Die Pleite immer vor Augen
Die Schuldenprobleme Europas, die schwächelnde US-Wirtschaft und Obamas Reformen führten zu einem Job-Kahlschlag an der Wall Street. Die New Yorker Bevölkerung leidet mit. Denn die Bankenwelt entscheidet über das Wohl und Weh der ganzen Stadt.
Manhattan, New York City – von hier aus regiert Geld die Welt. Alle namhaften Banken sind in der von Wolkenkratzern durchzogenen Megalopolis vertreten. Alleine der im Umfeld der Wall Street gelegene Finanzdistrikt beschäftigt eine Viertelmillion Menschen. Doch das einst so schillernde Image der Bankenmetropole hat Risse bekommen. Denn hier nahm die schwere Finanzkrise ihren Lauf. Das durch die New Yorker Geldhäuser geschürte Immobilienfieber ließ zunächst den Häusermarkt und dann die ganze Wirtschaft zusammenbrechen.
Die New York Stock Exchange ist die größte und wichtigste aller Börsen: Jeden Tag werden dort mehrere Milliarden Aktien gehandelt. Während andere Finanzplätze längst auf Computer umgerüstet haben, gibt es hier immer noch ein richtiges Parkett, auf dem bunt beschürzte Händler herumlaufen, um die bestmöglichen Deals für ihre Auftraggeber rauszuholen. Preis und Stückmenge werden per Handzeichen und durch Zurufe untereinander abgemacht.
Ted Weisberg wuselt seit mehr als 40 Jahren über die Bretter, die das Geld bedeuten. Der Börsenprofi dachte, alles erlebt zu haben. Doch dann: 2008. Die Pleite des Traditionsgiganten Lehman Brothers. Der Notverkauf der nicht minder prominenten Wall Street Firmen Merrill Lynch, Bear Stearns und Wachovia. Die vielen Kollegen, die über Nacht arbeitslos wurden. Der Schrecken sitzt immer noch tief.
„Ich kann gottlob wieder schlafen und die ständigen Kopfschmerzen sind auch nicht mehr da. Aber jetzt geht es darum zu sehen, wie wir unser Business wieder auf die Beine kriegen. Leider begleitet die finanzielle Nahtoderfahrung, durch die wir gegangen sind, immer noch viele Menschen. Viele meiner Kunden nach wie vor tatenlos zu und lecken ihre Wunden. Hoffentlich fassen sie wieder Vertrauen. Hoffentlich können wir uns irgendwann wieder gut fühlen mit dem, was wir machen.“
Aus den grauen Eminenzen der Wall Street sind graue Mäuse geworden: Die einst bewunderten Börsianer werden jetzt zu den Hauptverantwortlichen für das Finanzdebakel erklärt. Dieser Popularitätsverlust ist auch unter Anlegern zu spüren. Viereinhalb Jahre nach Beginn der Finanzkrise handeln die Aktien der amerikanischen Geldhäuser immer noch weit unter Buchwert. Aber es ist nicht nur der abrupte Sturz ihrer Zunft, der Ted zu schaffen macht.
Eine Verkaufsorder ist reingekommen. Ted schlängelt sich an den Stand der Spezialisten – Chefmakler, deren Aufgabe es ist, Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. Del Monte, ein Hersteller von Dosengemüse, steht aktuell bei 11 Dollar. Ted will mehr, sagt aber keinem, was er vorhat. Denn wenn die Kollegen wissen, dass er verkaufen will, dann halten sie den Preis absichtlich niedrig. Und schlecht abzuschneiden – das können sich in diesen Tagen selbst alte Hasen wie Ted nicht mehr leisten.
„Früher hatte ich mehr Spaß bei der Arbeit. Vor vier Jahren arbeiteten hier 5000 Leute. Jetzt sind davon keine 1000 mehr übrig. Das hat natürlich damit zu tun, dass der Handel zunehmend automatisiert wird. Seit der Finanzkrise wird unsere Branche zusätzlich von einer riesigen Konsolidierungswelle erfasst. Ich kann ihnen 100 Firmen nennen, die einmal große Namen hatten, und die es heute nicht mehr gibt.“
New York könnte seinen Status als Weltleitzentrum des Geldes verlieren: Die Gewinne der noch verbleibenden Wall Street Firmen sind 2011 um ein Drittel eingebrochen. Natürlich tragen die europäische Schuldenproblematik und die schwache Wirtschaftslage in den USA mit dazu bei. Aber selbst die hartnäckigsten konjunkturellen Schwächephasen haben bislang noch immer ein Ende gefunden. Viel nachhaltiger wirkt Obamas große Finanzreform, die den amerikanischen Banken deutlich strengere Regeln auferlegt: Sie müssen mehr Kapital auf die hohe Kante legen, sie dürfen nicht mehr unbegrenzt auf eigene Rechnung spekulieren. Für die Vergabe von Hypotheken gelten jetzt staatliche Richtlinien. Das alles lässt weniger Raum zum Geldverdienen.
Arbeitsfrühstück in Midtown Manhattan: Im exklusiven „Rockefeller Center Club“ treffen sich die New Yorker Bankenbosse zum Power Frühstück. Networking mit Silberbesteck – dabei sein ist alles. Auch Thomas DiNapoli speist immer hier, wenn er in der Stadt ist. Der 57 jährige mit dem dunklen Anzug und silbergrauen Haar sieht aus wie eine Mischung aus einem Geschäftsmann und dem netten Kerl von nebenan. Dieser Widerspruch bestimmt auch seinen Beruf: Als der oberste Finanzbeamte des Bundesstaates New York muss DiNapoli zugleich die Interessen der Wirtschaftsträger und die des Wahlvolkes im Auge behalten.
„Es steht außer Zweifel, dass zu viele Risiken eingegangen wurden. Sie haben viel zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten beigetragen, denen wir uns jetzt ausgesetzt sehen. Aus meiner Sicht sind Regelwerke gut, die Nachhaltigkeit, Transparenz und Verantwortungsbewusstsein fördern. Und ja, es gibt viel Frustration da draußen. Aber aus der Sicht New Yorks müssen wir den Kontext im Auge behalten. Egal wie du fühlst – liebe oder hasse die Wall Street – sie ist eine Geldmaschine für New York und New York ist auf sie angewiesen.“
Draußen vor dem Fenster ragen das Rockefeller Center in den Himmel: Erbaut in den 1930er-Jahren, als die USA von der Großen Depression, der schwersten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte, heimgesucht wurden. Im Frühstücksclub der Geldmanager herrschte damals wie heute keine Krisenstimmung. Aber der Schein trügt. Die Gehälter in der New Yorker Finanzbranche fielen letztes Jahr um bis zu 70 Prozent niedriger aus. Entlassungen gehören zur Tagesordnung. Schätzungen zufolge wird bis Ende 2012 jeder Fünfte der noch verbleibenden Banker seine Stelle verlieren. Schadenfreude sei jedoch nicht angebracht, erklärt DiNapoli.
„An jedem Finanzjob hängen in New York drei weitere Arbeitsplätze. Außerdem sind das sehr gut bezahlte Jobs, die da wegfallen. Der Durchschnittsverdienst im Finanzsektor liegt – trotz der Einschnitte – immer noch fünf Mal höher als in anderen Sektoren der Privatwirtschaft. Wenn diese Jungs keine Arbeit mehr haben, dann geben sie auch entsprechend weniger in den lokalen Geschäften aus. Eine schrumpfende Finanzbranche bedeutet zudem gigantische Steuerausfälle. Das Treiben der Börse zeichnet für 14 Prozent unserer Steuereinnahmen verantwortlich.“
Die Wall Street baut ab, New York leidet mit.
Es war eine Protestwelle, wie die USA sie seit dem Vietnamkrieg nicht mehr erlebt hatte: Unter dem Motto „Besetzt die Wall Street“ campten Aktivisten der „Occupy“-Bewegung wochenlang im Zucotti Park, der nur drei Straßenzüge von der New Yorker Börse entfernt liegt. Jeden Tag wurde demonstriert: Gegen die Banker, die Gier, den Kapitalismus.
Inzwischen ist es still geworden um die Protestler, ihr Basislager unter freiem Himmel wurde zwangsgeräumt.
Das brünette Haar adrett zu einem Knoten aufgesteckt, knielanger Flanellrock, roter Lippenstift: Megan Hayes hat rein äußerlich so gar nichts von einer Systemgegnerin. Die 23-jährige Köchin wurde im Zuge der Finanzkrise arbeitslos. Jetzt engagiert sie sich als Büroleiterin bei der Occupy-Bewegung. Die eisigen Nächte im Zucotti Park und die ständige Angst, von der Polizei vertrieben zu werden, sind ganz weit weg.
„Wir haben Schreibtische, Arbeitsnischen, einen Informationsstand, um Mitstreitern zu helfen, die mit uns im Park gecampt haben und jetzt obdachlos sind. Und natürlich haben wir wie jedes andere Büro auch – eine Kopiermaschine!“
Die Wände ihrer New Yorker Zentrale sind übersät mit Hochglanzplakaten, auf denen Amerikaner ihren persönlichen Albtraum schildern. Amin Husain, der seinen Anwaltsjob geschmissen hat, um Künstler zu werden, war während der Proteste jeden Tag 15 Stunden auf den Beinen. Jetzt hat er weniger zu tun. An diesem Abend befestigt Amin Zeitungsausschnitte auf eine riesige Pinnwand. „Was die Medien über uns schreiben” ist darauf zu lesen. Viel wird nicht mehr geschrieben. Das Phänomen Occupy sorgt kaum noch für Schlagzeilen. Aber das sei nur temporär, wir sind lebendiger denn je, versichert Amin.
„Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King hat es ja auch nicht sofort geschafft, dass Präsident Lyndon B. Johnson ein Gesetz zur Rassengleichheit unterschrieb. Er sagte: „Ich habe einen Traum“. Haben auch wir einen Traum? Ja, und die Zeit ist reif dafür. Ich glaube, dass es Momente in der Geschichte gibt, wo das wirtschaftliche, politische und soziale System nicht mehr funktioniert. Deshalb sind wir auf die Straße gegangen. Dagegen kämpfen wir weiter.“
Bürgermeister Michael Bloomberg hat für den Haushalt 2012 bereits drastische Sparmaßnahmen verordnet, darunter: Die Entlassung von 6000 Lehrern, gekürzte Öffnungszeiten für Bibliotheken und Kulturzentren, nächtliche Schließungen von Feuerwehrkommandos. Aber selbst das kann die rückläufigen Einnahmen aus dem Finanzsektor nicht ausgleichen: Trotz Sparkurs droht eine Etatlücke von mehr als vier Milliarden Dollar. Auch die Arbeitslosigkeit liegt in New York weit über dem nationalen Durchschnitt: Bislang wurde gerade Mal die Hälfte der während der Rezession verlorenen Stellen zurück gewonnen.
Aber egal, wie es um die Jobs, Geldbeutel und öffentlichen Budgets steht – an einem Platz herrscht immer gute Laune: Harry’s, nur einen Steinwurf von der Wall Street entfernt, ist seit vier Jahrzehnten das Stammlokal der kleinen Leute und großen Börsianer. Deshalb geht auch Randall Lane gerne ins Harry’s – und sei es nur, um vergangenen Zeiten nachzuhängen. Als Chefredakteur des Magazins „Trader Monthly“, das sich an die New Yorker Finanzelite richtete, war Lane oft von schier unglaublichem Reichtum umgeben. Um die Leser bei Laune zu halten, hielt sein Team fast jede Woche ein Event an der Wall Street ab.
„Wir haben zum Beispiel diesen Boxwettkampf organisiert, wo Hedgefonds-Trader gegeneinander antraten. Jedes Mal kamen Hunderte Gäste, die je 1000 Dollar Eintritt zahlten, nur um zu sehen, wie sich ihre Kollegen die Köpfe einhauen. Und das war ein ganz normaler Donnerstagabend. Diese Jungs – 97 Prozent der Arbeitnehmer an der Wall Street sind männlich – lebten wie im Kasino. Sie hatten keine Angst, Unsummen auszugeben, weil das Geld so schnell wieder reinkam.“
Im Fernseher über dem Tresen bei Harry’s läuft Wahlkampfprogramm. Die große Mehrheit der New Yorker Geld-Jongleure hofft, dass Mitt Romney bei den Präsidentschaftswahlen im November das Rennen machen wird, denn: der Republikaner verspricht, Obamas große Finanzreform wieder rückgängig zu machen. Randall Lane schert sich nicht um die Politik. Den Job bekommt der 43-Jährige so oder so nicht mehr zurück. Sein Magazin, das in besseren Zeiten 100.000 Leser zählte, wurde im Zuge der Finanzkrise eingestellt.
„Wir waren ein kleines Unternehmen im traditionellen Sinn: Wir hatten Angestellte und ein richtiges Produkt – im Gegensatz zu den Finanzjongleuren. Ich bin selber auch auf ihre Nummer reingefallen, ich habe wirklich gedacht: Oh, vielleicht sind die Banken tatsächlich Bannerträger einer neuen Wirtschaftsordnung, vielleicht haben sie wirklich ein Modell gefunden, mit dem jeder reich werden kann, ohne groß arbeiten zu müssen. Aber so ist nun einmal die Natur von Blasen. Nächstes Mal bin ich skeptischer.“
Draußen versinkt die New Yorker Börse im Abendlicht. Die Giebelskulptur an der Fassade trägt den Namen „Integrity Protecting the Works of Man“ – „Rechtschaffenheit schützt der Menschen Werk“. Und vielleicht ist das die Lektion, die aus der schweren Finanzkrise gelernt werden kann: Dass nicht nur die Banken Schuld tragen, sondern auch all die, die gegen ihren gesunden Menschenverstand gehandelt haben – ob das nun Zwischenmänner wie Randall Lane sind, Anleger, die schnelles Geld rochen, oder Hauskäufer, die sich eigentlich keine Immobilie leisten konnten.
Die New York Stock Exchange ist die größte und wichtigste aller Börsen: Jeden Tag werden dort mehrere Milliarden Aktien gehandelt. Während andere Finanzplätze längst auf Computer umgerüstet haben, gibt es hier immer noch ein richtiges Parkett, auf dem bunt beschürzte Händler herumlaufen, um die bestmöglichen Deals für ihre Auftraggeber rauszuholen. Preis und Stückmenge werden per Handzeichen und durch Zurufe untereinander abgemacht.
Ted Weisberg wuselt seit mehr als 40 Jahren über die Bretter, die das Geld bedeuten. Der Börsenprofi dachte, alles erlebt zu haben. Doch dann: 2008. Die Pleite des Traditionsgiganten Lehman Brothers. Der Notverkauf der nicht minder prominenten Wall Street Firmen Merrill Lynch, Bear Stearns und Wachovia. Die vielen Kollegen, die über Nacht arbeitslos wurden. Der Schrecken sitzt immer noch tief.
„Ich kann gottlob wieder schlafen und die ständigen Kopfschmerzen sind auch nicht mehr da. Aber jetzt geht es darum zu sehen, wie wir unser Business wieder auf die Beine kriegen. Leider begleitet die finanzielle Nahtoderfahrung, durch die wir gegangen sind, immer noch viele Menschen. Viele meiner Kunden nach wie vor tatenlos zu und lecken ihre Wunden. Hoffentlich fassen sie wieder Vertrauen. Hoffentlich können wir uns irgendwann wieder gut fühlen mit dem, was wir machen.“
Aus den grauen Eminenzen der Wall Street sind graue Mäuse geworden: Die einst bewunderten Börsianer werden jetzt zu den Hauptverantwortlichen für das Finanzdebakel erklärt. Dieser Popularitätsverlust ist auch unter Anlegern zu spüren. Viereinhalb Jahre nach Beginn der Finanzkrise handeln die Aktien der amerikanischen Geldhäuser immer noch weit unter Buchwert. Aber es ist nicht nur der abrupte Sturz ihrer Zunft, der Ted zu schaffen macht.
Eine Verkaufsorder ist reingekommen. Ted schlängelt sich an den Stand der Spezialisten – Chefmakler, deren Aufgabe es ist, Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. Del Monte, ein Hersteller von Dosengemüse, steht aktuell bei 11 Dollar. Ted will mehr, sagt aber keinem, was er vorhat. Denn wenn die Kollegen wissen, dass er verkaufen will, dann halten sie den Preis absichtlich niedrig. Und schlecht abzuschneiden – das können sich in diesen Tagen selbst alte Hasen wie Ted nicht mehr leisten.
„Früher hatte ich mehr Spaß bei der Arbeit. Vor vier Jahren arbeiteten hier 5000 Leute. Jetzt sind davon keine 1000 mehr übrig. Das hat natürlich damit zu tun, dass der Handel zunehmend automatisiert wird. Seit der Finanzkrise wird unsere Branche zusätzlich von einer riesigen Konsolidierungswelle erfasst. Ich kann ihnen 100 Firmen nennen, die einmal große Namen hatten, und die es heute nicht mehr gibt.“
New York könnte seinen Status als Weltleitzentrum des Geldes verlieren: Die Gewinne der noch verbleibenden Wall Street Firmen sind 2011 um ein Drittel eingebrochen. Natürlich tragen die europäische Schuldenproblematik und die schwache Wirtschaftslage in den USA mit dazu bei. Aber selbst die hartnäckigsten konjunkturellen Schwächephasen haben bislang noch immer ein Ende gefunden. Viel nachhaltiger wirkt Obamas große Finanzreform, die den amerikanischen Banken deutlich strengere Regeln auferlegt: Sie müssen mehr Kapital auf die hohe Kante legen, sie dürfen nicht mehr unbegrenzt auf eigene Rechnung spekulieren. Für die Vergabe von Hypotheken gelten jetzt staatliche Richtlinien. Das alles lässt weniger Raum zum Geldverdienen.
Arbeitsfrühstück in Midtown Manhattan: Im exklusiven „Rockefeller Center Club“ treffen sich die New Yorker Bankenbosse zum Power Frühstück. Networking mit Silberbesteck – dabei sein ist alles. Auch Thomas DiNapoli speist immer hier, wenn er in der Stadt ist. Der 57 jährige mit dem dunklen Anzug und silbergrauen Haar sieht aus wie eine Mischung aus einem Geschäftsmann und dem netten Kerl von nebenan. Dieser Widerspruch bestimmt auch seinen Beruf: Als der oberste Finanzbeamte des Bundesstaates New York muss DiNapoli zugleich die Interessen der Wirtschaftsträger und die des Wahlvolkes im Auge behalten.
„Es steht außer Zweifel, dass zu viele Risiken eingegangen wurden. Sie haben viel zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten beigetragen, denen wir uns jetzt ausgesetzt sehen. Aus meiner Sicht sind Regelwerke gut, die Nachhaltigkeit, Transparenz und Verantwortungsbewusstsein fördern. Und ja, es gibt viel Frustration da draußen. Aber aus der Sicht New Yorks müssen wir den Kontext im Auge behalten. Egal wie du fühlst – liebe oder hasse die Wall Street – sie ist eine Geldmaschine für New York und New York ist auf sie angewiesen.“
Draußen vor dem Fenster ragen das Rockefeller Center in den Himmel: Erbaut in den 1930er-Jahren, als die USA von der Großen Depression, der schwersten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte, heimgesucht wurden. Im Frühstücksclub der Geldmanager herrschte damals wie heute keine Krisenstimmung. Aber der Schein trügt. Die Gehälter in der New Yorker Finanzbranche fielen letztes Jahr um bis zu 70 Prozent niedriger aus. Entlassungen gehören zur Tagesordnung. Schätzungen zufolge wird bis Ende 2012 jeder Fünfte der noch verbleibenden Banker seine Stelle verlieren. Schadenfreude sei jedoch nicht angebracht, erklärt DiNapoli.
„An jedem Finanzjob hängen in New York drei weitere Arbeitsplätze. Außerdem sind das sehr gut bezahlte Jobs, die da wegfallen. Der Durchschnittsverdienst im Finanzsektor liegt – trotz der Einschnitte – immer noch fünf Mal höher als in anderen Sektoren der Privatwirtschaft. Wenn diese Jungs keine Arbeit mehr haben, dann geben sie auch entsprechend weniger in den lokalen Geschäften aus. Eine schrumpfende Finanzbranche bedeutet zudem gigantische Steuerausfälle. Das Treiben der Börse zeichnet für 14 Prozent unserer Steuereinnahmen verantwortlich.“
Die Wall Street baut ab, New York leidet mit.
Es war eine Protestwelle, wie die USA sie seit dem Vietnamkrieg nicht mehr erlebt hatte: Unter dem Motto „Besetzt die Wall Street“ campten Aktivisten der „Occupy“-Bewegung wochenlang im Zucotti Park, der nur drei Straßenzüge von der New Yorker Börse entfernt liegt. Jeden Tag wurde demonstriert: Gegen die Banker, die Gier, den Kapitalismus.
Inzwischen ist es still geworden um die Protestler, ihr Basislager unter freiem Himmel wurde zwangsgeräumt.
Das brünette Haar adrett zu einem Knoten aufgesteckt, knielanger Flanellrock, roter Lippenstift: Megan Hayes hat rein äußerlich so gar nichts von einer Systemgegnerin. Die 23-jährige Köchin wurde im Zuge der Finanzkrise arbeitslos. Jetzt engagiert sie sich als Büroleiterin bei der Occupy-Bewegung. Die eisigen Nächte im Zucotti Park und die ständige Angst, von der Polizei vertrieben zu werden, sind ganz weit weg.
„Wir haben Schreibtische, Arbeitsnischen, einen Informationsstand, um Mitstreitern zu helfen, die mit uns im Park gecampt haben und jetzt obdachlos sind. Und natürlich haben wir wie jedes andere Büro auch – eine Kopiermaschine!“
Die Wände ihrer New Yorker Zentrale sind übersät mit Hochglanzplakaten, auf denen Amerikaner ihren persönlichen Albtraum schildern. Amin Husain, der seinen Anwaltsjob geschmissen hat, um Künstler zu werden, war während der Proteste jeden Tag 15 Stunden auf den Beinen. Jetzt hat er weniger zu tun. An diesem Abend befestigt Amin Zeitungsausschnitte auf eine riesige Pinnwand. „Was die Medien über uns schreiben” ist darauf zu lesen. Viel wird nicht mehr geschrieben. Das Phänomen Occupy sorgt kaum noch für Schlagzeilen. Aber das sei nur temporär, wir sind lebendiger denn je, versichert Amin.
„Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King hat es ja auch nicht sofort geschafft, dass Präsident Lyndon B. Johnson ein Gesetz zur Rassengleichheit unterschrieb. Er sagte: „Ich habe einen Traum“. Haben auch wir einen Traum? Ja, und die Zeit ist reif dafür. Ich glaube, dass es Momente in der Geschichte gibt, wo das wirtschaftliche, politische und soziale System nicht mehr funktioniert. Deshalb sind wir auf die Straße gegangen. Dagegen kämpfen wir weiter.“
Bürgermeister Michael Bloomberg hat für den Haushalt 2012 bereits drastische Sparmaßnahmen verordnet, darunter: Die Entlassung von 6000 Lehrern, gekürzte Öffnungszeiten für Bibliotheken und Kulturzentren, nächtliche Schließungen von Feuerwehrkommandos. Aber selbst das kann die rückläufigen Einnahmen aus dem Finanzsektor nicht ausgleichen: Trotz Sparkurs droht eine Etatlücke von mehr als vier Milliarden Dollar. Auch die Arbeitslosigkeit liegt in New York weit über dem nationalen Durchschnitt: Bislang wurde gerade Mal die Hälfte der während der Rezession verlorenen Stellen zurück gewonnen.
Aber egal, wie es um die Jobs, Geldbeutel und öffentlichen Budgets steht – an einem Platz herrscht immer gute Laune: Harry’s, nur einen Steinwurf von der Wall Street entfernt, ist seit vier Jahrzehnten das Stammlokal der kleinen Leute und großen Börsianer. Deshalb geht auch Randall Lane gerne ins Harry’s – und sei es nur, um vergangenen Zeiten nachzuhängen. Als Chefredakteur des Magazins „Trader Monthly“, das sich an die New Yorker Finanzelite richtete, war Lane oft von schier unglaublichem Reichtum umgeben. Um die Leser bei Laune zu halten, hielt sein Team fast jede Woche ein Event an der Wall Street ab.
„Wir haben zum Beispiel diesen Boxwettkampf organisiert, wo Hedgefonds-Trader gegeneinander antraten. Jedes Mal kamen Hunderte Gäste, die je 1000 Dollar Eintritt zahlten, nur um zu sehen, wie sich ihre Kollegen die Köpfe einhauen. Und das war ein ganz normaler Donnerstagabend. Diese Jungs – 97 Prozent der Arbeitnehmer an der Wall Street sind männlich – lebten wie im Kasino. Sie hatten keine Angst, Unsummen auszugeben, weil das Geld so schnell wieder reinkam.“
Im Fernseher über dem Tresen bei Harry’s läuft Wahlkampfprogramm. Die große Mehrheit der New Yorker Geld-Jongleure hofft, dass Mitt Romney bei den Präsidentschaftswahlen im November das Rennen machen wird, denn: der Republikaner verspricht, Obamas große Finanzreform wieder rückgängig zu machen. Randall Lane schert sich nicht um die Politik. Den Job bekommt der 43-Jährige so oder so nicht mehr zurück. Sein Magazin, das in besseren Zeiten 100.000 Leser zählte, wurde im Zuge der Finanzkrise eingestellt.
„Wir waren ein kleines Unternehmen im traditionellen Sinn: Wir hatten Angestellte und ein richtiges Produkt – im Gegensatz zu den Finanzjongleuren. Ich bin selber auch auf ihre Nummer reingefallen, ich habe wirklich gedacht: Oh, vielleicht sind die Banken tatsächlich Bannerträger einer neuen Wirtschaftsordnung, vielleicht haben sie wirklich ein Modell gefunden, mit dem jeder reich werden kann, ohne groß arbeiten zu müssen. Aber so ist nun einmal die Natur von Blasen. Nächstes Mal bin ich skeptischer.“
Draußen versinkt die New Yorker Börse im Abendlicht. Die Giebelskulptur an der Fassade trägt den Namen „Integrity Protecting the Works of Man“ – „Rechtschaffenheit schützt der Menschen Werk“. Und vielleicht ist das die Lektion, die aus der schweren Finanzkrise gelernt werden kann: Dass nicht nur die Banken Schuld tragen, sondern auch all die, die gegen ihren gesunden Menschenverstand gehandelt haben – ob das nun Zwischenmänner wie Randall Lane sind, Anleger, die schnelles Geld rochen, oder Hauskäufer, die sich eigentlich keine Immobilie leisten konnten.