Die Ökonomie und ihre Heilsversprechen

Von Klaus Peter Weinert · 03.01.2006
Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant meinte einst, dass man auf rationale Weise prophetisch sein könne, indem man an der Gestaltung der Zukunft mitwirke - mitwirke schrieb Kant und nicht, dass man die Zukunft als Mensch nach seinen Vorstellungen gestalten könne.
Doch im Angesicht der ständig neuen Erfindungen im 18. und 19. Jahrhundert, die das Leben der Menschen offenbar sicherer machten und auch zu verbessern begannen, schwanden offenbar die Grenzen menschlicher Möglichkeiten: die Dampfmaschine, die Ballonfahrt der Gebrüder Montgolfier, die den Menschen die Dimension der Luft erschloss, der Eisenbahnbau, synthetische Düngemittel, die die Plage des Hungers endgültig zu besiegen schienen - all dies suggerierte die Machbarkeit der Welt.

Fasziniert von den Erkenntnissen und Methoden der Naturwissenschaften waren auch die Ökonomen. Besonders die Mathematik erschien als Mittel, wie in der Physik, ökonomische Prozesse in Modelle zu fassen, die Wirklichkeit genau zu beschreiben und dadurch die Wirtschaft lenken zu können, ja sogar zu berechnen. Die großen Wirtschaftskrisen des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts gaben allerdings ein anderes Bild der Realität. Die Wirtschaft überraschte mit dem Unvorhergesehenen.

Als Keynes seine Vorstellungen einer staatlichen Lenkung der Wirtschaft vor rund 70 Jahren vortrug, die die Kapitalausstattung der Wirtschaft verstetigen und damit auch stetiges Wachstum sichern sollte, schien endlich eine Lösung schwankender Konjunkturen gekommen zu sein. Wenn auch Keynes' Rezepte heute nicht mehr ohne weiteres funktionieren, ist der Glaube vieler Ökonomen ungebrochen, Wirtschaftprozesse nach wie vor steuern zu können. Nur verschiebt sich heute der Blick der meisten Ökonomen weg vom Staat hin zum Markt.

Seit nunmehr 30 Jahren werden die Marktkräfte geknebelt, wird der "unsichtbaren Hand" misstraut, die den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage schon bewirken würde, ließe man sie nur; so postulieren liberale Ökonomen. Diesem Heilsversprechen liegen nicht nur theoretische Erwägungen zugrunde, sondern in einer tieferen Schicht religiöse Überzeugungen.

Schon der liberale Ökonom Alexander Rüstow hat auf die Bedeutung der Religion gerade in der klassischen und liberalen Ausrichtung der Wirtschaft hingewiesen. "Die unsichtbare Hand" sei denn nichts anderes als die Hand Gottes, die Nutzen für alle stiften könne. Die Ökonomik wird so zur Schöpfung Gottes, die logisch ergründet werden kann, wie die Naturgesetze der Physik.

In der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Diskussion kommt das religiöse Motiv in dem Glauben zum Vorschein, die wahre Theorie gefunden und die richtigen Gesetze auf den Weg gebracht zu haben, die die naturbehafteten Kräfte widerspiegeln und die in der Lage sind, unsere Wirtschaftsprobleme zu lösen. Funktioniert die Theorie dennoch in der Praxis nicht, werden Schuldige gesucht: die faulen Arbeitslosen, die Sozialabzocker.

Dieses liberale Denken hat ein berühmtes Vorbild, Milton Friedman. Seine Wirtschaftstheorie forderte ein stetiges Geldmengenwachstum, um die Wirtschaft im Gleichgewicht zu halten. In der Praxis funktionierte die Theorie jedoch nicht. Friedman erkannte aber nicht seine Theorie als mangelhaft, sondern beklagte, dass man nicht nach seiner Theorie gehandelt habe; die Angeklagten waren die Zentralbanken, die Wirtschaft, kurzum: die Wirklichkeit.

Die Anmaßung mancher liberaler Ökonomen, aber auch Politiker, mit ihren Theorien und ihren Gesetzen den Stein der Weisen gefunden zu haben, erinnert an das apokalyptische Heilsversprechen, dass die Erlösung komme, wenn man nur das falsche Bewusstsein ablege. Im Versprechen dieses Heils steckt auch die Machbarkeit der Welt, die von einer liberalen Theorie gestützt wird, die zu dem geschichtsmächtigen Akteur führt, des heutigen Managers, des entschlossenen Wirtschaftspolitikers, der alles bewirkte, ließe man ihn nur.

Nur der andere Mensch steht dem geschichtsmächtigen Akteur und der Theorie im Wege, sobald er sich nicht angleicht oder ihr entspricht. Das Heilsversprechen wirtschaftlicher Blüte verwirft derart die Erforschung der tatsächlichen Naturgesetze der Wirtschaft, in der die Natur des Menschen eine entscheidende Rolle spielt, und setzt die abstrakte Theorie über die Wirklichkeit.

Diese liberale Ökonomik spiegelt so sich selbst und verwirft auch den Nutzen der "unsichtbaren Hand", entwirft ihr eigenes Bild vom Wirken der Wirtschaft, ohne die Umwelt ernst zu nehmen, indem sie alles ausschließt, was erst einmal störend für ihre Theorie ist. Simple Slogans wie "Löhne oder Steuern runter, Arbeitsplätze rauf" sind das konsequente Resultat. Diese Slogans suggerieren die Machbarkeit ökonomischer Prozesse, allerdings unter dem Zwang zu einer Theorie, die mit den Bedürfnissen vieler Bürger, und damit deren Wirklichkeit, nicht in Einklang steht.


Klaus Peter Weinert ist Wirtschafts- und Fachjournalist. Er studierte Germanistik, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Filmwissenschaften. Weinert arbeitet für Rundfunk, Fernsehen und Printmedien.