Die Rache des Fuchsgesichtes

20.06.2008
Die kleine Eva ist etwas Besonderes: Sie kommt mit einer Art Katzenfell zur Welt. Für die Bewohner ihres Heimatortes ist sie ein Monstrum, Außenseiterin. Doch Erik Fosnes Hansen spielt in seinem Roman "Das Löwenmädchen" mit den Perspektiven: Opfer und Täter, Peiniger und Gepeinigte - die Rollen wechseln.
Dezember 1912 in einem norwegischen Städtchen: Eben ist ein Mädchen zur Welt gekommen, Eva, ein süßes Ding mit blauen Augen. Der Vater - Stationsvorsteher des Ortes, ganz höherer Beamter der Staatsbahn - zeigt sich mit seiner Uniform dennoch in "blankgeputzter Trauer". Denn Evas Mutter starb bei der Entbindung.

Und, als sei dies nicht genug der Prüfung für den Herrn Vorsteher, hat die Tochter eine Geburtsanomalie, eine Art Katzenfell: Körper und Gesicht sind mit langem seidenweichem Haar bedeckt. Der Vater ekelt sich, er versteckt das Mädchen in der Bahnhofswohnung.

Als Eva Jahre später hinaus muß, in die Schule, wird diese äußere Welt zur bösen Herausforderung. Die Kleine lernt, dass es zwei Arten Menschen gibt: Reißer und Zerrer. Kinder reißen, Erwachsene zerren. Eva ist kaum "ein Haarbreit davon entfernt, kerngesund zu sein". So sieht es ihr Arzt. Und doch erleidet sie Hohn, Spott, sie hört Gejohle und wird Opfer von Treibjagden, immer wieder.

Für die Leute im Ort bleibt das Kind mit dem Katzenfell, dieses "Fuchsgesicht", ein Monstrum. Für die Wissenschaft hingegen ist sie ein "Kasus", eine Sensation, sie wird examiniert, analysiert, herumgereicht. Eben halbwüchsig reist das Mädchen in den Zwanzigern nach Kopenhagen: Eva - lebendes Exponat und Höhepunkt eines Dermatologen-Kongresses. Da steht sie, fast nackt in einem Hörsaal, den gierigen, schamlosen Blicken Hunderter Männer ausgesetzt.

Als junge, ansehnliche Dame entwickelt das Löwenmädchen subtile Strategien, um sich an ihren schlimmsten Peinigern im Heimatort zu rächen. Am Ende des Buchs schlagen diese Männer zurück, vereint in einer Meute. Sie lauern ihr auf und scheren sie kahl, im Dunkeln, natürlich.

Eva sinniert:

"Wenn ein solches Vorhaben kommt, dann gern im Dunkeln, vielleicht deutet das auf einen Rest von Schamgefühl hin, eine gewisse Schüchternheit, ein Hauch von schlechtem Gewissen, eine Ahnung von Zivilisation. Doch auch dieser Rest kann unter Umständen erstaunlich rasch umschlagen; man muß dergleichen gar nicht allzu oft üben, schon begibt es sich aus der Dunkelheit heraus in den lichten Tag und schlägt schon vor dem Mittagessen Schaufenster ein oder knüpft eins von den Schweinen an einem Laternenmast auf, während der Zeitungsjunge vorbeigeht, als ob nichts wäre..."

Der Autor dieses verblüffenden Buchs ist in seiner skandinavischen Heimat ein Star: Erik Fosnes Hansen, geboren 1965 in New York. Vier Romane publizierte er bislang, die letzten drei erhielten hohe Preise. Fosnes Hansen hat eine besondere Gabe. Er schreibt gleichermaßen für ein weites Publikum wie für die schöngeistige Fachkritik; scheinbar mühelos schafft er den Spagat zwischen Markt und Kunst.

Seine Texte haben, was große Literatur ausmacht, Zauber und Geheimnis, eine unergründbare Zwischenebene, auf der das Nichtgesagte oder Unsagbare mitschwingt.

In seinem jüngsten Werk erzählt der Norweger von Menschen, die uns durch den Lauf der Zeit gerade ein Stück weit entrückt sind - so weit, dass wir sie in Ruhe betrachten können. Doch plötzlich, beim Lesen, kommt die Ahnung: Die ambivalente Ferne samt den Treibjagden auf ein stigmatisiertes Wesen ist Metapher, eine Kulisse der Gegenwart.

Fosnes Hansen schreibt über das Hier und Heute, über uns. Beschaulich wirkt der Text zu Beginn, doch bald schon rauschhaft und schockierend. Stetig wächst das Grauen. Der Leser, berührt und beschämt, sieht sich in konträren Rollen, als Peiniger und Gepeinigter.

Spannung entsteht auch durch häufige Szenen- und Stilwechsel. Erst spricht ein allwissend-ironischer Erzähler, dann plötzlich das innere Ich der Protagonistin. Dazwischen: Berichte, Briefe, Kommentare von Figuren. Und Porträts - deftige Charaktere in einem überzeugend spießigen Ambiente.

Schön, wie der Begriff "normal" demontiert wird. Schön auch, wie leichtfüßig, wie elegant Komposition und Sprache daherkommen. Es gibt Bücher, bei denen man den Eindruck gewinnt, der Autor habe - auf wohltuende Weise - alles richtig gemacht. "Das Löwenmädchen" gehört zu dieser raren Spezies.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Erik Fosnes Hansen: Das Löwenmädchen
Roman, Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
396 Seiten, 19,95 Euro