Die Revolte der Jugend

Von Igal Avidan · 09.03.2012
In seinem neuen Film "Sekret" behandelt der polnische Regisseur Przemyslaw Wojcieszek anhand einer fiktiven Geschichte die Zeit in Polen unmittelbar nach dem Krieg. Dabei thematisiert er wie jüdische Überlebende, die versuchten zu ihren Häusern zurückzukehren, ermordet wurden.
Der polnische Tänzer Ksawery und seine jüdische Agentin Karolina besuchen Ksawerys Großvater Jan. Das Bauernhaus, in dem der Großvater lebt, gehörte vor dem Krieg einer jüdischen Familie. Als der jüdische Vater und sein Sohn nach der Shoah zurückkehrten und ihr Haus wollten soll Jan die beiden wohl ermordet haben. Das bestreitet der alte Mann. Als Karolina Jan des Mordes bezichtigt, kommt es zu einer heftigen Konfrontation.

In seinem neuen Spielfilm "Sekret" (auf Deutsch "Geheimnis") schrieb der polnische Regisseur Przemyslaw Wojcieszek eine fiktive Geschichte auf der Grundlage mehrerer wahrer Vorfälle:

"Der Film behandelt die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, als viele jüdische Überlebende, die versuchten zu ihren Häusern zurückzukehren, auf der Stelle von überwiegend Einheimischen ermordet wurden. Es ist immer noch ein Tabu in Polen, wo nur fünf-sechs Historiker darüber in Fachzeitschriften schreiben und lediglich ein-zwei Bücher zu diesem Thema erschienen sind, aber keine Filme. Nur wenige solche Fälle landeten vor Gericht und niemand wurde zur Haftstrafe verurteilt. Und das obwohl bis zu 50.000 Menschen auf dieser Weise ermordet wurden."

Polnische Historiker sprechen von bis zu 2.000 ermordeten Juden in den Jahren 1945 und 1946. Heute leben in Polen rund 10.000 Juden. Aber ihre Präsenz im neuen Film "Sekret" ist groß. Immer wieder werden jiddische Worte eingeblendet, Karolina rezitiert jiddische Lieder, was ziemlich konstruiert wirkt, und man blättert in einem Gedichtband des israelischen Nationaldichters Chaim Nachman Bialik durch. Zwischen den gedruckten Texten hat der frühere jüdische Bewohner seine eigenen Verse eingetragen. Jiddisch war die Sprache der drei Millionen ermordeten polnischen Juden, erinnert Regisseur Przemyslaw Wojcieszek:

"Ein polnischer Historiker erzählte mir, dass heute nur einige Hundert Menschen in Polen Jiddish sprechen. Die meisten von ihnen haben es erst gelernt. Für den Film hatten wir mehrere Jiddischberater, eine von ihnen füllte in den Gedichtband rund 50 Seiten mit handgeschriebenen Texten, darunter Gedichten jiddischer Poeten aus dem Vorkriegs-Polen. Während des Holocaust trugen Juden, die im Versteck lebten, in dasselbe Buch ihre Erinnerungen ein."

Der 36-jährige Przemyslaw Wojcieszek gilt als Enfant terrible der polnischen Filmszene. In seinen Filmen zeigt er das heutige Polen ungeschminkt: Die Revolte der Jugend und den Zerfall der früheren Vorbilder untermalt er mit aggressivem Hardrock. Auch über die polnisch-jüdischen Beziehungen redet er Tacheles:

"Von allen Minderheiten vermissen wir die Juden besonders. Das Verschwinden dieser Minderheit ist so traumatisch, weil unser Gewissen hier nicht sehr sauber ist. Der polnische Antisemitismus war sehr stark und die ganze Idee der polnischen Unabhängigkeit ging mit rassistischem Hass einher. Beim Aufbau eines mono-ethnischen Staates sahen viele Polen, nicht alle, die Minderheiten als ein Problem. Daher war die wahre polnische Unabhängigkeit mir einer ethnischen Säuberung verbunden."

Die so effektiv war, dass Przemyslaw Wojcieszek den Versuch der rund 100 Intelektuellen das jüdische Leben in Polen wieder zu beleben als "einfach lächerlich" abtut.

Joseph Fisher hat die Shoah überlebt und in Israel eine Familie gegründet. Mit Geschichten über seine Kriegserfahrungen wollte er seine Kinder nicht belasten. Erst nach seinem Tod entdeckte David Fisher dessen Tagebuch, das der Vater in seinen letzten zwei Jahren heimlich geschrieben hatte und David als Einziger in der Familie las:
"Diesen Vater, den ich nicht kannte, wollte ich auf dieser Reise wirklich kennenlernen, weil ich vorher keine Gelegenheit hatte, zu verstehen, was für eine Persönlichkeit er war. In seinem Bericht beschreibt er detailliert und ohne Pathos die schwersten Momente in seinem Leben. Er teilt uns auch seine Gefühle während des Schreiben mit."

Der außerordentlich bewegende Dokumentarfilm: "Six Million and One" ist kein Film über die Shoah, sondern eine Art Familientherapie in Oberösterreich. Der 55-jährige David Fisher nimmt drei seiner Geschwister mit zum Zwangsarbeiterlager Gusen bei Linz, wo ihr Vater über ein Jahr lang als Zwangsarbeiter die Bergstollen ausgrub, in denen die Nazis Kampfflugzeuge produzierten. Durchschnittlich blieb hier ein jüdischer Sklavenarbeiter eine Woche am Leben, erfahren David und seine Geschwister dort.

Ausgerechnet in den Bergstollen bearbeiten die vier Geschwister die Traumata ihrer Kindheit im Schatten der Shoah. Es wird hier geweint, aber auch gelacht. Für David Fisher ist der Film ein Befreiungsschlag:

"Ich wusste, dass die Shoah ein wichtiger, tiefer Teil meines Lebens ist. Zugleich wusste ich, dass ich dieses Thema berühren will, um mich davon zu befreien. Und dieser Film ist Teil dieser Trennung von dem Thema, obwohl die Shoah mich während des Films sehr bedrückte."
Joseph Fisher war einer der letzten KZ-Häftlinge, die befreit wurden, daher der Titel des Films, der mit einem Picknick der Geschwister auf einer grünen Wiese endet.

Im Bauernhaus nebenan, erfahren sie aus dem Tagebuch, hat ihr Vater, der zwölfmal dem sicheren Tod entkommen war, seine erste Suppe als freier Mensch gegessen.