Die Reise der Hoffnung

Von Sabine Eichhorst · 30.08.2006
Sie hatten Hunger und Hoffnung und darum machten sie sich auf den Weg nach Amerika. Im 19. Jahrhundert war Hamburg - neben Bremerhaven - der deutsche Auswanderungshafen. 5,5 Millionen Menschen schifften sich ein. Drei von ihnen waren Adolf, Charlotte und Maria Tornieporth: am 31. Mai 1864 gingen sie an Bord eines Segelschiffes.
Herbert Tornieporth: "Das Schiff hieß Electric und ist ein Segelschiff, der Kapitän hieß Junge und ist nach New York gesegelt. Das ist gewesen am 31.5.1864."

"Und hier auf diesen Passagierlisten finden Sie da, wo der Knick ist: Da ist Tornieporth - da finden Sie den Adolf, seine Frau und die Maria. Die drei. Tischler ist er von Hause aus, 30 Jahre alt, seine Frau war 26 Jahre alt und die Tochter zwei Jahre alt."

1864. Adolf, Charlotte und Maria Tornieporth gehen an Bord der Electric. Vielleicht sind sie mit der Eisenbahn nach Hamburg gereist, vielleicht mit dem Boot, den Fluss hinab, vielleicht auch zu Fuß. Vielleicht haben sie sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht, vielleicht haben sie sich einer der vielen Auswanderungsagenturen anvertraut, die überall gegründet werden, die Versprechungen machen, Menschen ködern, weil das Geschäft mit denen, die ihr Glück in der Ferne suchen, so lukrativ ist.

Wahrscheinlich schleppt Adolf Tornieporth die Koffer mit dem wenigen, was die Familie mitnimmt und Charlotte trägt das kleine Mädchen. Ein Kopftuch um das zum Dutt gebundene Haar, bodenlange Röcke, Schürzen, viele Frauen auf alten Auswandererfotos sehen so aus. Die Männer tragen Jacken und Mützen.

1864 kümmern sich die Reedereien noch nicht um die Versorgung ihrer Passagiere. Viele verdienen an den Amerikafahrern: Zimmervermieter, Lebensmittelhändler, Schifffahrtsagenten. Und die Stadt Hamburg, denn das Steueraufkommen steigt deutlich.

Noch gibt es nicht die Baracken, in denen in zehn Schlafsälen 1400 Menschen hausen, Krankheiten grassieren. Noch protestieren weder Kirche noch Presse gegen die hygienischen Zustände. Es gibt noch nicht die Evangelisch-Lutherische Hilfsmission. Es gibt noch nicht die Auswandererhallen, in denen alle untersucht und desinfiziert werden; in denen es zugeht wie in Militärkasernen, in denen es aber sauber ist und zu essen gibt.

Der 31. Mai 1864 ist ein Tag wie viele, seit die Auswanderung begonnen hat. Für Adolf, Charlotte und Maria Tornieporth ist es der Tag, der ihr Leben ändert.

"Große Teile der Bevölkerung waren eben arm und sahen keinerlei Chancen im Heimatland Fuß zu fassen. Und das war der Grund für die Emigration."

Renate Müller, Volkskundlerin beim Projekt Link to your roots, wo man die Passagierlisten aus den Jahren 1850 bis 1934 auf Mikrofilm aufbereitet, sie teilweise digitalisiert und via Internet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.

"Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es hier in Deutschland ein starkes Bevölkerungswachstum, und im Vergleich zu Großbritannien hat hier in Deutschland die Industrialisierung ja später eingesetzt. Das heißt, es gab im Grunde zu viele Arbeitskräfte. Die Industrie konnte die Arbeitskräfte noch nicht aufnehmen, und das ist auch ein Grund für die Armut hier in Deutschland.

Allerdings muss man dazu sagen: Emigriert sind nicht die Allerärmsten, sondern diejenigen, die wenigstens ein bisschen was besessen haben, um sich eine Fahrkarte leisten zu können. Nach 1848 sind sehr viele Menschen aus politischen Gründen ausgewandert. Weil es gab Verfolgungen, diejenigen, die als Demokraten eingestuft worden sind, hatten ein schweres Dasein, beispielsweise, dass sie eingesperrt worden sind für ihre Überzeugung oder sie einfach keinen Beruf bekommen haben. Denn auch damals gab es schon eine relativ hohe Akademikerarbeitslosigkeit."

"Es handelt sich um 5,5 Millionen roundabout Datensätze von 5,5 Millionen Personen, die über Hamburg ausgewandert sind. Und zwei Millionen etwa sind digitalisiert und zugänglich über Internet."

Franz Scheuerer, Projektleiter von Link to your roots.

"In ihrer originalen Verfasstheit sind das einzelne Listen, die dann früher oder später in größeren Büchern zusammengefasst wurden. Aber es sind einzelne Listen, die auf der Veddel, in der ehemaligen Auswandererstadt, von den Schreibkräften, von den federführenden Beamten geschrieben wurden, und zwar in Sütterlin oder altdeutscher Schrift und die sehen wunderschön aus."

Adolf, Charlotte und Maria an Bord der Electric, einem Segelschiff der Reederei Sloman, 1853 erworben und in Dienst gestellt. Die Überfahrt kostet etwa 80 Mark für Erwachsene, Kinder die Hälfte, und wahrscheinlich verbringt die Familie die drei, vier Wochen im überbelegten, dunklen Zwischendeck, dessen Decke nur einen Meter 80 hoch ist. Alle schlafen dicht gedrängt, zu wenig Toiletten und frisches Wasser, schlechtes Essen, Wäsche hängt von der Decke und Frauen sitzen im Schmutz und stillen ihre Babys.

Auf den Sonnendecks vergnügen sich Reisende der ersten Klasse. Die Auswanderer dürfen kaum nach draußen. Doch sie bringen das Geld, die Schiffe sind rentabel, weil die Auswanderer so wenig Platz beanspruchen.

"Ohne Zwischendeckpassagiere wäre ich innerhalb weniger Wochen bankrott..."

... sagt der Reeder Albert Ballin, auf dessen Schiffen der Großteil der Auswanderer von Hamburg in die Neue Welt fährt.

"Die Frau von meinem Vorfahren, das ist ja eine Schulte-Pflüger."

Herbert Tornieporth. Mithilfe der für die Öffentlichkeit zugänglich gemachten Passagierlisten auf den Spuren seiner Ahnen.

"Die hatte wahrscheinlich einen Verwandten, der schon drüben war. Denn sie haben hinterher gewohnt bei einem Pflüger in New York."

"”Tornieporth, Christopher, New York City, Greater New York...”"

Herbert Tornieporth: "Hier und zwar steht da: Christopher Pflüger. Das ist der Haushalt. Er ist selbstständig, er ist Weißer, verheiratet. Und er ist Grocer, der hatte ein kleines Handelsgeschäft, der war Kaufmann schon."

Adolf, Charlotte und Maria. Haben die Freiheitsstatue gesehen, die die Kontrolle der Einwanderungsbehörde passiert. Kennen sich nicht aus. Verstehen die fremde Sprache nicht.

Adolf, Charlotte und Maria sind in Manhattan.

Herbert Tornieporth: "Das erste Kind, hier: die Maria, die sich dann drüben in New York Mary nannte. Und die anderen Kinder sind alle drüben geboren."

Emma, Adolf junior, Frederick und Charlotte.

Scheuerer: "Ich hab Ihnen mal hier ein Beispiel mitgebracht, das ist aus meiner Familie: Das ist meine Urgroßmutter.

Die heißt Anna Scheuerer, aus Bayern. Und diese Frau hat meinen Großvater als uneheliches Kind zur Welt gebracht. Die hatte also... ein Gspusi nannte man das in Bayern. Der Mann hat sich vom Acker gemacht, sie war alleinstehend und sehr stark diskriminiert, hat meinen Großvater in Pflege gegeben, ist nach München gegangen als Hausmädchen und dort hat sie sich scheinbar das Geld erarbeitet, dass sie dann richtig abhauen konnte.

Die ist dann, das kann man in den Passagierlisten nachschauen: am 1.12.1901 ausgereist nach New York. Die Schiffspassage, die Passagennummer, der Abfahrtstag: 1.12.1901, mit der Pretoria, das ist ein Dampfschiff. Ja, und dann ist sie sicherlich in Ellis Island in den Ankunftslisten - wobei der Name Scheuerer sehr kompliziert ist, kann sein, dass sie ihn nicht richtig angegeben hat, weil sie nichts mehr mit ihrer Vergangenheit zu tun haben wollte, kann aber auch sein, dass sie ihn angegeben hat und er wurde falsch geschrieben, kann auch sein, dass ich ihn einfach nicht mehr finde, auf jeden Fall verliert sich ihre Spur."

1306 Mal suchten im vergangenen Jahr Menschen online nach ihren Vorfahren. Bei komplizierten Anfragen nutzen Renate Müller und ihre Kollegin, eine Historikerin, auch Quellen des Staatsarchivs. Herbert Tornieport wollte seine Familiengeschichte recherchieren; umgekehrt suchen Menschen aus Nord- oder Südamerika nach ihren europäischen Wurzeln, finden Familienangehörige in Deutschland, von denen sie bislang nichts wussten. Spannend ist das, sagt Tornieporth: Kulturgeschichte, Heimatkunde, Deutsche - und Weltgeschichte...

Scheuerer:"Ich denke, dass die Hamburger Passagierlisten, dass das schon ein kulturhistorischer Schatz erster Güte ist. Die sind scheinbar im Verlauf des Krieges immer irgendwo abgestellt worden. Während in anderen Auswanderungsstädten wie Bremen, Bremerhaven diese Listen, die ja auch über sieben Millionen Namen erfasst haben, zerstört worden sind. Entweder durch Kriegseinwirkung oder ganz bewusst, weil eben die Platzfrage dadurch geklärt wird."

2006. In seinem Wohnzimmer sitzt Herbert Tornieporth über sechs dicken Ordnern. Breitet Listen, Kopien, Unterlagen aus. Hat von einem Heraldiker einen Stammbaum erstellen lassen, der Plan nimmt fast den gesamten Tisch ein. Dank der Passagierlisten hat Tornieporth die Geschichte seiner Vorfahren rekonstruiert. Im vergangenen Sommer, 141 Jahre nachdem Adolf, Charlotte und Maria den Atlantik überquert haben, sehen Herbert und Erika Tornieport im Fernsehen eine Serie: "Windstärke Acht - Das Auswandererschiff".

Herbert Tornieporth:"Da habe ich gedacht: Wenn das unsere Vorfahren waren, dann muss es ja so ähnlich gewesen sein, wie die da rüber gekommen sind. Das war eine spannende Reportage."

Erika Tornieporth: "Ich meine: Der Eindruck, den man sich verschafft dadurch, der ist natürlich erschreckend."

Herbert Tornieporth: "Wie sie an Bord gelebt haben. Wie es schwierig für die Frauen war mit ihrer Kleidung da auf die Toilette zu gehen, mit diesen langen Kleidern und Unterkleidern."

Erika Tornieporth: "Man hatte keine Möglichkeit Nahrungsmittel zu kühlen, sie mussten sich sehr minimal auch ernähren. Vor allem auch mit welcher Strenge die ja leben mussten. Der Kapitän hat vorgegeben, wie die Tagesabläufe sind und jeder wurde streng beobachtet. Heute sind die Menschen schon selbstbewusster und die mussten sich wirklich sehr zurücknehmen."
Herbert Tornieporth: "Es muss auf jeden Fall damals eine ganz beängstigende Situation gewesen sein, dass man sich entschlossen hat, mit Familie, mit einem Kleinkind von zwei Jahren, die Stadt Celle zu verlassen. Er ist Tischler gewesen, hat also wahrscheinlich kein Auskommen gefunden, und er wusste oder hat gehofft: Amerika, das ist das Land der Zukunft. Da gibt’s große Aussichten, und deswegen hat er diesen Weg genommen."

Adolf, Charlotte und Maria, sie waren "Wirtschaftsflüchtlinge". Wie Millionen andere Deutsche.

Erika Tornieporth: "Darüber nachzudenken, ist schon was wert. Wenn man hört, was früher die Menschen auf sich genommen haben, um das Land zu verlassen und woanders ihr "Glück" zu suchen - dazu gehört schon ‘ne Menge Mut."

Millionen Deutsche, die Armut und Elend entfliehen wollten, ähnlich den Menschen, die heute in überfüllten Booten, Seelenverkäufern, vor der italienischen Küste, vor den Kanaren stranden, die versuchen, nach Europa zu gelangen.

Erika Tornieporth: "”Diese Boatpeople! Da kriegt man schon manchmal wirklich Angst. Das ist nicht nur Respekt, das ist richtig Angst davor. Finde ich jedenfalls. Weil sie ja nicht wissen, was sie erwartet. Sie nehmen ‘ne Menge auf sich, sie lassen das bisschen Hab und Gut, was sie haben, zurück, zahlen viel Geld für irgendwelche Beförderung und wissen gar nicht, ob sie, wo sie hinwollen eigentlich lebend ankommen.""

Scheuerer: "Das ist zwar im Prinzip das gleiche Thema, das ist aber historisch verschoben. Und man muss sehen, dass heute eine Welt in Bewegung ist, die sehr viel mehr Menschen beinhaltet auf diesem Globus als damals."

In den letzten 50 Jahren gab es ja eine Bevölkerungsexplosion. Und deswegen kann man die Probleme zwar im Prinzip gleichsetzen, aber nicht in der Konkretion. Es stellen sich andere Herausforderungen. Und natürlich ist so was schockierend, aber es würde wahrscheinlich keine Lösung sein, wenn nun alle hierher kommen. Aber: Das bedeutet ja nicht, dass nichts zu tun ist, es bedeutet natürlich, dass entwicklungspolitisch gedacht werden muss. Aber das ist eine andere Diskussion."

Die Amerikafahrer, ein Stück deutscher Geschichte. Aus unserem Bewusstsein längst verschwunden.

Scheuerer: "Das haben ganz viele vergessen, dass es hier eine riesige Zahl von Menschen gab, die sozusagen im Rahmen einer Ventilfunktion über den großen Teich gegangen sind und hier das Sozialsystem entlastet haben damit! Das haben heute natürlich viele vergessen, das ist auch ein bisschen Arroganz der Macht. Nur, man sollte sich nichts vormachen: Das kann sich alles ziemlich schnell umdrehen. Ich habe manchmal die Fantasie: Es kommt der Tag, wo niemand mehr kommen will. Und dann werden hier ganz viele Menschen, die jetzt die Arroganz der Macht ausleben, sich fragen: Was haben wir für Fehler gemacht?"

Deutsche im Gelobten Land. Einige haben ihr Glück gemacht: Adolph Coors, der schwerreicher Brauereibesitzer wurde; Carl Schurz, der Innenminister der USA wurde; Johnny Weismüller, auch über Hamburg ausgereist, der Tarzan wurde.

Adolf, Charlotte und Mary in Amerika, haben sie ihr Glück gefunden? Herbert Tornieporth weiß es nicht. Aber er weiß, dass Adolf jr. 1898 Frieda Kassebaum heiratet. Frieda macht mit den Töchtern am 15. Juni 1904 einen Ausflug, mit dem Raddampfer "General Slocum" auf dem East River.

Herbert Tornieporth: "Und dieses Schiff ist am 15. Juni 1904 vor New York gesunken. In Brand geraten und gesunken. Das war eine der größten Katastrophen seinerzeit. Da sind 1100 Deutsche umgekommen, Mütter mit ihren kleinen Kindern.”"

"”The bodies of Mildred Schnude, two years old, and Mrs. Frieda Tornieporth, 29 years old, are still missing.”"

Herbert Tornieporth: "”Mrs. Frieda Tornieporth, 29 Jahre alt. Das ältere Kind war vier, das andere zwei Jahre. Die Frau von dem Adolf Tornieporth. Und damit ist vermutlich dieser Zweig ausgelöscht."

Adolf Tornieporth stirbt sechs Jahre später.

Herbert Tornieporth: "Hier eine Nachricht, dass ein Adolf Tornieporth 1.8.1910 in New York gestorben ist. Das ist von der New York Times berichtet worden. "

"”The body will be buried in Greenwood Cemetery.”"

Adolf Tornieporth, beerdigt in New York.

Passagierlisten mit den Namen von 5,5 Millionen Deutschen, die im 19. Jahrhundert über den Hamburger Hafen ausgewandert sind: Teil des maritimen Erbes dieser Stadt. Dass sie erhalten geblieben sind und aufbereitet wurden, ermöglicht Privatleuten heute Zugang zu ihrer Familiengeschichte und der Gesellschaft Zugang zu einem Stück vergessener deutscher Geschichte.

Erika Tornieporth: "Ich hätte es mir nicht zugetraut. Nein, ich glaube, ich hätte es mir nicht zugetraut."

Herbert Tornieporth: "Eine Frage, die ich so leicht nicht beantworten kann, aus einer gesicherten Position heraus, als Pensionär, als ehemaliger Staatsbediensteter. Es muss einem schon sehr hart geworden sein, wenn man einen solchen Schritt zu wagt."