Die Riesenprobleme der Megastädte

Von Thomas Migge · 03.09.2012
Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten - oft unter ärmlichen, menschenunwürdigen Zuständen. Auf dem World Urban Forum in Neapel diskutierten Fachleute über Stadtplanung, urbane Mobilität und soziale Gerechtigkeit. Doch um ihre Ideen umzusetzen, fehlt es an Geld.
Eine Jugendarbeitslosigkeit von rund 65 Prozent, zirka 25 Prozent der Neapolitaner leben unterhalb des Existenzminimums. Tausende von Wohngebäuden sind baufällig, die organisierte Kriminalität kontrolliert ganze Stadtviertel - und seit Jahrzehnten versuchen Bürgermeister der Vielzahl gravierender Probleme Herr zu werden. Neapel, da sind sich Experten einig, ist Europas größter sozialer und urbanistischer Problemfall. Eine Stadt, in die immer mehr Menschen aus Süditalien ziehen, in der vagen Hoffnung, dort eine Arbeit zu finden.

Vor diesem dramatischen Hintergrund, erklärt Abha Joshi-Ghani, wird es verständlich, dass die Vereinten Nationen ausgerechnet diese europäische Metropole für das 6. World Urban Forum auswählten. Joshi-Ghani ist bei der Weltbank für städtische Entwicklungen verantwortlich:

"Heute lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Während die Armut weltweit auch in ländlichen Gebieten zunimmt, erreicht sie in den Metropolen eine Konzentration, die einen wirksamen Kampf dagegen so gut wie unmöglich macht. Das sind extrem alarmierende Zustände."

Joshi-Ghani ist eine von 5000 Teilnehmern aus 114 Staaten, die zum World Urban Forum nach Neapel gekommen sind. Repräsentanten der Staaten der Vereinten Nationen und von Nichtregierungsorganisationen diskutieren bis zum 6. September in hunderten von Foren und Arbeitsgruppen über die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Städten, über Stadtplanung und einen effizienteren Umgang mit Energie, über urbane Mobilität und die gerechtere Verteilung von Reichtum und sozialen Chancen. Unter den deutschen Teilnehmer die Servicestelle Kommunen in der Einen Welt, die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit GIZ und die deutsche Sektion des Internationalen Rats für Kommunale Umweltinitiative.

Kann der Spanier Joan Clos, Geschäftsführer von UN-Habitat und damit Ausrichter des Urban Forums, angesichts der enormen Probleme moderner Megastädte, in denen immer mehr Menschen unter immer menschenunwürdigeren Zuständen leben, überhaupt noch schlafen?

"Mir gefällt dieser Job, denn er gibt mir die Möglichkeit, Riesenprobleme zu thematisieren und immer wieder den Finger in die Wunde zu legen. Man kann uns vorwerfen, dass wir bei diesen Foren zu viele Problempunkte ansprechen und unsere Ideen, Vorschläge et cetera nur Tropfen auf den heißen Stein sind. Aber wer wenn nicht wir spricht überhaupt in einem wirklich internationalen Rahmen über diese Themen? Es gibt einen Riesenhandlungsbedarf angesichts der immer schnelleren Urbanisation in vielen Staaten."

1976 fand unter dem Namen "Habitat" im kanadischen Vancouver der erste UNO-Weltsiedlungsgipfel statt. Damals lebte nur ein Drittel der Weltbevölkerung in Städten. Weil der Verstädterungsprozess rapide voranschreitet, fand 2002 das erste "World Urban Forum" statt. Alle zwei Jahre wird diese Veranstaltung ausgerichtet.

Am Ende des Forums wird es, nicht anders als bei den Treffen in der Vergangenheit, Lösungsvorschläge en masse geben. Doch angesichts der aktuellen globalen Finanzkrise, die wahrscheinlich zu einer weltweiten Rezession führen wird und schon jetzt in verschiedenen Staaten, siehe das krisengeschüttelte Europa, Realität ist, werden mit großer Wahrscheinlichkeit die meisten dieser Lösungsansätze nur Papier bleiben, meint der Wirtschaftswissenschaftler José Carrera aus Venezuela:

"Ich bin glücklich, dass hier wirklich alle Probleme der Verstädterung angesprochen werden. Aber angesichts der aktuellen Weltsituation wird es nur wenig Finanzmittel für Projekte geben, die die in vielen Megastädten katastrophalen Lebensbedingungen auch nur ansatzweise in den Griff bekommen könnten. Die allgemeinen Lebensbedingungen zu bessern wird eine der großen Herausforderungen der nächsten Zeit sein."

Schon beim letzten Forum in Rio waren sich viele Teilnehmer darin einig, dass außer vielen schönen und intelligenten Worten nichts dabei herumgekommen sei. Wahrscheinlich wird es auch dieses Mal nicht anders werden. Wenn sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen schon angesichts des Welthungerproblems nicht auf gemeinsame und nachhaltige Maßnahmen einigen können - und wenn, dann werden die für die Projekte existenziellen Finanzmittel nicht oder nur schleppend überwiesen - dann muss man schon ein ganz großer Optimist sein, sagt der römische Architekt Massimiliano Fuksas. Fuksas war von 1998 bis 2000 Direktor der Architekturbiennale in Venedig. Sein Motto für die Biennale damals war "Less Aesthetics, more Ethics", übrigens ganz im Sinn der aktuellen Architekturbiennale in Venedig, erklärt der Stararchitekt:

"Es gibt strukturelle, technische Probleme, die sich alle logistisch lösen lassen. Doch das große Problem sind die Finanzmittel. Anstatt die Megastädte mit Projekten, die niemand finanzieren kann oder will, menschenwürdiger zu machen, sollten viele kleine private Projekte realisiert werden, für die man nicht so viel Geld benötigt. An die Umsetzung großer weltverbessernder Projekte kann ich angesichts der Weltwirtschaftslage nicht glauben."


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