Die rastlosen Eckermänner

Von Susanne Mack · 19.07.2007
Was machte der Herr Geheimrat auf den Tag genau vor 200 Jahren, also am 19.Juli 1807 (ein Sonntag dunnemals)? Goethes Tagebuch vermerkt: "Ich ging allein in die Schlucht wo die Specksteincrystalle zu finden und suchte die in demselben Granit sich zeigenden Quarzcrystalle herauszuklopfen."
Nun, diesen Tagebucheintrag kennen Sie ja schon, vielleicht. Er wurde bereits veröffentlicht. Und dennoch werden wir ihn später erneut aufgreifen. Sie werden schon merken, weshalb. Die emsigen Eckermänner im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar versuchen alles, um aus den Tagebüchern jedes Krümelchen herauszuklopfen.

Und in den Briefen jedes Komma und jede Wendung mehrfach abzuklopfen. In den bekannten und in den noch nicht veröffentlichten.

"Nachmittag: Kinder und Conta. - Spazieren."

Na, wissen Sie was damit anzufangen? Mit "Kinder und Conta"? Die Nachwelt will es wissen, der Herr Geheimrat mag es gerne sehen, die Eckermänner im Archiv wollen alles herausfinden. Was ist noch zu erwarten? Wie lange wird es noch dauern? Immerhin ist der Herr Geheimrat schon vor 175 Jahren gestorben.

Eintritt in's Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar. Und Annäherung an Elke Richter und Wolfgang Albrecht, Herausgeber der neuen Goethe-Gesamtausgabe. Historisch- kritische Ausgabe. Von Goethes Briefen und Tagebüchern. Zwar gibt es die berühmte "Weimarer Ausgabe", 143 Bände, Tagebücher und Briefe inklusive, aber:

Albrecht/Richter:"Die Ausgabe wurde vor über 100 Jahren begonnen. Man macht heute verschieden Dinge anders, man ediert auch anders. / Man kann sich vorstellen, dass in hundert Jahren sehr viel Neues an Erkenntnissen, aber auch an Texten dazugekommen ist, so dass nach der Weimarer Ausgabe etwa 1.600 Briefe neu aufgefunden worden sind."

Außerdem haben die Macher der Weimarer Ausgabe seinerzeit massiv in den Text eingegriffen, sozusagen Goethe geschönt und renoviert. Um 1900 war Goethe der Dichter-Gott der frisch geeinten deutschen Nation. Ein Gott macht aber keine Fehler, verschickt keine liederlichen Briefe und nimmt vor allem keine dreckigen Wörter in den Mund. Das war, das 21. Jahrhundert pflegt andere wissenschaftliche Standards, hält sich dicht an das Original - also auch an seine Unvollkommenheiten.

Richter/Albrecht: "Wir drucken das also authentisch, das heißt Buchstaben und Satzzeichen getreu ab. Mit allen Korrekturen, Änderungen, Nachlässigkeiten. / Das heißt, unser Text ist auf Punkt und Komma, auf jedes Zeichen so wie es in der Handschrift steht."

Im Leseraum, dem Allerheiligsten des Weimarer Archivs, "die Echten" nahen. Eine Mappe. Unspektakulärer Karton. Recht ordentlich verschnürt.

Goethe, Brief an Berisch vom 16. Oktober 1767: "Leipzig, den 16. October 1767. Gott weiß, ich binn so dumm, so erzdumm, dass ich garnicht weiß wie dumm ich binn!"

"Binn" mit Doppel "n" geschrieben. In der Weimarer Ausgabe steht "bin" mit einem "n". Das Original angepasst an die später gültigen Rechtschreibregeln. Der Brief des Leipziger Stundenten Goethe an seinen Freund Behrisch hat übrigens auch einen bemerkenswerten Schluss:

"Was macht denn Mamsell Auguste? - Hölle! Das gute Mädgen haben wir seit vier Wochen ganz vergessen, und wenn je ein Mädgen verdient hat dass man an sie denkt so hat's die verdient merck dir das ! Und wenn Sie herkömmt so verlieb' ich mich in sie und dann spielen wir einen Roman vice versa, das wird schön seyn! - Gute Nacht. Ich bin besoffen wie eine Bestie."

Einundzwanzig mal hat der Meister sich verschrieben in diesem Brief, Buchstaben übermalt, Wörter freihändig gestrichen, drüber- und druntergekritzelt. In der Weimarer Ausgabe sind Goethes Fehler dezent getilgt worden, in der neuen Historisch-Kritischen Ausgabe sind sie alle wieder drin. Zwar nicht im Text, dann könnte man den nicht lesen. Aber in Fußnoten. Der Text soll authentisch sein, auch wenn der Schreiber gerade "besoffen ist wie eine Bestie."

1.600 Goethe-Briefe wurden nach Abschluss der Weimarer Ausgabe neu ans Tageslicht gefördert.

Richter: "Oft aus Privatbesitz wird so was angeboten, in Auktionshäusern, ja. Auch heute noch taucht so was immer mal wieder auf."

Das Weimarer Archiv bot mit und kaufte so zum Beispiel die Briefe Goethes an Johann Christian Kestner, dessen Erben sie angeboten hatten. Und zwar von dem Kestner. Aus Wetzlar. Im wirklichen Leben Verlobter von Charlotte Buff, im Roman Werthers Gegenspieler Albert.

Die Briefe sind 1854 erstmals veröffentlicht worden, von Kestners Sohn August, und die Weimarer Goethe-Ausgabe übernahm damals Kestners Druck. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, dass August Kestner die Originale etwas bearbeitet hatte. Zum Beispiel den Brief vom 25. Dezember 1772 . Laut Kestner schrieb Goethe:

Weimarer Ausgabe , Brief Goethe an Kestner, 25. Dezember 1772: "Der ... kerl in Gießen hat flugs in die Erfurter Zeitung eine Rezension gesudelt. Als ein wahrer Esel frisst er die Disteln, die um meinen Garten wachsen."

Im Original steht aber:

"Der Scheißkerl in Gießen"."

Und so wird's in der Historisch-kritischen Ausgabe demnächst auch nachzulesen sein. - Und wer war nun dieser "Scheißkerl"?

Historisch-Kritische Goethe-Ausgabe, Brief Goethe an Kestner, 25.12.1772, Kommentar: ""Christian Heinrich Schmid, Literaturkritiker und Übersetzer, seit 1771 Professor der Beredsamkeit und Dichtkunst in Gießen, von den Zeitgenossen 'Anekdoten-Schmid' genannt, von Herder als 'Schmierer und Zusammenstoppler' verspottet."

Der Brief-Bearbeiter August Kestner war für Injurien anscheinend nicht zu haben. In einem Brief vom 11. April 1773 schreibt Goethe an Kestner:

Weimarer Goethe-Ausgabe, Brief Goethe an Kestner, 11.April 1773: "Die Zugabe braucht, wie es Euch beliebt."

So steht's jedenfalls in der alten Weimarer Ausgabe. Goethe hatte den Kestners im vorigen Briefe eine Zeitschrift als "Zugabe" beigelegt, die ihm inzwischen missfiel. Im Original greift Goethe zu starken Worten:

Historisch-Kritische Goethe-Ausgabe, Brief Goethe an Kestner, 11.04. 1772: "Die Zugabe tätet ihr wohl, Euch den Arsch dran zu wischen."

Manchmal lies August Kestner auch ganze Passagen verschwinden. Zum Beispiel in einem Brief vom 14. April 1773 . Da hatte Goethe gerade erfahren, dass Kestner und Lotte geheiratet haben. Zuerst sieht's so aus, als nehme er's gelassen:

Historisch-Kritische Goethe-Ausgabe, Brief Goethe an Kestner, 14.April 1773: "Unter uns ohne Pralerey ich versteh mich einigermaßen auf die Mädgen und ihr wisst wie ich geblieben binn."

Dann schwärmt Goethe ausgiebig von ein paar neuen Flammen - und ein paar Zeilen später packt ihn die Wut:

Historisch-Kritische Goethe-Ausgabe, Brief Goethe an Kestner, 14.April 1773: "Und das sag' ich Euch , wenn ihr Euch einfallen lasst, eifersüchtig zu werden, so halt' ich mir's aus, Euch mit den treffenden Zügen auf die Bühne zu bringen. Und Juden und Christen sollen über Euch lachen."

Auch diese Zeilen kommen in der Weimarer Ausgabe nicht vor. Und im Original sind sie mit breiter Feder durchgestrichen. Die Editoren der neuen Historisch-Kritischen Ausgabe räteselten lange herum, wer wohl diese Streichung vorgenommen hat: Goethe selbst oder August Kestner aus Rücksicht auf die Familie? Also wurde die Tinte untersucht, die im Goethe-Original einen Strich vorgenommen hatte. Und siehe da, sie enthält viel Chrom. Das Element Chrom wurde 1797 entdeckt, der Brief ist aber 24 Jahre vorher geschrieben worden.

Der Herr Geheimrat hat nicht nur Briefe geschrieben, er hat auch welche bekommen. Ungefähr 20.000 im Laufe seines Lebens. Die gehören zu Goethes Nachlass und lagern fast komplett im Weimarer Archiv.

Albrecht: "Ja. Eine Vielzahl dort enthaltener Briefe ist bisher ungedruckt."

Rund 12.000 Briefe an Goethe sind noch niemals veröffentlicht worden. Damit das Publikum erfährt was drinsteht, wird in Weimar gerade eine Regest-Ausgabe besorgt. Wolfgang Albrecht :

"Regest-Ausgabe bedeutet, es wird nicht der gesamte Brief abgedruckt, sondern der Inhalt wird mitgeteilt, und bei besonders interessanten Stellen gibt man Teilzitate oder Kurzzitate."

"Die Tagebücher, so ungefähr bis gegen 1820, haben eine Besonderheit: sie sind stichwortartig ausgeführt."

Karlsbad, den 19. Juli 1807. Goethe notiert in sein Tagebuch:

Goethe, Tagebücher, Eintrag vom 19.07.1807: "Ich ging allein in die Schlucht wo die Specksteincrystalle zu finden und suchte die in demselben Granit sich zeigenden Quarzcrystalle herauszuklopfen."

Albrecht: "Also, der Leser, der die Weimarer Ausgabe zur Hand nimmt, und Goethe nun nicht von sich aus schon sehr, sehr gut kennt, weiß nicht, was gemeint ist. Man steht praktisch vor der Notwendigkeit, jedes dieser Stichworte zu erläutern, weil der Text für sich kaum spricht."

Im Kommentar zur Historisch-Kritischen Ausgabe der Goethe- Tagebücher, Eintrag vom 19.07., erfährt der Interessierte dann, was "Specksteinkristalle" sind.

Goethe, Tagebücher, Kommentar zum Eintrag vom 19.07.1807: "In Granit vorkommende Kristalle, der Größe nach nie einen Zoll erreichend. An Farbe gelb-grünlich, übrigens von völlig specksteinähnlichem Ansehen."

Die Auskunft stammt von Goethe selbst, aus seinen geologischen Schriften.

Albrecht: "Wir können mit Fug und Recht sagen, dass jetzt die Tagebücher erstmals kommentatorisch erschlossen werden. Und das ist die Schwierigkeit und zugleich der Reiz unseres Kommentars, hier mitunter regelrecht eine detektivische Arbeit zu leisten, um herauszubekommen, was mit diesem oder jenem Eintrag, mit diesem oder jenem Stichwort gemeint ist."

Und manchmal entdeckt Wolfgang Albrecht auch ganz kuriose Sachen. Zum Beispiel heißt es in Goethes Tagebucheintrag vom 26.Juni 1814:

Goethe, Tagebücher, Eintragung vom 26.06.1814. "Nachmittag : Kinder und Conta. - Spazieren."

In der Weimarer Ausgabe ist diese Stelle nicht kommentiert.

Albrecht: "Ich habe lange überlegt, was da gemeint sein könnte."

Der Herr Rat Conta war Polizei-Assesor in Weimar. Wieso sollte der mit Goethe "und Kindern" spazieren gehen?

Albrecht: "Es war an sich ausgeschlossen, dass wirklich irgendwelche 'Kinder' gemeint sein konnten an dieser Stelle. Ich hab' das dann noch mal gelesen ... und da kam mir plötzlich der Gedanke: Es kann nur gemeint sein - der Konsistorialrat Günter! Also, ein Mann namens Günter. Und Goethe hat eben 'Kinder' gesprochen, und so ist es dann notiert worden. Und das macht auch Sinn, dieser Oberkonsistorialrat Günter im Zusammenhang mit dem anderen Weimarer Beamten."

Da ist der Herr Geheimrat wohl missverstanden worden. Von seinem Sekretär.

Albrecht. "Das ist diktiert, die Stelle! Und Goethe hat so genuschelt, mit seinem hessisch-sächsisch, dass das eben so notiert worden ist."

"Was ganz persönliche Dinge anbelangt, bleiben die Tagebücher durchgängig sehr wortkarg gewissermaßen. Es ist ja zum Beispiel viel gerätselt worden über den Eintrag an dem Tag, als seine Frau starb. Ein sehr merkwürdiges Nebeneinander von Mitteilungen ... "

6. Juni 1816, Goethe notiert in seinem Tagebuch:

"Gut geschlafen und viel besser. Nahes Ende meiner Frau. Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Totenstille in und außer mir. - Ankunft und festlicher Einzug der Prinzessin Ida und Bernhards. Abends brillante Illumination der Stadt. - Meine Frau um 12 Nachts ins Leichenhaus. - Ich den ganzen Tag im Bett."

Albrecht: "Die Goethe wirklich persönlich bewegenden Dinge hat er in der Dichtung verarbeitet und hat sie an anderen Orten festgehalten, in Briefen zum Beispiel."

oder auf Christianes Grabstein.

"Du versuchst o Sonne vergebens
Durch die dustren Wolken zu scheinen
Der ganze Gewinn meines Lebens
Ist ihren Verlust zu beweinen."

Wie lange noch wird man an die Historisch-Kritische Goethe-Ausgabe Hand anlegen müssen?

Richter: "Das ist ein langfristiges Projekt, das sich, man kann jetzt schon sagen, zwanzig Jahre hinziehen wird."

Elke Richter über die Brief-Edition. - Und die Tagebücher?

Albrecht: "Ja, das ist im Moment noch nicht ganz genau zu sagen, das wird noch einige Jahre dauern."

Einige Jahre heißt für Wolfgang Albrecht und die Mitarbeiter im Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar:

"Richtig erschienen ist bis 1808, abgeschlossen. 1813 -1816 ist in Arbeit, das sieht dann schon viel besser aus, also, das sind dann noch 16 Jahre bis 1832."

In einem Band werden immer zwei Jahrgänge abgedruckt. Macht also insgesamt acht Bände, die noch ausstehen.

"Fünf Jahre, kann auch länger werden, für einen Band. Und da kann man sich das ja ungefähr ausrechnen."

Fünf mal acht ...

Albrecht: "Der Kommentarband zum Band drei hat schon 1.000 Seiten. Und kommentieren, sehr genau kommentieren, das erfordert seine Zeit."

Und zwar die Zeit von Spezialisten, Computer können Kopfarbeit nicht ersetzen. Und dennoch: die erste Weimarer Goethe-Ausgabe kam innerhalb von zweiunddreißig Jahren zustande. 143 Bände, also fast fünf Bände pro Jahr. Bis 1919. Knapp 90 Jahre später ist es umgekehrt, da braucht man für einen Band fünf Jahre.

"Ja, weil einfach ein Mitarbeiter-Gremium zur Verfügung stand, ich weiß gar nicht genau, wie viele es waren, es ist auch abgedruckt in der Ausgabe, ich schätze ungefähr 50 oder mehr Mitarbeiter sind das gewesen. Das kann man heute nicht mehr zusammenstellen, das ist nicht mehr finanzierbar."

Nicht fünfzig, sondern ganze fünf angestellte Wissenschaftler leistet sich die Stiftung Weimarer Klassik für die Historisch-Kritische Ausgabe von Goethes Tagebüchern und Briefen.

Albrecht/Richter: "Die Ausgabe könnte schneller gemacht werden, wenn wir ein oder zwei Mitarbeiter mehr hätten, das ist ganz klar. / Andererseits sind wir natürlich froh, dass wir das überhaupt hier so abgesichert haben. Das ist für das Goethe- Schiller-Archiv und für die Klassik-Stiftung 'ne große Anstrengung, diese Wissenschaftler hier fest einzustellen."

Voraussichtlich also wird diese Historisch-Kritische Ausgabe auch noch im Jahre 2032 ein unvollendetes Projekt geblieben sein, zweihundert Jahre nach Goethes Tod.

Der erste Band der Historisch-Kritischen Ausgabe von Goethes Briefen liegt jetzt beim Verlag und soll im kommenden Frühjahr erscheinen. Die Briefe des jungen Goethe: Leipzig. Wetzlar. Frankfurt ... die wilden Jahre. Und - Überraschung - da wird nicht nur Text gedruckt - Elke Richter:

"Es kommt relativ häufig vor, dass Goethe seine Briefe mit Zeichnungen versehen hat. Hier zum Beispiel: das ist ein Brief an eine Frankfurter Freundin Johanna Falmer. ... ja, ... 'ne Landschaft. Manchmal sind's auch Köpfe... Hier ... ich nehme an, das sind Bekannte aus seinem Leipziger Umfeld, die er da porträtiert hat."

Dann erfahren Sie endlich mal, wie Frosch, Brander und Altmayer im wirklichen Leben ausgesehen haben. - Ja, genau: diese saufende Studententruppe aus Goethes "Faust." Der "ganz kannibalisch wohl" gewesen ist "als wie fünfhundert Säuen!" in Auerbachs Keller zu Leipzig.
Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28.8.1749 in Frankfurt am Main geboren. Das Foto zeigt ein Gemälde von Joseph Stieler aus dem Jahre 1828. Johann Wolfgang von Goethe zählt bis heute zu den größten Persönlichkeiten der Weltliteratur.
Johann Wolfgang von Goethe© AP Archiv