Die Odenwaldschule und die Fragen nach der Schuld

07.06.2011
Missbrauch des Missbrauchs? Der frühere Odenwaldschüler Tilman Jens will zeigen, wie durch falsche Verdächtigungen eine Treibjagd entsteht, bei der Unschuldige zu Opfern werden. Doch einem neutralen Beobachter wäre es vermutlich besser gelungen, die Geschehnisse an der Schule einzuordnen.
Schon der Untertitel des Buches "Ein Lehrstück von Opfern und Tätern" verrät, was Tilman Jens hier verfolgt: Er will den "Missbrauch des Missbrauchs" thematisieren und zeigen, wie durch falsche Verdächtigungen und lückenhafte Erinnerungen – einige Missbrauchsfälle liegen über 40 Jahre zurück – eine Treibjagd entsteht, bei der Unschuldige zu Opfern werden. All das freilich ohne die pädophilen Taten kleinreden zu wollen.

Die Gründe für den "Missbrauch des Missbrauchs" seien vielfältig, so Jens: Mangelnde Sorgfalt der Medien, die erst spät, dann aber geballt über den Skandal berichten. Einseitige Aufklärung von Seiten der unabhängigen Juristen, die nur die Opfer angehört hätten, nicht die vermeintlichen Täter. Dazu die "selbsternannten Richter", die lauthals beschuldigten, um dann leise Namen zurückzunehmen. Und das kopflose Agieren der Schule selbst: So wurde die Pädagogin Erika Risse, die beim 100-jährigen Festakt zum Schuljubiläum eine Rede halten sollte, wieder ausgeladen, weil sie dem ehemaligen Direktor der Odenwaldschule, Wolfgang Harder, bei einer Veranstaltung die Hand gegeben hatte. Harder wird vorgeworfen, von den Vorfällen gewusst zu haben - was er selbst bis heute vehement bestreitet.

Aufklärung sieht anders aus. Aufarbeitung auch. Letztendlich muss sich aber auch Tilmann Jens fragen lassen, was er mit seinem Buch beabsichtigt. Will er den Ruf seiner Schule retten? Oder sein eigenes Seelenheil? Immerhin hat ja auch er nichts gemerkt. Hilfreich, um die Begleitumstände der Taten und des Schweigens ansatzweise zu verstehen, ist seine Einordnung in den Zeitgeist. Viele der Übergriffe geschahen unter dem Deckmantel einer libertären Sexualmoral, so Jens.

Immer wieder betont Tilman Jens: Die Odenwaldschule war für die meisten ihrer Schüler ein wunderbarer Ort der Freiheit, eine Ersatzfamilie, die Lehrer waren Freunde. Er zitiert seinen Mitschüler Adrian Koerfer, der selber Opfer zweier Lehrer wurde: "Es gab nichts Besseres für mich, trotz des Missbrauchs, unter dem ich bis heute leide, weil ich seitdem keine körperliche Nähe mehr zulasse."

Missbrauch des Missbrauchs? Die Treibjagd auf Unschuldige darzustellen, gelingt Tilman Jens kaum. Wo fängt Schuld an? Ist der schuldig, der von dem jahrelangen Missbrauch nichts gewusst haben will? Auch nach rund hundert Gesprächen mit Zeugen, kann er diese Fragen nicht klären.

Und genau das ist die große Schwäche dieses Buches: Tilman Jens, der im Trägerverein der Schule sitzt, alle Beteiligten duzt, kann auf den Vorwurf des Mitwissens gegenüber einer Lehrkraft eben auch nicht mehr sagen, als dass jener ein guter Pädagoge war und im Gespräch glaubhaft seine Unschuld beteuerte. Gleichzeitig unterstellt er einem ehemaligen Schüler, als Opfer durch die Medien zu tingeln und dabei "tolldreiste Verdrehungen" von sich zu geben. Der Ton macht die Musik. Womöglich wäre es einem unbefangenen, neutralen Beobachter besser gelungen, die Geschehnisse an der Odenwaldschule einzuordnen - Tilmann Jens hätte es bleiben lassen sollen.

Besprochen von Julia Eikmann

Tilman Jens: Freiwild. Die Odenwaldschule - Ein Lehrstück von Opfern und Tätern
Gütersloher Verlagshaus
192 Seiten, 17,99 Euro