Die Praxis der Verführung

Auf knapp 400 Seiten schreibt Ariadne von Schirach von Sex, Liebe, Pornografie, so wie sich halbwegs privilegierte junge Menschen im Szene-Stadtteil Berlin-Mitte davon heute umstellt, bedrängt, erregt und abgestoßen fühlen. Leben wir in einer pornografischen Gesellschaft? Wie ist darin noch erotische Begegnung möglich? Um solche Fragen kreist das Buch.
Radio kann man nicht sehen – zum Glück. Deshalb erübrigen sich in dieser Rezension Sätze zum Äußeren der Autorin, zu Haarfarbe, Nagellack, Augenaufschlag. Das Alter und die ideologischen Entscheidungen ihres Großvaters lassen wir auch gleich weg – und können nun vielleicht über das Buch sprechen, dass Ariadne von Schirach geschrieben hat: "Der Tanz um die Lust" befasst sich auf knapp vierhundert Seiten mit Sex, Liebe, Pornografie, so wie sich halbwegs privilegierte junge Menschen im Szene-Stadtteil Berlin-Mitte davon heute umstellt, bedrängt, erregt und abgestoßen fühlen.

Aus der Praxis der Verführung berichtet die Autorin, installiert rund um eine Ich-Erzählerin – autobiografisch oder nicht - eine kleine Gruppe von Freundinnen und Freunden, von deren erotischen Strategien, Obsessionen und Misserfolgen sie anekdotisch erzählt. Damit verbindet sie Reflektionen und Zitate aus der erotischen Literatur von Shakespeare bis Catherine Millet. Ariadne von Schirach spricht sehr selbstverständlich über Sex, hat Spaß an all den Bezeichnungen, die es für sexuelle Empfindungen und Praktiken gibt, weidet sich an den wunderbaren und abscheulichen Neologismen der letzten Jahre.

Anders als es der Klappentext suggeriert, ist das, was die Autorin "Die pornografischen Strategien" nennt, nur ein Teilaspekt des Buches, wenn auch ein spannender: Wie versuchen wir, unsere heile Haut zu retten vor dem allgegenwärtigen pornografischen Blick, der uns in Körperteile zerlegt und nach High-Tech-Normen verwirft oder wieder zusammensetzt?

Ariadne von Schirach hat sie alle studiert und erlitten, die blutigen Skalpell-Shows im Privatfernsehen, die unbarmherzigen Sexiness-Tipps in den Magazinen, die privaten Porno-Darbietungen im Internet. Geistreich analysiert sie die seelischen Scherkräfte, die das verursacht.

Ansonsten geht es in ihrem Buch um Erotik, die Jagd nach dem kurzen nächtlichen Glück, und schließlich mündet sie, ganz altmodisch, in der Hoffnung auf die große Liebe: "Sie ist ein Wagnis, immer ein Wagnis. Mutig sollen wir sein."

Wer es spannend findet, über die Dimensionen des Sexuellen und Erotischen in unserer Gesellschaft und im eigenen Erleben nachzudenken, impulsiv, schräg, tastend, selbstironisch - und anspruchsvoller, als es Stammtisch, Yellow-Press oder Apotheker-Zeitschrift tun - kann sich von Ariadne von Schirachs Freude am Schreiben, Denken und Empfinden, ihren literarischen und philosophischen Streifzügen anstecken lassen.

Die sprachliche und erzählerische Offenheit macht das Buch mutig und intim – was kontakthungrige Rezensenten derzeit reihenweise Autorin und Buch miteinander verwechseln lässt, wenn sie meinen bemerken zu müssen, Ariadne von Schirach (Haarfarbe, Nagellack, Augenaufschlag, Alter, Großvater) rücke ihnen beim Interview im Café gar nicht nah auf die Pelle.

Dennoch hat das Buch auch Grenzen: Die Autorin überhöht als aktuelle Erfahrung, was junge Menschen schon seit Jahrzehnten ereilt, auch wenn Jugendsprache und Balzgebräuche sich alle paar Jahre etwas verändern und es, zugegeben, alle paar Jahrzehnte zu größeren kulturellen Verschiebungen kommt: Zwischen ihrer Ausbildung und der ersten festen Stelle oder dem Kinderkriegen geht man schon seit längerem Tanzen, erprobt die eigene Attraktivität, sammelt sexuelle Erfahrungen, macht die Nacht zum Tag, findet sich heute überirdisch schön und morgen abgrundtief hässlich, bevor übermorgen, man ahnt es und so kommt es, die Zwänge des Berufsalltags oder des ersten eigenen Kindes oder das ganz banale Älter- und Müder-Werden das Flirtvergnügen in den meisten Biografien beenden. Wie sehr Ariadne von Schirach davon ausgeht, die Erfahrungen ihrer Generation seien umwälzend neu und anders, macht sie als junge Autorin kenntlich.

So gefühlvoll und mutig sich der Essay liest, so selbstverliebt und redundant sind viele Passagen; bescheidene hundert Seiten weniger hätten nicht geschadet. Und, ja, es gibt einen Punkt, da wünscht man der Protagonistin, sie möchte sich – auch wenn sie hin und wieder schwört, sich für Bücher und Filme zu interessieren – noch eine weitere Leidenschaft außer Sex und Flirten zulegen. Vielleicht ein politisches oder soziales Ehrenamt oder ein paar zusätzliche spirituelle oder philosophische Fragen an die Welt.

Nicht statt des Sexes, sondern um die Fülle des Lebens nicht nur in einem Garten zu suchen. Die große Erregung, die das Buch erzeugt, ist wohl weder Zeichen seiner überragenden Qualität noch seiner massiven Schundigkeit. Es ist die willige Erregung der Leser. Und man kann nur darüber staunen, wie groß – in unseren pornoüberfluteten Zeiten - der Druck ist, über Sex zu sprechen. Warum? Weil ernsthafte, auf das Herz und das innere Erleben zielende Gespräche über das Thema so rar gesät sind. Ariadne von Schirachs Buch ist ein ernsthaftes Gesprächsangebot.

Rezensiert von Susanne Billig

Ariadne von Schirach: Der Tanz um die Lust
Goldmann Verlag, München 2007
384 Seiten, 14,95 Euro

Ein Gespräch mit der Autorin Ariadne von Schirach im Radiofeuilleton von Deutschlandradio Kultur am 3. April um 14.10 Uhr können Sie für begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Player hören.