Die Polen, die Deutschen und die Europawahlen

Von Gunter Hofmann |
Der Zufall will es, dass die Europawahlen und der 20. Jahrestag der ersten freien Wahlen in Polen am 4. Juni 1989 praktisch zusammenfallen. Große Feierlichkeiten in Warschau und Krakau, aber auch vier schöne Ausstellungen in Berlin erinnern an die Rolle dieses Nachbarn im "Herzen Europas".
Diesem "Zufall", meine ich, lohnt es sich für einen Moment nachzulauschen. Schon klar: Auf manchen europäischen nationalen Bühnen erlebt man zurzeit klägliche Schauspiele, beispielsweise bei den "Alten" in London und Rom oder bei den "Neuen" in Ungarn, Tschechien und im Baltikum, von Rumänien oder Bulgarien gar nicht zu reden. Aber auch Paris und Berlin füllen im Moment der großen Krise das politische Vakuum nicht wirklich und agieren leider extrem standortnationalistisch.

Und dennoch: Vor 20 Jahren fiel nicht nur die Mauer, nein, den ersten gewaltigen Demokratisierungsschritt machte Polen, und alles Weitere, der ungarische Sommer wie die ostdeutsche "Oktoberrevolution", wurde davon beflügelt. Seit dem Werftarbeiterstreik in Danzig im Jahr 1980 unter Führung eines damals unbekannten jungen Mannes namens Lech Walesa – oder sollte man sagen: seit der Wahl des polnischen Kardinals Wojtyla 1978 zum Papst? – entzogen sich unsere Nachbarn im Osten der sowjetischen Dominanz. Ein polnischer General, Jaruzelski, verhängte im Dezember 1981 das Kriegsrecht über das eigene Volk, vor allem gegen die Macht von Walesas Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Es folgten acht dramatische Jahre, die aber in einem Runden Tisch und Wahlen mündeten, ohne Blutvergießen, mit einem Präsidenten Jaruzelski, später Walesa. Das polnische "Wunder" besteht aber nicht allein in dieser konsensuellen Transformation.

Nein, das Wunder erklärte mir Walesas Berater, der große Europäer und spätere Außenminister Bronislaw Geremek, als ich ihn kurz vor seinem Unfalltod in Warschau besuchte, stolz folgendermaßen: Bewiesen habe die zivile Gesellschaft seines Landes, dass allein die Kraft von unten, die Worte und Argumente samt der Zivilcourage von vielen, die mächtigsten Mächte entthronen könnten. Geremek hat dabei keineswegs den Anteil Gorbatschows, dieses "Helden des Rückzugs", schmälern wollen. Geremek wie viele Mitstreiter wagten selbst diesen Tabubruch, früh für ein wiedervereinigtes Deutschland zu plädieren. Nur so komme Stabilität nach Europa, und nur wenn Polen unmittelbar an den Westen heranrücke, sei die Freiheit wirklich dauerhaft gesichert. Dass aber das Sowjetreich die deutsche Einheit nicht überleben werde, dachten diese Polen konsequent gleich mit.

Das unterschied sie von den ostdeutschen Bürgerrechtlern und Protestierenden, die im Herbst mutig auf die Straße gingen – und es unterschied sie von uns ermatteten Bundesrepublikanern, die die Mauer letztlich nicht hinwegdachten. Die deutsche Vereinigung übrigens war denn auch mit einem "demokratischen Defizit" behaftet, weil es sich – wie von der Mehrheit erwünscht – um einen Beitritt handelte, bei dem die demokratische Opposition in Ehren unterging, anders als in Polen. Was ich damit sagen will, ist: Bei allem Klagen über die Verfassung Europas sollte man nicht vergessen, mit welcher Umsicht, Vehemenz und Überzeugungskraft Polens Zivilgesellschaft beitrug zur Renaissance Gesamteuropas. Es ist einfach nicht wahr, dass Europa ein Elitenprojekt ist oder sein muss: Wenn wir Europäer wollen, gehört es uns und keiner fernen "Kommission". Und noch viel weniger stimmt, Europa fehle eine "Begründung" wie einst. Dieses disparate, große Europa politisch und sozial – nicht nur per ökonomischer Deregulierung – zu vereinen, ohne es zu Tode zu harmonisieren, das ist Begründung und Ziel zugleich. Allen Warschauer Irrungen und Wirrungen in den 20 Jahren zum Trotz: Was man von "unten" zu diesem historisch Einmaligen beitragen kann, hat Polen gelehrt.

Gunter Hofmann, Journalist und Autor, Jahrgang 1942, Dr. phil., seit 1977 bei der Wochenzeitung "Die Zeit", seit 1994 Büroleiter in Bonn, seit dem Regierungsumzug in Berlin, einer der angesehensten Beobachter des deutschen Politikbetriebs, jüngste Buchveröffentlichung: "Abschiede, Anfänge. Die Bundesrepublik. Eine Anatomie".