Reinhard Mohr · 27.02.2012
Im Zuge der Eurokrise wenden sich etliche Intellektuelle wieder nach links. Sie rufen die "Postdemokratie" aus, in der Regierungen zu Erfüllungsgehilfen der Finanzmärkte degradiert werden und feiern den Aufstand im Volk. Selbsthysterisierung und Realitätsverweigerung, findet Reinhard Mohr.
Seit den 70er-Jahren galt: Der Geist weht links. Noch über die Zeitenwende von 1989 hinaus war die Gleichung stets dieselbe: Intellektuelle und Schriftsteller waren im Zweifel linksliberal und kapitalismuskritisch, pazifistisch und sozial. Doch spätestens mit den Enttäuschungen über die rot-grüne Bundesregierung Schröder/Fischer löste sich die Hegemonie der alten Suhrkamp-Kulturlinken endgültig auf.

Was Jürgen Habermas in den 80er-Jahren die "neue Unübersichtlichkeit" nannte, ähnelte nun einer postideologischen Tabula rasa. Alles war möglich, und jeder musste sehen, wo er blieb. Individualismus war Trumpf, und nur selten kam es noch zu jenen Debatten, die die Gemüter erregten wie der Streit über Islam und Terror. Klammheimlich schien sich die Systemfrage erübrigt zu haben, während die Finanztransaktionssteuer sogar in der CDU Zustimmung fand.

Seit einiger Zeit aber, vor allem im Zuge der Euro-Krise, ist eine Rückkehr der Salonlinken zu beobachten. Ihr neuer Kampfbegriff, den als einer der ersten FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher benutzte heißt "postdemokratisch". Die von Colin Crouch entlehnte Wortschöpfung suggeriert, dass Großkapital und Finanzmärkte längst das Ruder übernommen hätten, derweil Regierungen und Parlamente zu Erfüllungsgehilfen degradiert würden. Die demokratische Öffentlichkeit: hilflos. Die Demokratie: am Ende.

Dieser wilde Alarmismus trägt apokalyptische, ja hysterisch-dadaistische Züge: "Man ist ja nur noch fassungslos. Es ist ein Schwirren im Kopf, ein Kribbeln in den Beinen, ein Staunen darüber, wie offen, wie nackt, wie brutal das alles vor uns liegt", delirierte etwa Georg Diez auf SPIEGEL online. "Das System, das zerfleddert und verludert, vor unseren Augen." Selbst Neuwahlen helfen nichts, denn: "Die Sache ist ja viel, viel schlimmer. Sie geht viel tiefer. Sie greift ins Menschliche über."

Und wer ist schuld? Profitgier? Die Globalisierung? Natürlich die Kanzlerin. Mal ist sie schwach und zögerlich, dann wieder gnadenlos zielstrebig. Viele Kulturschaffende porträtieren sie, als sei sie eine Mischung aus Kaiser Wilhelm Zwo und Generalfeldmarschall Rommel. Nicht nur, dass Angela Merkel "diesem Land die Luft ausgelassen" und "den Geist abgedreht" hat, wie Diez schnaubt, sie hat auch das Ungeheuer des "deutschen Nationalismus" wiederbelebt.

Jakob Augstein, ein politischer Wirrkopf erster Güte, landet gleich bei Hitler: "Damals ging es darum, die Tschechoslowakei dem deutschen Vormachtstreben zu opfern. Heute geht es um ganz Europa." Unter der eisernen Knute der deutschen Sparkommissare, die den Euro zerstören und Griechenland, so muss man fürchten, zu einem neuen Generalgouvernement machen wollen, gedeihen nur Tod und Verderben.

Das zweite Kampffeld der neuen Salonlinken, meist Theaterkritiker, Literaturwissenschaftler oder Journalisten, ist ein meinungsstarker Talkshow-Antikapitalismus, der aus dem Bauch kommt. Ökonomische Kenntnisse und konsistente theoretische Überlegungen sind Mangelware. Ebenso wie eine anständige Revolutionsstrategie und ein schlüssiges Sozialismus-Konzept. Umso mehr bedient man sich rasch angelesener Versatzstücke von Modephilosophen wie Mark Greif, der die amerikanische "Occupy"-Bewegung mit seinen Hipster-Thesen geadelt hat.

Zur Verachtung des zugleich übermächtigen wie röchelnd dahinsiechenden Finanzkapitalismus gesellt sich noch eine beinah kindliche Freude am Aufruhr: "Der kommende Aufstand geht von Berlin aus", jubelt Jakob Augstein. "Hier brennen die Autos, hier werden die Benzinflaschen gefunden, die an den Gleisen liegen... Wenn eine Gesellschaft im Inneren in Trümmern liegt, werden die Trümmer auch im Äußeren wachsen. "

Was hier so deutsch-düster dräut und wabert, ist von rechten Untergangsphantasien nur schwer zu unterscheiden. Hier bricht sich eine offenbar tiefe Sehnsucht nach dem "ganz Anderen" Bahn, ein namenloses Verlangen, das Selbsthysterisierung und Realitätsverweigerung schon für den Vorschein einer besseren Welt hält. Bis es aber soweit ist, geht man abends ins "Borchardt" oder "Grill Royal". Venceremos!


Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".