Die Parteien vernachlässigen die Kommunalpolitik!

Von Hans-Joachim Veen |
Das Bemerkenswerteste an der Riesenwelle des Protestes gegen Stuttgart 21 war wohl, dass niemand mit ihr gerechnet hatte, dass Wucht und Ausmaß der Bürgerwut gleichsam aus dem Nichts kamen und alle überraschten.
Dabei war seit 2007 mit den Unterschriftensammlungen gegen das Projekt eigentlich erkennbar, dass sich hier, jenen Riesenwellen im Atlantik gleich, kaum sichtbar etwas aufbaute, das sich zu einer veritablen Herausforderung der repräsentativen Demokratie und ihrer Institutionenordnung auswuchs.

Wie konnte dieser gewaltige Protest quer durch alle Schichten der Bevölkerung und durch fast alle Parteien so unvermutet losbrechen? Vor allem deshalb, weil die Parteien vor Ort versagt haben, weil ihre Orts- und Kreisverbände nicht mehr als Frühwarnsysteme, als Seismografen und Brücken gesellschaftlichen Wandels funktionieren, weil keine Alarmglocken schrillten, da die lokalen Mitgliederorganisationen inzwischen weithin ausgetrocknet sind und ihre Kommunikationsfunktion verloren haben.

Hieran sind nicht nur die Orts- und Kreisparteien schuld, sondern auch eine Parteiführung, die, wie bei der CDU, Regionalkonferenzen veranstaltet, die die herkömmlichen Parteiorganisationen plebiszitär überlagern und funktional aushöhlen. Tatsächlich sind die Orts- und Kreisparteien vor allem auf die Kommunalpolitik hin organisiert. Hier werden die Kandidaten für kommunale Ämter ausgewählt, hier wird über kommunale Vorhaben gestritten, hier werden Stimmungen registriert, hier hat die Partei ihre Augen und Ohren, wenn, ja wenn dazu noch das notwendige diskursive Minimum an Mitgliedern vorhanden ist.

Bei Stuttgart 21 haben vor allem die kommunalen Parteigliederungen versagt, abgesehen von den Grünen, die reflexhaft infrastrukturelle Großprojekte ablehnen. Die übrigen haben als kommunale Seismografen versagt und damit zugleich enthüllt, wie gering der Stellenwert der Kommunalpolitik für die Parteien anscheinend geworden ist.

Mancherorts finden sich schon nicht mehr genügend Kandidaten für die Besetzung kommunaler Ämter, weil die Mitgliederorganisationen das nicht mehr hergeben. Das kommunale Parteienversagen hat einen tiefen Vertrauensverlust im Gefolge, der sich in Stuttgart in der Wut der Bürger gegen die Formaldemokraten an der Spitze Bahn brach und damit den hohen Stellenwert der Kommunalpolitik für die Bürger schlaglichtartig ins Bewusstsein hob.

Denn vor allem vor Ort erfahren die Menschen die Leistungen und Fehlleistungen der Politik, in der städtischen Infrastruktur, in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, in Schulen und Kindergärten und in den großen Verkehrsknotenpunkten, den Bahnhöfen. An der Gestaltung ihrer Städte wollen sie beteiligt werden, weniger beim Afghanistan-Einsatz oder beim europäischen Stabilitätspakt, über die sie zwar auch eine Meinung haben, die aber ihre unmittelbare Lebensumwelt meist nicht berühren.

Zivilgesellschaftliche Mitsprache kann sich dann, wie Stuttgart 21 gezeigt hat, einfach über die Parteien hinweg entfalten, wenn diese kommunikationsunfähig geworden sind. Zivilgesellschaft kann sich aber auch vorzüglich in funktionstüchtigen lokalen Mitgliederorganisationen der Parteien entwickeln, wenn die Parteien dies wollen. Zivilgesellschaft und Parteien müssen und sollten auch kein Gegensatz sein.

Gerade die großen Volksparteien sind deshalb gut beraten, ihren lokalen Mitgliederorganisationen neues Gewicht zu geben und sie zu revitalisieren, damit die Parteien nicht zu abgekoppelten Superstrukturen jenseits der gesellschaftlichen Realitäten degenerieren.


Hans-Joachim Veen, Politikwissenschaftler, geboren 1944 in Straßburg ist ein deutscher Politikwissenschaftler und seit 1994 Honorarprofessor an der Universität Trier. Er studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Geschichte an der Universität Hamburg und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort promovierte er als wissenschaftlicher Assistent von Wilhelm Hennis.

Er arbeitete viele Jahre als Forschungsdirektor in der Konrad-Adenauer-Stiftung (1983-1999) und machte sich einen Namen als Wahl- und Parteienforscher und in der wissenschaftlichen Politikberatung. Ab 2000 leitete er das Projekt „Demokratie- und Parteienentwicklung in Osteuropa“, mit dem die Konrad-Adenauer-Stiftung Parteien in jungen Demokratien fördert. Seit 2002 ist er Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Ettersberg in Weimar. Die Stiftung ist der vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen im 20. Jahrhundert und ihrer demokratischen Transformation gewidmet.

Außerdem ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) (seit 2008) und moderiert den Geschichtsverbund Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (seit 2009).
Hans-Joachim Veen
Hans-Joachim Veen© Carlos Morales-Merino
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