Die Reisen der Schmetterlinge

12.08.2008
Dies ist kein Sachbuch im herkömmlichen Sinne: Im Mittelpunkt von "Nomaden des Windes" stehen die fulminanten Schmetterlingsbilder des preisgekrönten Naturfotografen Ingo Arndt. Der Bildband erklärt auch anhand von Texten, was Wissenschaftler über die Flugrouten dieser Tiere herausgefunden haben.
Im Spätsommer beginnt ihre Reise. In großen Schwärmen brechen sie auf und machen sich auf einen 4500 Kilometer langen Flug, in zwei Monaten geht es von den Großen Seen im Norden Amerikas bis hinunter nach Mexiko. 70 Kilometer am Tag legen die orange-rötlich-schwarz gefärbten Monarchfalter zurück, mit Rückenwind können es auch schon einmal 300 Kilometer sein. Manchmal fliegen so viele Schmetterlinge gemeinsam, dass sie ganze Bäume bedecken und Äste sich unter ihrem Gewicht biegen. Die Schmetterlinge überwintern in Zentralmexiko - eine Punktlandung, denn ihr Zielgebiet misst nur etwa 1000 Quadratkilometer. Der neue Bildband "Nomaden des Windes" aus dem Verlag Frederking & Thaler begleitet die Tiere auf ihrer beschwerlichen und höchst erstaunlichen Reise.

Die Wanderung der Monarchfalter gehört zu den großen Rätseln der Biologie. Dabei folgen die Schmetterlinge einem bislang nicht vollständig erklärbaren Instinkt: Da die Tiere höchstens ein halbes Jahr leben, können sie ihr Ziel nicht kennen. Trotzdem steuert jede neue Generation im Winter zielsicher wieder die mexikanischen Winterquartiere an. Wahrscheinlich sind es die Sonne und die Magnetfeldlinien der Erde, die ihnen den Weg weisen. Manche Forscher vermuten, dass auch ein Fettfilm, den ihre Vorfahren auf Bäumen und Boden hinterlassen haben, den Schmetterlingen bei der Orientierung hilft. Haben sie ihr Winterziel erreicht, tun sich weitere Rätsel auf: Zu Abermillionen ballen sich die Schmetterlinge an Oyamel-Tannen. Warum ausschließlich an diesen Bäumen? Bieten die Borken der Tannen ein besonderes Mikroklima, das den 4000 Kilometer langen Anflug lohnt? Und nicht selten löschen Kälteeinbrüche im gebirgigen Hochland Zentralmexikos über 70 Prozent der Wanderer aus, dann färbt sich der Waldboden unter den Koniferen rotbraun von toten Schmetterlingen. Hätten die Tiere den grausamen Kältetod nicht genauso gut in Nordamerika, dem Ausgangspunkt der weiten Reise, sterben können? Welcher Grund für die Mexikoreise kann für die Schmetterlingspopulationen wichtiger sein als Sterberaten in Millionenhöhe?

"Nomaden des Windes" ist kein Sachbuch im herkömmlichen Sinne: Im Mittelpunkt des großformatigen Werkes stehen die fulminanten Bilder des vielfach preisgekrönten deutschen Naturfotografen Ingo Arndt. 30 Jahre Leidenschaft für Schmetterlinge, mehrere Weltreisen auf ihren Spuren und eigene Züchtungserfahrungen hat er in seine Bilder gepackt: Da schwärmen in leuchtendem Orange tausende von Flügelpaaren in einen tiefblauen Himmel. Da flattern im warmen, lichten Grün des Waldes bunte Lichtpunkte zwischen Baumstämmen und Laub. Mit einem Ultraleichtflugzeug hat sich der Fotograf in die Lüfte geschwungen, um die Schmetterlingsreise aus der Höhe zu dokumentieren, den Wind, die Kälte, die Wüsten und Berge da unten, die Anstrengung. Für den Text zeichnet Claus-Peter Lieckfeld verantwortlich, lange Redakteur der Zeitschrift "Natur". Wie auch in seinen anderen Naturbüchern schreibt er kraftvoll, stilsicher und persönlich. Keine wissenschaftlichen Allgemeinplätze, keine trockenen Daten und Fakten - sondern ein einzelnes Schmetterlingsweibchen ist es, das wir auf seiner weiten Reise, seinen Kämpfen und Anstrengungen begleiten. Mit seiner Geschichte verknüpft der Autor mit leichter Hand alles Wissenswerte: Wie die Tiere fliegen und navigieren, sich ernähren, sich finden und paaren, wie Raupen sich schützen, verpuppen, verwandeln. Und, auch das darf heute in keinem Naturbuch fehlen, welchen Menschen gemachten Gefahren die Schmetterlingspopulationen ausgesetzt sind: Waldrodung, gentechnisch veränderte Pflanzen, Klimaveränderungen.

Etwa in der Mitte des Buches endet die Reise der Monarchfalter und ein zweiter Teil beginnt, "Schmetterlingswunder" betitelt. Auf jeder Seite ein großes Bild, manche von atemberaubender Schönheit, dazu ein kleiner Textkasten. Hier lernen wir den größten, den kleinsten, den mutigsten, den zähesten und den versoffensten Schmetterling kennen, können Tarnkostüme der Raupen bestaunen und durch die dünne Haut von Schmetterlingspuppen das Wunder der Metamorphose verfolgen. "Nomaden des Windes" ist ein Schmuckstück, gemacht mit außergewöhnlicher Sorgfalt und Liebe.

Rezensiert von Susanne Billig


Ingo Arndt, Claus Peter Lieckfeld,
Nomaden des Windes, Der Zug der Monarchfalter und andere Schmetterlingswunder,

Frederking & Thaler, 192 Seiten, gebunden, mit 107 farbigen Abbildungen, 39,90 €