Die Rückbesinnung

Von Wiebke Hüster |
Nach 150 Jahren ist "La fille" jetzt an die Pariser Oper zurückgekehrt. Im Palais Garnier feierte das Ballett in der 1960 geschaffenen Fassung von Frederick Ashton Premiere und wurde zu einem erneuten großen Erfolg.
Jean Daubervals Ballett "La fille mal gardée" – "Die schlecht behütete Tochter" wurde in Bordeaux uraufgeführt – vierzehn Tage vor der Französischen Revolution. Die Musik bei der erfolgreichen Premiere stammte von Franz Ignaz Beck. Erstmals erzählte das Ballett eine Geschichte wie das Schauspiel, und in diesem ersten wirklichen Handlungsballett traten zum ersten Mal als Hauptfiguren nicht-adlige Protagonisten auf: Ein Ballett ohne König, Herzöge oder Grafen, dafür mit Bauern und Winzern.

In Paris wurde das Stück in Aumers Choreographie mit einer völlig neuen Musik von Louis Joseph Ferdinand Herold 1828 zu einem großen Erfolg. Zwanzig Jahre hielt sich dann die Geschichte von der Bauerntochter Lise, deren Mutter, die Witwe Simone, sie an einen reichen, aber vertrottelten Winzersohn verheiraten will, auf dem Spielplan.

Von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an hatte die Geschichte trotz Happy End - am Schluss gibt die Mutter nach und gestattet Lises Hochzeit mit dem von ihrer Tochter schon lange geliebten Bauern Colas – keine Chance mehr. Als zu wirklichkeitsnah und komödiantisch wurde der Stoff nun empfunden, verglichen mit den zarten, geflügelten feenhaften Wesen, die mit der Romantik Einzug auf die Ballettbühnen hielten.

Einhundertfünfzig Jahre später kehrt "La fille" jetzt an die Pariser Oper zurück. Im Palais Garnier feierte das Ballett in der 1960 geschaffenen Fassung von Frederick Ashton Premiere und wurde zu einem erneuten großen Erfolg. Etoile Nicolas Le Riche und Erste Solistin Dorothée Gilbert wurden zu Recht als technisch brillantes und schauspielerisch sehr natürlich agierendes Liebespaar mit Bravos gefeiert. In der überaus charmanten, unverwechselbar englischen Prägung dieser Version liegt der Grund dafür, dass Ashtons "La fille" dauerhaft "die" kanonische Fassung des Stoffs zu werden scheint.

Kein Wunder: Die Schwierigkeiten und Schönheiten seiner Choreographie – etwa mit ihrem reichen Einsatz an tänzerisch herausfordernden Requisiten wie Bändern, Stöcken, Regenschirmen, Strohgarben und dergleichen – gehen mit einer komödiantischen Atmosphäre einher, in der das schauspielerische Talent der Tänzer so richtig zur Geltung kommt. Die Witwe Colas ist en travestie besetzt, der Winzersohn tanzt eine phantastische, hochkomische Parodie männlichen Virtuosentums. Ein echtes Pony zieht die Frauen in einem Wagen durch Osbert Lancasters wie aquarellierte Dekorationen arkadischer Landschaften, als Hühner maskierte Tänzer scharren einen Pas de quatre um den Hahn in den Sand.

In Paris wirkt Ashtons "La fille" so witzig und so wenig angestaubt wie "Singin’ in the Rain". Es würde etwas fehlen, wenn das Repertoire des Balletts solche Meisterwerke im Fundus abstellen würde. Aber die großen Compagnien begreifen langsam, dass ihr Repertoire nicht unbedingt besser wird, wenn sie immer wieder neue Klassikerversionen in Auftrag geben. Die aktuelle kritische Revision des Kanons wird von der These geleitet, dass die sorgfältige Rekonstruktion und Neubelebung unschlagbar gelungener Fassungen – mögen sie nun 150 oder siebenundvierzig Jahre alt sein – ihre Legitimation hat. Niemand würde Jane Austens Werk als veraltet bezeichnen. Warum also dasjenige Ashtons?