Die Reise zum Mars

Von Stefan May |
Es ist nicht unbedingt gleich ein Thema für den Länderreport, wenn ein Reisebus in die Lausitz fährt. Sitzen aber ausländische Korrespondenten in besagtem Bus, um sich ihr Bild von der Rekultivierung der Lausitz, von der Landschaft und den Menschen, von 20 Jahren neuerer Geschichte zu machen, dann ist das schon ein Thema, was interessiert.
Zumal wenn ein österreichischer Journalist die Geschichte von der Fahrt in eine Gegend erzählt, die gelegentlich sehr an eine Marslandschaft erinnert, doch aber von Tagebauen, Braunkohle und Menschen stammen.

Es ist kurz nach neun Uhr. Vor dem Haus der Bundespressekonferenz in Berlin setzt sich ein Reisebus in Bewegung. Sein Ziel ist die Lausitz in Brandenburg an der Grenze zu Sachsen. Mit dabei sind 20 Journalisten ausländischer Medien, die in Berlin als Korrespondenten für Zeitungen, Radio und Fernsehen arbeiten. Ihr Ziel sind die ehemaligen Tagebaugebiete in Deutschlands Osten. In einem riesigen Rekultivierungsprojekt sollen sie zum größten künstlichen Seengebiet Europas werden.

Der Verein der ausländischen Presse, dem rund 400 Mitglieder angehören, hat die Reise unter das Thema "Zwischen Braunkohlen-Mars und Lausitzer Riviera" gestellt. Mit durchaus unterschiedlichen Erwartungen gehen die Teilnehmer an die Exkursion heran. Jiri Hosek etwa, seit fünf Jahren Korrespondent des tschechischen Rundfunks in Berlin, setzt seinen Ehrgeiz daran, den Landsleuten in der Heimat mehr von Deutschland nahe zu bringen als die sonst üblichen Stereotypen, wie er es nennt: Sudetendeutsche, Oktoberfest und Tschechen in der Bundesliga. Im heutigen Thema sieht Hosek eine Parallele zu 40 Jahren Kommunismus in Tschechien, indem er den polnischen Dissidenten Adam Michnik zitiert:

"Wie macht man aus einem Aquarium die Fischsuppe? Und unsere Aufgabe ist es, jetzt zu versuchen, aus der Fischsuppe wieder ein Aquarium zu machen. Und natürlich, die totale Devastation einer Landschaft durch Kohletagebau hat dazu gehört, das ist eine parallele Geschichte in der ehemaligen DDR sowie auch in vielen, vielen Gebieten Tschechiens. Und es ist sehr spannend für mich, um zu erfahren, wie weit sind die Leute in den letzten 10, 15 Jahren gegangen, um diese zerstörte Landschaft wieder neu zu beleben. Und ich denke, diese Kultur- und Touristikprojekte sind sehr spannend und vielleicht ein Vorbild auch für uns auf der tschechischen Seite der Grenze."

Weit kommen die Medienleute nicht. Gegenüber dem Flughafen Tempelhof ist vorerst Schluss mit der Fahrt, irgendetwas rasselt im Bus. Bis ein Ersatzfahrzeug eintrifft, wärmen sich die Auslandskorrespondenten mit Kaffee und Tee in einem nahen türkischen Bistro, das weithin sichtbar Döner um 2 Euro und halbe Hähnchen anbietet.

Vanya Encheva, Korrespondentin der auflagenstärksten überregionalen bulgarischen Tageszeitung Trud, steht am Fenster und schaut zum Flughafengebäude, das ebenso funktionslos dasteht wie der traurig blinkende Reisebus auf der anderen Seite. Frau Encheva arbeitet seit fünf Jahren in Berlin. Sie will die Exkursion für eine generelle Recherche nutzen:

"Für mich ist interessant zu sehen, wie sich hier die Landschaften verändert haben und, noch wichtiger, wie sich die Leute verändert haben. Denn 20 Jahre ist eine sehr lange Zeit, aber gleichzeitig eine sehr kurze Zeit. In 20 Jahren können sie Landschaften verändern, ganze Städte neu aufbauen, aber das menschliche Denken zu verändern, es ist nicht so ganz einfach. Also 20 Jahre ist da zu kurze Zeit. Und deswegen ist für mich der heutige Tag auch sehr interessant zu sehen, nicht nur, wie sich die Landschaft da verändert hat, sondern wie sich das menschliche Denken, die Einstellung der Leute, verändert hat."

An einem der wenigen Tische des Bistros sitzt Pascal Thibaut, derzeit Vorsitzender des Vereins der ausländischen Presse in Deutschland. Obwohl er zur jüngeren Generation der Journalisten gehört, hat er die längste Deutschlanderfahrung: Schon seit 19 Jahren lebt er in Berlin und berichtet für Radio France International, das französische Auslandsradio. Die größte Hörergruppe lebt im frankophonen Afrika, was es schwierig macht, solche Themen, wie das heute anstehende zu vermitteln.

"Natürlich sind auch Hörer anderswo in der Welt, aber für diese, klar, das ist dann eine völlig andere Welt. Man kann natürlich vergleichen mit gewissen Wüstenlandschaften, aber hier geht es nicht um eine Landschaft in diesem Fall, die auf natürliche Art entstanden ist, sondern der Mensch hat sie auch zu dem gemacht, was sie geworden ist, mit dem Abbau der Braunkohle. Und jetzt macht der Mensch, um die Beziehung zu Afrika zu behalten, daraus heute eine kleine Oase sozusagen für mögliche Touristen, die dort ihre Freizeit verbringen können. Aber natürlich, das ist fast ein anderer Planet für Hörer aus dem frankophonen Afrika."

Etwa eine Stunde später fährt ein Ersatzbus vor, die Journalisten machen es sich bequem und blättern in den mitgebrachten deutschen Tageszeitungen. Lediglich das koreanische Fernsehteam muss zurückbleiben, weil die Elektronik des defekten Busses die Klappe für die dahinter verstaute Kamera nicht freigegeben hat.

Juana Vera schreibt für das spanische Wochenmagazin El Siglo. Sie betritt heute Neuland in ihrer Berichterstattung und hat sich vorgenommen:

"Vielleicht etwas lernen über diese Veränderungen in diesem Teil Deutschlands nach 20 Jahren des Mauerfalls. Aber es ist ein bisschen schwierig, weil ich war nicht da, wenn die Mauer gefallen worden war. Ich muss darüber einen Report schreiben, ein Dossier, über 20 Jahre des Mauerfalls. Und ich muss einfach kucken, was ich lernen kann. Für mich ist es schwierig, weil ich möchte ein bisschen anders das machen, also wie hat sich Deutschland verändert, und wie ist Deutschland heute nach diesen 20 Jahren, der ganze Deutschland, und wie die Leute hier leben, da möchte ich mich auch auf die Leute hier konzentrieren."

Gegen Mittag hält der Bus an einem Springbrunnen vor einem eleganten Haus, dessen schneeweiße Fassade ein wenig an Heiligendamm erinnert. "Seehotel" steht darüber in Goldlettern. Die erste Station, Großräschen, ist erreicht, derzeit noch ein verschlafenes ostdeutsches Städtchen. Der Ortsrand, an dem das Seehotel liegt, ist tatsächlich ein solcher, denn unmittelbar neben dem Haus fällt das Gelände stufenweise ab zu einer weiten Einöde, die am Horizont mit dem Herbstnebel verschwimmt. Eine nagelneue Seebrücke ragt wie ein gestrandetes Schiff im ausgetrockneten Meer hinaus über die sandigen Kuppen und Krater.

Ein eigenartiges Bild, meint Jiri Hosek, nachdem er sich umgesehen hat.

"Man fühlt sich wie in einem absurden Roman von Franz Kafka, in einem Roman, der nie geschrieben wurde. Denn wir haben hier ein Seehotel, eine Seestraße und eine Seebrücke, aber wir haben keinen See. Es war ein sehr mutiges Projekt. Der ganze Raum von 7000 Hektar wird sich mit Wasser erst im Jahr 2015 füllen, und natürlich mit diesem aufwändigen Projekt zu beginnen und keine eindeutige positive Zukunft zu haben, da braucht man also sehr viel Mut."

Diesen Mut hat der 70-jährige gebürtige Lüneburger, der aus der Ruine eines einstigen Ledigenheims der Bergbaugesellschaft ein Viersternhotel gemacht hat. Den langen Atem bis 2015 gewährt ihm wohl das eigene Möbelzentrum in der Stadt.

Im Restaurant des Hotels sitzen die Journalisten mittlerweile bei Schaumsuppe vom Muskatkürbis und Lausitzer Quark mit Leinöl und Pellkartoffeln und hören dem Bürgermeister von Großräschen zu. Der steht neben einer großen Landkarte, auf der die künftige Seenlandschaft wie ein sich mehrfingrig ausbreitender Tintenklecks die aufgezeichnete Topografie dominiert. Der Bürgermeister erzählt von der Bergbautradition in der Lausitz. Der Industriellen-Villa-Hügel in Essen stellt er die Villa der jüdischen Eigentümerfamilie Petschek, die in der Lausitz Kohle zu fördern begann, in Aussig an der Elbe gegenüber. Beim Namen Petschek horcht Kollege Hosek auf:

"Die Familie hatte auch vor sehr vielen Jahren auch ein Palais gehabt im historischen Stadtkern von Prag. Das Gebäude gibt es bis heute, aber ist leider mit einem sehr dunklen Kapitel der tschechischen Geschichte verbunden. Während des Protektorats im Zweiten Weltkrieg befand sich dort die Gestapo-Zentrale, wo die Leute gefoltert worden sind und umgebracht."

Die ausländischen Journalisten sammeln sich nach dem Essen um einen älteren Herrn mit weißem Rauschebart und Wanderstock, der sie vom Hotel hinunterführt in die Mondlandschaft.

" … diese Ortschaft wurde dann in den 1980er-Jahren devastiert, so hieß das offiziell, devastiert, also abgerissen, zum Abriss freigegeben. Diese Leute, fast 5000 Leute, über 4500 Leute, wurden dann Ende der 1980er-Jahre dann zwangsumgesiedelt …"

Die Besucher stolpern über den Abraum, den in einigen Monaten der immer größer werdende Ilse-See überfluten wird, weichen Sand, aus dem Holzkohlenstücke ragen, die in der Hand zerbröseln. Die Gruppe blickt hinüber auf eine gestrüppreiche Senke, die der Yachthafen, die Marina, von Großräschen werden soll. Ob sich die Menschen nicht gegen die Absiedlung gewehrt hätten, fragt ein Journalist, ob man an das Projekt glaube, ein anderer. Was wird getan, damit das Wasser nicht höher steigt als erwünscht, will jemand wissen. Auf der künftigen Uferpromenade steht Vanya Encheva vor einer Schautafel und raucht. Woran sie beim Anblick der Marslandschaft zu ihren Füßen gerade denkt?

"Dass die Kohls blühenden Landschaften noch immer nicht da sind. Aber da bahnt sich etwas, man sieht den Willen der Menschen, man sieht den guten Anfang. Und ich hoffe sehr, dass es 2015 anders aussehen wird. Und wenn ich bis dahin lebe, da komme ich um zu sehen wirklich eine blühende Landschaft.
Denn ich habe natürlich Seen gesehen, so künstliche Seen, wo früher Tagebau war. Ich habe noch nicht den Grund gesehen. Und jetzt sehe ich es praktisch so von Anfang an, also da kann ich mir nur vorstellen in meinen Gedanken oder Träumen, wie es später aussehen wird, aber das ist für mich unvergleichbar, so was hatte ich noch nicht gesehen. Ich bin zutiefst beeindruckt, muss ich sagen."

Nächste Station ist die Landmarke Lausitzer Seenland, ein rostiger Stahlturm zwischen Kiefern und Birken am Ufer eines der durch Kanäle verbundenen Seen, von dessen Spitze sich weit ins Land sehen lässt. Gerade ein Jahr ist der Turm alt und bereits Wahrzeichen der Umgebung.

Nicht weit entfernt, am Senftenberger See, machen die Journalisten im Reiterhof von Karin Mietke Station. In der Stube neben dem Pferdestall stehen für die Besucher Kaffee und Teller mit noch warmem Pflaumen- und Apfelkuchen bereit. Frau Mietke erzählt von den vielen Initiativen, die sie und ihr Mann nach der Wende begonnen haben, etwas, das Pascal Thibaut höchst bemerkenswert findet.

"Meine Beobachtung in 19 Jahren war, dass es in den neuen Ländern nicht immer so im Maße vorhanden war, dass man vielleicht eher gewartet hat, dass von oben etwas kommt, ein Job et cetera. Ich habe immer die Polen bewundert für ihre Ideen, für die Eigeninitiative, die sie entwickelt hat, manchmal am Rande der Legalität, aber auf jeden Fall haben sie etwas auf die Beine gestellt. Und ich finde, dass es manchmal ein wenig gefehlt hat bei den Ostdeutschen und ich fand es sehr bewundernswert, dass diese Dame mit ihren Mann keinen Job hatte, dann hat sie etwas gemacht mit Zeitschriften und später mit Heizung und auch mit Bier. Jetzt hat sie diese Pension und diesen Reiterhof und morgen möglicherweise diese schwimmenden Häuser auf dem neu entstandenen See, auch von einem Campingplatz war die Rede, also man sieht, es expandiert und man will in jedem Fall Teil der neuen Zukunft sein."

Als der letzte Programmpunkt des Tages erreicht wird, ist es schon dunkel. F60 heißt das stählerne Ungetüm, das quer in der Landschaft liegt, volkstümlicherweise auch: "Der liegende Eiffelturm der Lausitz", eine weitere Attraktion des ehemaligen Bergbaus. Nicht alle aus der Gruppe wagen sich, begleitet von einer Licht-Klanginstallation, auf den 400 Meter langen Weg im Bauch der ehemaligen Abraumförderbrücke. Es ist kalt geworden, und Juana Vera hat sich recht bald in die Wärme des Reisebusses geflüchtet. Sie stellt eine Assoziation zu der riesigen Förderbrücke an, die geheimnisvoll in Weiß, Orange und Grün aus dem Dunkel leuchtet:

"Für mich ist es eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Und ich denke, es ist auch eine Brücke zwischen den Generationen und ein Symbol, was die industrielle Lage war und werden in der Zukunft sein. Ich denke, das ist eine gute Idee, das zu sehen. Und dann, diese Nachhaltigkeit, da werden viele Generationen davon leben. Und ich finde das wunderschön."

Halb acht am Abend ist vorüber, als der Bus mit den ausländischen Korrespondenten aus der Lausitz nach Berlin zurückkehrt. Die Kollegen kramen aus ihren Lunchpaketen Brötchen und Obst und resümieren den Tag, etwa Jiri Hosek vom tschechischen Radio, den vor allem eines an der aus absolutem Nichts entstandenen Idee fasziniert:

"Dass man so ein Projekt durchgesetzt hat! Und die Pläne auf den ersten Blick auf dem Papier waren für die Massen der Bevölkerung natürlich ziemlich utopisch in der Anfangsphase. Und dass das Projekt so weit gekommen ist, das muss man einfach nur loben, und das werde ich versuchen hervorzuheben."

Also wird aus der Fischsuppe wieder ein Aquarium?

Hosek: "Ich denke, es gibt keinen Weg zurück, aber da wird aus der Fischsuppe nicht ein Aquarium gemacht, sondern etwas mehr Leckeres als was die Kommunisten natürlich gekocht haben."

Vanya Encheva von der bulgarischen Tageszeitung Trud ist nun vollständig überzeugt, dass aus den einst öden Landschaften blühende werden.

"Vor 27 oder 30 Jahren bin ich hier gewesen, da kann ich die Parallelen ziehen, und was hier die Leute erreicht haben, also das ist wirklich beeindruckend. Es ist viel Geld geflossen, aber Geld ist nicht alles, das ist der Menschenwille.
Mich hat die Einstellung der Leute fasziniert und beeindruckt, also wie sie ihr Leben gestalten, wie sie ihr Land verändern, wie sie in die Zukunft denken, und gleichzeitig die Geschichte nicht vergessen wollen, denn sie zeigen, wie wir jetzt eben gesehen haben, Sachen, die man in 10, 20, 30 Jahren – also, die kann man nirgendwo anders sehen. Und die Leute, die ihre Geschichte nicht kennen, die können auch ihre Zukunft nicht gestalten, also, beides hat mich fasziniert."

Für Pascal Thibaut von Radio France International zeigte die Reise dieses Tages eine archetypische Umwandlung, auch für das, was in den vergangenen Jahren in den neuen Bundesländern passiert ist: Es sei eine neue Welt geschaffen worden.

"Archetypisch für die Umwälzungen der 20 letzten Jahre war, weil auch, wenn sich diese Pläne verwirklichen, muss man auch nicht vergessen, dass viele Leute ausgewandert sind, dass die Arbeitslosigkeit ziemlich hoch ist, höher als der Durchschnitt in den neuen Bundesländern, und dass diese touristische Entwicklung mit Sicherheit bei weitem nicht so viele Arbeitsplätze schaffen will. Also wie hinter den schönen verputzten Fassaden, wie überall in den neuen Bundesländern, da ist vieles auch an sozialen Problemen dahinter, die weiter existieren."

Für Juana Vera vom spanischen Wochenmagazin El Siglo war die Reise eine große Überraschung.

"Ich wusste nicht soviel über die Region, nur ein bisschen gelesen, aber nicht direkt erfahren. Eine große Herausforderung auch für die Region mit die ganze Projekte und ein Beispiel, dass alles in Bewegung ist in diesem Ostdeutschland und auch in Berlin. Und das ist vielleicht sehr interessant mit Westdeutschland auch, aber ich denke auch im ganzen Deutschland, ja."

Nach fast zwei Stunden Fahrt sind die Deutschlandkorrespondenten wieder zurück in ihrer vorläufigen Heimat Berlin. Morgen werden sie ihre Eindrücke zu Artikeln und Sendungen machen und der Welt ihre Erfahrungen mit der Lausitzer Riviera der Zukunft erzählen.