"Die pragmatische Jugend"

Thomas Gensicke im Gespräch mit Susanne Führer · 14.09.2010
Als politisch könne man die Jugend von heute nicht bezeichnen, stattdessen liege ihr Interesse eher auf der praktischen Ebene, weiß Soziologe Thomas Gensicke, der an der Shell-Jugendstudie mitgewirkt hat. Auch der Wert von Familie, Freunden und Beziehungen sei stark gestiegen.
Susanne Führer: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Globalisierung – diese Schlagworte stehen für Erscheinungen, die bei den meisten von uns Gefühle von Ohnmacht und Angst auslösen. Wie ergeht es einem, wenn man mit diesen Begriffen und vor allen Dingen inmitten dieser Entwicklung erwachsen wird? Darum geht es in der jüngsten Shell-Jugendstudie die heute der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. In unserem Studio in Berlin-Mitte begrüße ich jetzt Dr. Thomas Gensicke vom Münchener Forschungsinstitut TNS Infratest Sozialforschung, er ist einer der Autoren der Studie. Guten Tag, Herr Gensicke!

Thomas Gensicke: Guten Tag!

Führer: Eine der Leitfragen lautete ja: Wie sehen die Jugendlichen ihre Zukunft? Machen ihnen Finanz- und Wirtschaftskrise Angst oder sind sie optimistisch?

Gensicke: Also die Jugendlichen sind optimistisch, deutlich optimistischer als noch vor vier Jahren, das hat aber jetzt weniger mit der Finanz- oder Wirtschaftskrise zu tun, sondern auch mit vielen anderen Faktoren.

Führer: Womit denn?

Gensicke: Ja, zum Beispiel mit einem großen Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, mit durchaus guten Chancen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, die Jugendliche sich selber ausrechnen.

Führer: Und ist das für alle Gruppen unter den Jugendlichen gleich?

Gensicke: Nein, nein – also das hat ja auch die Ministerin heute auf der Pressekonferenz betont: Die sozialen Unterschiede sind groß – je höher ein Jugendlicher in einer sozialen Hierarchie steht, desto besser sind die Zukunftsaussichten.

Führer: Und wenn er niedriger in der sozialen Hierarchie steht?

Gensicke: Dann bricht der Optimismus ganz schön ein und die Zufriedenheit ist auch deutlich niedriger.

Führer: Und im Grunde genommen ist das ja eine realistische Selbsteinschätzung dann, oder?

Gensicke: Ja, wobei es dann dennoch erstaunt, dass auch viele Jugendliche, die auch heute schon die Abgehängten genannt wurden, so die unteren 10 bis 15 Prozent, doch gar nicht so abgehängt sind. Also viele von denen sind durchaus optimistisch und glauben, es auch noch im Leben packen zu können.

Führer: Ich weiß noch nicht, wonach Sie das jetzt sozusagen beurteilt haben, so die unteren Gruppen, geht das jetzt nach Bildungsabschluss oder nach Einkommen der Eltern oder wie haben Sie das kategorisiert, wo der Pessimismus lebt sozusagen?

Gensicke: Also die Schichten wurden nach ganz realistischen Faktoren klassifiziert – nach Bildungshintergrund im Elternhaus, nach materiellem Hintergrund, also Einkommen und Lebensstil, also sozusagen der Zuschnitt des Lebens materiell und von der Bildung her. Und da ist es halt so, da ergibt sich eine klare Schichtung innerhalb der Jugend, und je höher man halt in der Schichtung steht, desto höher der Optimismus und desto höher die Zufriedenheit.

Führer: Da müssten Mädchen ja eigentlich besonders optimistisch sein, denn die erzielen ja seit Jahren die besseren Abschlüsse.

Gensicke: Ja, das darf man aber nicht überbewerten. So gut das ist und so wichtig das ist, dass die Mädchen ja mehr Abiturabschlüsse machen und auch beim Studium kräftig dabei sind, das Problem kommt erst dann, wenn man Familie und Beruf vereinbaren will, und da gibt es nach wie vor große Probleme.

Führer: Also die Studie wurde ja angekündigt als auch eine Untersuchung eben, wie sich die Jugendlichen zurechtfinden in der Welt, wo es also die Wirtschaftskrise gab, die Finanzkrise gab und die Globalisierung immer mehr zunimmt. Viele Erwachsene zumindest empfinden die Globalisierung ja auch als so ein bisschen als eine anonyme Großmacht, die ihnen mal die Arbeitsplätze wegnimmt, von heute auf morgen, ohne dass man dagegen etwas unternehmen könnte. Wie bewerten denn die Jugendlichen die Globalisierung, Herr Gensicke?

Gensicke: Also im Grunde in der Grundtendenz ähnlich wie die Bevölkerung auch, also Licht und Schatten. Man kann sagen, das Licht ist etwas stärker bei den Jugendlichen, der Schatten etwas schwächer, weil sie sich natürlich durch die Internationalität auch mehr Chancen ausrechnen und die Freizügigkeit, also überall studieren zu können und überall hingehen zu können, wo man will, und weil sie natürlich auch solche Erfahrungen wie Jobverlust noch nicht gemacht haben, oder die meisten jedenfalls nicht – durch Globalisierung.

Führer: Haben Sie auch gefragt, was ist dann den jungen Menschen eigentlich wichtig im Leben?

Gensicke: Also seit 2002 stellen wir fest, dass die Annahmen, die öfter in der öffentlichen Meinung getroffen werden, die Jugendlichen hätten ein sehr instabiles Wertsystem und wüssten gar nicht mehr heute, was wichtig und was unwichtig ist, das konnten wir bereits 2002 nicht bestätigen. Und die Studien bis heute haben immer wieder dieses Bild erbracht, dass die Jugendlichen ein klar orientiertes Wertesystem haben, wo Familie und private soziale Beziehungen an erster Stelle kommen, dann die Bewährung in der Praxis, vor allem auf dem Arbeitsmarkt, also fleißig sein, ehrgeizig sein dann danach folgt. Aber was ganz wichtig ist: Die Jugendlichen sind keineswegs irgendwie karriereverbissen, das gute Leben ist wichtig, sie wollen auch was vom Leben haben.

Führer: Thomas Gensicke, einer der Autoren der Shell-Jugendstudie 2010, erläutert im Deutschlandradio Kultur deren Ergebnisse. Sie haben gerade gesagt, die Familie steht ganz oben bei den Werten.

Gensicke: Und immer höher. Also wir haben 2002 eigentlich gedacht, wesentlich höher kann der Wert Familie gar nicht mehr bewertet werden, aber es geht immer noch ein kleines Stück höher, sodass wir fast überhaupt keine Jugendlichen haben, die überhaupt noch Abstriche machen daran, dass ein gutes Familienleben wichtig ist, aber auch daran, dass gute Freunde wichtig sind. Und das sehen wir auch an den Beziehungen in den Familien, die sind so gut wie nie zuvor oder werden zumindest so eingeschätzt von den Jugendlichen.

Führer: Also Beziehung zu ihren Eltern?

Gensicke: Genau, also wenn sie da einschätzen sollen, wie kommen sie mit den Eltern klar, auch der Erziehungsstil, der sozusagen mit ihnen gemacht wird, wird immer mehr bejaht, also es sagen immer mehr Jugendliche, sie würden ihre Kinder auch so erziehen, wie sie erzogen worden sind. Also das hält schon echt gut zusammen – wie Pech und Schwefel kann man fast sagen.

Führer: Mensch, da können die Eltern ja mal stolz auf sich sein.

Gensicke: Na ja, Sie müssen auch überlegen, was das für Eltern sind, was das für Jahrgänge sind. Also die Jugendlichen sind zwölf bis 25 Jahre alt, dann rechnen Sie das Durchschnittsalter 30 Jahre drauf, das sind natürlich nicht mehr die Eltern, die in den was weiß ich 50ern oder 60ern ihre Kinder – so ein wenig übertrieben –drangsaliert haben mit Forderungen nach unbedingter Leistung und Anpassung.

Führer: Na ja, gut, aber ich denke mal, dass jede Elterngeneration immer gedacht hat, sie würde sich doch sehr bemühen, es so gut zu machen, wie es auch nur möglich ist, und diesmal gibt es eben diese …

Gensicke: Aber wir hatten natürlich diesen Generationenkonflikt ganz klar in den 60er- und 70er-Jahren, und das ist völlig verschwunden inzwischen.

Führer: Wir haben jetzt viel über das direkte Umfeld gesprochen, Herr Gensicke, wofür interessieren sich denn die jungen Leute sonst noch außerhalb von Familie und Freunden und Spaß haben?

Gensicke: Also prinzipiell interessieren sie sich durchaus für das, was in der Gesellschaft vor sich geht, auch was in der ganzen Welt vor sich geht. Es ist zwar noch nicht gerade in euphorisches Interesse, aber es ist durchaus vorhanden. Sie sehen auch die Weltprobleme – Klimawandel, Unterentwicklung in der Dritten Welt, das ist alles präsent –, dann aber natürlich vor allem alle die Dinge, die erst mal am Leben Spaß machen und die Jugendsein ausmachen, und natürlich dabei auch alle die neuen technischen Möglichkeiten, die die Elektronik so bietet, und die Netze und ja, was einem Spaß machen kann als Jugendlicher.

Führer: Noch mal kurz zurück zu den Interessen: Sie sagten, sie interessieren sich schon für das, was los ist in der Welt – weil Sie gerade auch eine Verbindung zu den 60er-Jahren gezogen haben –, aber so eine politische Jugend ist das nicht?

Gensicke: Also auf keinen Fall, also wir nennen … Also es ist auf keinen Fall ein zentrales Kennzeichen dieser Jugend, wir nennen die ja nicht umsonst die pragmatische Jugend. Das heißt, die Interessen sind schon so auf der unmittelbaren praktischen Lebensebene angesetzt oder da ist der Schwerpunkt, und natürlich werfen die Jugendlichen auch ihren Blick auf die große Ebene, aber die steht nicht so zentral im Kern so ihrer Interessen.

Führer: Und in der Freizeit sind die alle online?

Gensicke: Ja, ja, also der Internetzugang ist ja nun enorm hoch, also fast 100 Prozent, was sich ja auch über alle Schichten jetzt inzwischen zieht, die dann auch Zugang haben. Der Punkt ist eher, wie anspruchsvoll man halt das Netz nutzt, und da gibt es natürlich auch wieder schichtabhängig große Unterschiede, ob man das eher konsumtiv mit Spielen nur macht oder ob man das Netz eben auch wirklich kreativ als Informationsquelle nutzt und auch Kommunikationsmedium.

Führer: Und ich nehme an, das ist dann wieder dieselbe Schichtung wie beim Optimismus und Pessimismus?

Gensicke: Ja, das ist immer sozusagen das Fatale, dass wir es immer wiederfinden, wir haben es auch 2006 bei so ganz praktischen Sachen wiedergefunden, eigentlich diesmal auch: bei der Ernährung. Also das ist so fatal, dass je höher Sie in der Schichtung kommen, desto gesünder wird sich ernährt. Also wir haben das direkt so gefragt, wie oft in der Woche gibt es Salat und Gemüse oder im Gegenzug Cola und solche ungesunden Geschichten, und auch das ist ganz unabhängig jetzt von anderen Fragen jetzt wie Bildung oder damit im Zusammenhang natürlich, ist enorm schichtgestuft. Und das ist natürlich ein trauriges Bild, an dem man mal einiges ändern müsste.

Führer: Gab es eigentlich irgendetwas, was Sie überrascht hat in diesem Jahr?

Gensicke: Na ja, sagen wir mal so, die Öffentlichkeit ist, glaube ich, jetzt eher überrascht, dass die Jugendlichen so optimistisch sind. Also wir hatten schon den Eindruck, dass die Erwartungshaltung eher so ist, dass die Jugend durch die Stimmung wesentlich durchwachsener oder vielleicht sogar frustriert ist. Mich hat es nicht überrascht, weil ich ja auch andere Studien kenne und weil wir eigentlich seit zehn Jahren eigentlich ein recht gutes Befinden bei den Jugendlichen haben. Aber das ist klar, ich bin ein Insider, die Öffentlichkeit ist ja stärker bestimmt durch bestimmte Ereignisse, die dann spektakulär sind, in die Presse kommen, irgend so Nachrichten über Komasaufen und fehlende Ausbildungsplätze und so weiter, wobei, wenn man genau hinhört, haben wir eigentlich gar kein Problem mehr der fehlenden Ausbildungsplätze, sondern eigentlich der fehlenden Auszubildenden.

Führer: Wenn wir mal alles zusammennehmen, beschreiben Sie doch mal die typische 17-Jährige von heute?

Gensicke: Die?

Führer: Mhm!

Gensicke: Die typische … Ja also, ich würde sagen …

Führer: Wenn Ihnen das mit Jungen leichter fällt, dann nehmen Sie den typischen 17-Jährigen.

Gensicke: Zum einen also würde ich sagen, recht modern, also bildungsorientiert, strebsam und vor allem beruflich ambitioniert – könnte man schon sagen, dass das für einen Mainstream typisch ist –, gleichzeitig aber immer noch viel mehr familien- und kinderorientiert als die jungen Männer. Die jungen Männer sind natürlich traditionell sowieso berufsorientiert und karriereorientiert, aber sie haben das immer noch nicht in dem Maße irgendwie in der Projektion, dass irgendwann mal auch die Familiengründung ansteht und dass man da eventuell auch selber mal zurückstecken müsste – zugunsten der Karriere der Frau. Das muss sich, glaube ich, in den Grundeinstellungen auch heute noch ändern.

Führer: Dr. Thomas Gensicke vom Münchner Forschungsinstitut TNS Infratest Sozialforschung, er ist einer der Autoren der Shell-Jugendstudie 2010, die heute veröffentlicht wurde. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Gensicke!

Gensicke: Danke auch, Wiederhören!
Mehr zum Thema