Die oberen Zehntausend Amerikas

05.10.2007
Der neue Roman des US-Autors Louis Auchincloss ist eine Art Familien-Saga, die Geschichte der Carnochans. Es ist der Aufstieg und angedeutete Abstieg einer Sippe, die aus Schottland nach New York auswanderte, dort ansässig und Teil des sogenannten Ostküsten-Adels wurde. Durch Fleiß, Schlauheit, gnadenlose Gier und eine ungemein pragmatische Heiratspolitik.
"East Side Story" heißt der neue Roman von Louis Auchincloss, dem betagten amerikanischen Anwalt und Autor, der 60 Bücher geschrieben hat, von denen bisher allerdings nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden.

Jahrzehnte war Auchincloss Partner in einer renommierten Wall-Street-Kanzlei. Die Fälle des Rechtsanwalts waren wohl auch eine Fundgrube für den Literaten, der mit wachem Blick die eigene Umgebung reflektiert und durchschaut und die Machenschaften und Mickrigkeiten der sogenannten besten Familien mit scharfzüngigem Einfühlungsvermögen und einem wunderbar glaskalten Verstand aufdeckt.

Der neue Roman ist eine Art Familien-Saga, die Geschichte der Carnochans in einer Zeitspanne vom Unabhängigkeitskrieg bis zum Vietnamkrieg. Dargestellt in zwölf Porträts von Familienmitgliedern. Es ist der Aufstieg und angedeutete Abstieg einer Sippe, die Anfang des 19.Jahrhunderts aus Schottland nach New York auswanderte und dort ansässig wurde. Sich ausweitet zu einem Clan, Teil jener Oberschicht wird, die sich in jener Zeit etabliert.

Der sogenannte Ostküsten-Adel. Der sich Schlösser nach europäischem Vorbild baut, feine Gesellschaft spielt und Geld und Macht anhäuft. Durch Fleiß, Schlauheit, gnadenlose Gier und eine ungemein pragmatische Heiratspolitik. Ein englischer Kritiker hat die von Auchincloss sezierten Verhaltensweisen einmal "die barbarische Fröhlichkeit der Reichen" genannt.

Man schluckt vergnügt die Schwachen - und verbirgt eisern die eigenen Schwächen. Denn wer die zeigt, ist geliefert. Wird ausgebootet. Man ist nicht seines Bruder Hüter - wo käme man da hin? Gewiss nicht nach oben.

Die Frauen sind meist Gattinnen. Und oft stärker und klüger als die Männer an ihrer Seite. Die fast immer Anwälte sind oder Investmentbanker, auf denselben Schulen waren, denselben Universitäten - man bleibt unter sich. Hin und wieder kommen neue Familien hinzu. Wenn neues Geld mit einem alten Namen zu adeln oder wenn ein alter Name mit neuem Geld aufzupolieren ist. Man heiratet, wie gesagt, mit Kalkül.

Nur eine todkranke junge Frau erkennt aufgrund ihrer Lebens-Ferne die geistige und emotionale Engstirnigkeit der Carnochans. Die vielleicht auch Auchincloss heissen könnten.

Denn der Autor decouvriert die Schicht, aus der er kommt. Ohne sie allerdings zu denunzieren. Lebt er doch selber nicht unbehaglich in ihr - mit einer Tür ins Freie allerdings, die er sich durch das Schreiben schuf. Viele seiner Figuren hocken dagegen ziemlich resigniert und seelenkarg hinter den pseudo- neogotischen Fassaden ihrer Häuser und haben Angst vor dem Leben und Angst vor dem sozialen Abstieg.

Den eine Frau erlebt. Sie ist unverheiratet geblieben, Krankenschwester geworden und empfindet ihre Armut als besonders bitter, weil alle Verwandten in Glanz und Pracht gebettet leben.

Die sich erst als sie ältlich werden und kränkelnd voller Zuneigung der inzwischen pensionierten Pflegerin-Cousine erinnern und sie großzügig auf Kreuzfahrten oder in ihre Sommerresidenzen einladen. Sie können angesichts ihrer Altergebrechen eine kostenlose Betreuerin bestens gebrauchen. Heuchelei ist einer der Pfeiler, auf denen diese Gesellschaft ruht.

Auchincloss‘ Sprache ist so unromantisch wie sein Sujet. Gefühle oder gar Sehnsüchte spielen in dieser Gesellschaft keine Rolle. Man zeigt sie nicht, schlimm genug, wenn man sie hat. Auchincloss schreibt präzise, klug und mit einem erstaunlich seismographischen Gefühl für dunkle Zweifel und Unruhen, die es so reichlich wie heimlich gibt hinter dem glitzernden Schimmer des Geldes.


Rezensiert von Gabriele v. Arnim


Louis Auchincloss: East Side Story
Übersetzt von Karl A. Klewer.
DuMont Verlag, Köln 2007, 288 Seiten, 19,90 Euro