Die Qual des Weiterlebens
Es ist das erste Wiedersehen nach zwölf Jahren zwischen Vater und Tochter. Mühsam versuchen sie, die alles erdrückende Vergangenheit aufzuarbeiten: Den Selbstmord der zweiten Tochter und Schwester. Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum finden sie nicht.
Es ist ein Roman über Selbstmord, einen bestimmten Selbstmord: Die 24-jährige Lily hat sich das Leben genommen, indem sie von einer Brücke sprang. Der Text spielt zwölf Jahre später. Der Vater und die zweite Tochter haben sich seitdem weder gesehen noch gesprochen. Nach dem Tod der jüngeren Tochter hat er, Sebastian Zinnwald, ein Architekt aus dem Westfälischen, sich in seinem Haus im Engadin verbarrikadiert und will mit seinem Schmerz allein sein. Nun aber erreicht die ältere Tochter, eine geschiedene Kinderärztin, die mit ihren beiden Kindern in Berlin lebt, ein Brief des Vaters, in dem dieser um einen Besuch der Tochter bittet.
Hier setzt die Handlung ein, bei der Begegnung nach all den Jahren aufgestauten Leids, all der Zeit, in der die beiden nicht miteinander gesprochen haben. Natürlich geht die erste Wiederannäherung schief. Veronika, die Tochter, sieht ihre Vorfreude enttäuscht, der Vater, inzwischen ein schwieriger alter Mann geworden, findet nicht die richtigen Worte.
Doch die zwei versuchen es von Neuem, es ist ein mühsamer Prozess des Zueinanderfindens von Menschen, die den Tod einer nächsten Verwandten noch immer nicht verwunden haben, täglich Antworten auf Fragen suchen, die niemand geben und die man schon gar nicht beim Anderen suchen kann.
Es sind lange Reflexionen über das Nichtmehrsein, über die eigene Schuld, den Sinn und die Leere. Zorn über die Religion, die im Ernstfall die Tröstungen ihrer Botschaft vorzuenthalten scheint, wechselt mit der Sehnsucht ab, endlich Frieden mit der eigenen Vergangenheit finden zu können. Statt Versöhnung zwischen Vater und Tochter dient der jeweils andere als Ventil für die eigene Verzweiflung, wird aus dem Versuch, gemeinsam Lilys letzte Gedanken zu ergründen, die bittere Anklage einer Vergangenheit, die man sich anders gewünscht hätte.
Der Leser muss Zeit und Geduld aufbringen, sich dem Thema zu widmen, die zermürbende Qual der Weiterlebenden mit zu verfolgen, denn immer wieder verfallen die zwei Hauptfiguren in langes Grübeln, stellen immer aufs Neue Fragen, Hypothesen und Denkvarianten auf, wird Lilys Selbstmord aus immer neuen Blickwinkeln angeleuchtet, ohne ihm oder ihr in ihrer letzten Entscheidung näher zu kommen.
Dabei rufen sich Vater und Tochter wiederholt Szenen aus dem gemeinsamen Erleben ins Gedächtnis. Dem Autor gelingt durch diese Rückblenden, die Familienverhältnisse immer plastischer erscheinen, Lily immer klarere Konturen bekommen zu lassen, ohne ihr Geheimnis letztlich zu lüften: Denn es gibt kein Geheimnis, lediglich Lilys Ungeduld, wie der Leser gegen Ende erfährt.
Was den Roman auszeichnet, ist die ungeheuer detailreiche Erzählkunst Renoldners. Alle Begebenheiten stattet er mit dermaßen vielen Accessoires aus, erfindet selbst für Nebenhandlungen Unmengen an Fakten, Orten und Biografien, dass sich über die graue Melancholie, die sich durch das Buch zieht, eine bunte Folie legt.
Schließlich gibt es kein Happy End, präzise: Es gibt überhaupt kein "End". Womit Klemens Renoldner im höchsten Maße realitätsnah bleibt: Das Leben geht weiter.
Besprochen von Stefan May
Klemens Renoldner: "Lilys Ungeduld"
Folio Verlag, Wien 2011
248 Seiten, 22,90 Euro
Hier setzt die Handlung ein, bei der Begegnung nach all den Jahren aufgestauten Leids, all der Zeit, in der die beiden nicht miteinander gesprochen haben. Natürlich geht die erste Wiederannäherung schief. Veronika, die Tochter, sieht ihre Vorfreude enttäuscht, der Vater, inzwischen ein schwieriger alter Mann geworden, findet nicht die richtigen Worte.
Doch die zwei versuchen es von Neuem, es ist ein mühsamer Prozess des Zueinanderfindens von Menschen, die den Tod einer nächsten Verwandten noch immer nicht verwunden haben, täglich Antworten auf Fragen suchen, die niemand geben und die man schon gar nicht beim Anderen suchen kann.
Es sind lange Reflexionen über das Nichtmehrsein, über die eigene Schuld, den Sinn und die Leere. Zorn über die Religion, die im Ernstfall die Tröstungen ihrer Botschaft vorzuenthalten scheint, wechselt mit der Sehnsucht ab, endlich Frieden mit der eigenen Vergangenheit finden zu können. Statt Versöhnung zwischen Vater und Tochter dient der jeweils andere als Ventil für die eigene Verzweiflung, wird aus dem Versuch, gemeinsam Lilys letzte Gedanken zu ergründen, die bittere Anklage einer Vergangenheit, die man sich anders gewünscht hätte.
Der Leser muss Zeit und Geduld aufbringen, sich dem Thema zu widmen, die zermürbende Qual der Weiterlebenden mit zu verfolgen, denn immer wieder verfallen die zwei Hauptfiguren in langes Grübeln, stellen immer aufs Neue Fragen, Hypothesen und Denkvarianten auf, wird Lilys Selbstmord aus immer neuen Blickwinkeln angeleuchtet, ohne ihm oder ihr in ihrer letzten Entscheidung näher zu kommen.
Dabei rufen sich Vater und Tochter wiederholt Szenen aus dem gemeinsamen Erleben ins Gedächtnis. Dem Autor gelingt durch diese Rückblenden, die Familienverhältnisse immer plastischer erscheinen, Lily immer klarere Konturen bekommen zu lassen, ohne ihr Geheimnis letztlich zu lüften: Denn es gibt kein Geheimnis, lediglich Lilys Ungeduld, wie der Leser gegen Ende erfährt.
Was den Roman auszeichnet, ist die ungeheuer detailreiche Erzählkunst Renoldners. Alle Begebenheiten stattet er mit dermaßen vielen Accessoires aus, erfindet selbst für Nebenhandlungen Unmengen an Fakten, Orten und Biografien, dass sich über die graue Melancholie, die sich durch das Buch zieht, eine bunte Folie legt.
Schließlich gibt es kein Happy End, präzise: Es gibt überhaupt kein "End". Womit Klemens Renoldner im höchsten Maße realitätsnah bleibt: Das Leben geht weiter.
Besprochen von Stefan May
Klemens Renoldner: "Lilys Ungeduld"
Folio Verlag, Wien 2011
248 Seiten, 22,90 Euro