Die poetische Kraft der Philosophie

09.02.2012
In "Gedanken dichten" untersucht der mittlerweile Anfang 80-jährige Literaturwissenschaftler und Philosoph George Steiner die Verbindung von Literatur und Philosophie. In einem Essay von 2006 befasste er sich mit der Frage "Warum denken traurig macht".
Der 1929 in Paris geborene George Steiner hat in seinem Essay "Warum denken traurig macht" (2006) zehn Gründe genannt, warum Trauer eher zum Denken gehört als Frohsinn. Die Vertreibung aus dem Paradies, so Steiner, war ein Fall ins Denken. Doch befasst mit Einfällen, erinnert sich der Denkende stets mit ein wenig Wehmut an die unbelastete Zeit im Paradies. Während Steiner in diesem Essay konstatiert, warum das Denken mit der Melancholie verschwistert ist, geht er in seinem neuen Essay "Gedanken dichten" der Verbindung von Literatur und Philosophie nach.

Steiner, der in Oxford und Harvard lehrte und regelmäßig für "The New Yorker" schreibt, macht im metaphorischen Sprachgebrauch ein verbindendes Element zwischen Dichtung und Philosophie aus. Von Sartre stammt die Formulierung, dass in jeder Philosophie eine "verborgene literarische Prosa stecke". Steiner wendet sich u.a. Philosophen wie Hegel Heidegger oder Marx zu, die dichterisch dachten, und er verweist mit Hölderlin, Goethe oder Thomas Bernhard auf Literaten, die philosophisch schrieben. Es sind diese Wechselwirkungen, aber auch Rivalitäten, die Steiner interessieren, denn die bedeutenden Denker bewegen sich mit ihren Texten fernab vom Belanglosen.

Sein Essay, so hält Steiner im Vorwort fest, versteht sich als Versuch, genauer hinzuhören. Was sagen die Texte, und mit welchen sprachlichen Mitteln wird ein Gedanke formuliert? An Hegels Texten fällt Steiner beispielsweise eine stilistische Dunkelheit auf, anders gesagt, Hegel ist nicht leicht zu verstehen. Doch Steiner ebnet nicht den schwierigen Weg zu Hegel, sondern er macht auf die Intensität und die gedankliche Dichte der Formulierungen aufmerksam. Hegels Texte, ebenso wie die von Marx oder Adorno, verweigern sich in der Sprache und erschweren so den Zugriff. Aber gerade das zeichnet sie - so Steiner - aus. Im Umgang mit diesen Texten macht der Leser die Erfahrung, dass ihm Sinnzusammenhänge nicht zufallen.

Wenn Hegel zum Verhältnis von Herr und Knecht ausführt, dass der Knecht "zu Selbstbewusstsein aus dem objektiven Status seiner Arbeit gelangt", im Unterschied zum Herrn, dessen Selbstbestätigung von der Arbeit anderer abhängt, dann muss der Leser eines solchen Textes eine vergleichbare Erkenntnisarbeit bei der Lektüre leisten. Er muss sich knechten, um zu Erkenntnissen zu kommen. Das Auge des Lesers muss zuhören können, so Steiner.

Steiner will zu einer genaueren, intensiveren Lektüre ermuntern, wenn er auf den Zusammenhang zwischen Lesen und Hören verweist. Seine Ausführungen sind nicht immer anschaulich, aber wenn er, wie bei seinen Darlegungen zu Hegel, Heidegger, Marx oder Wittgenstein textanalytisch arbeitet, wenn er deren metaphorischen Sprachgebrauch verdeutlicht und zeigt, mit welcher poetischen Kraft sich diese Philosophen ausdrücken, dann wird man förmlich in den Bann seiner Darstellung gezogen. Wir gehen verschwenderisch mit unseren Gedanken um, konstatiert Steiner, und er will diese Verschwendung nicht einfach hinnehmen. Es wird wenig gesagt und viel zu viel gesprochen, deshalb ist der Essay Steiners auch ein Plädoyer für die Stille. Denn es braucht Stille, um einen Gedanken zu dichten.

Besprochen von Michael Opitz

George Steiner: Gedanken dichten
Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
305 Seiten, 19,90 Euro
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