Die Nuklearindustrie und ihre Lügen

Abgesehen von den Geheimdiensten gibt es keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, der sich so systematisch und bewusst demokratischer Kontrolle zu entziehen versuchen: Bis heute betrügt und belügt die Nuklearindustrie die Öffentlichkeit, ist sie ein Staat im Staate, insbesondere bei den Atombombenmächten.
Stephanie Cookes ausführliche und umfassende Geschichte des Nuklearzeitalters ist einer jener Berichte, die man mit fassungslosem Kopfschütteln und wachsendem Zorn liest, weil man kaum glauben mag, was da alles zu Tage kommt. Dabei ist das nur ein Teil der Wahrheit, denn vieles unterliegt weiterhin der Geheimhaltung.

Der Autorin kam zugute, dass sie in diesem Bereich seit Langem arbeitet, zahlreiche Akteure kennt, mit vielen Wissenschaftlern hat reden können, Tausende Seiten Protokolle gelesen hat. So ist sie eine glaubwürdige Expertin. Und das ist angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sie aufdeckt, nicht ohne Bedeutung.

Die Autorin beginnt ihr Buch mit dem "Sündenfall" der Menschheit, dem Bau und Abwurf der ersten beiden Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima. Mag die Konstruktion der Massenvernichtungswaffen angesichts der Furcht, Hitlers Wissenschaftler könnten sie als erste entwickeln, noch moralisch gerechtfertigt erscheinen, so war der weitere Weg bis zur Schaffung riesiger Atomwaffenarsenale nichts als pure Machtpolitik.

Das änderte sich auch nicht, als die zivile Nutzung hinzukam, denn die hatte anfangs vor allem die Aufgabe, waffenfähiges Plutonium zu liefern. Die Bereitstellung von Energie stand an zweiter Stelle. Der militärisch-industrielle Komplex, der damals entstand, führt zumindest in den Staaten mit Atombomben bis heute ein Eigenleben, das sich immer wieder parlamentarischer Kontrolle zu entziehen sucht.

Wie die Autorin an zahlreichen Beispielen zeigt, wurde dabei bewusst und vorsätzlich gelogen. Akten wurden manipuliert, Berichte gefälscht, Risiken bagatellisiert, Unfälle verheimlicht, Strahlenschäden geleugnet. Daran änderte sich auch nach den Katastrophen von Three Miles Island und Tschernobyl wenig. Die Sicherheit der Reaktoren, für die sich Experten immer wieder verbürgen, existiert nur auf dem Papier. Die Belastung der Umwelt durch nukleare Abfälle ist bereits heute extrem hoch. Ganze Landstriche sind kontaminiert.

Erschreckend ist nachzulesen, wie entgegen allen offiziellen Verlautbarungen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen die Amerikaner Indien und Pakistan zur Bombe verhalfen und zwar aus kurzsichtigen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Nicht nur in diesen Fällen zeigte sich, dass die Internationale Atomenergiebehörde ein zahnloser Tiger ist: ohne jegliche Sanktionsgewalt.

Auch wenn sich Stephanie Cooke vor allem mit der Atompolitik der vier Atommächte USA, Großbritannien, Frankreich und Russland auseinandergesetzt hat, auch wenn Deutschland nur am Rande erwähnt wird, so gelten doch die meisten ihrer Erkenntnisse auch hierzulande. Ein Buch, das die Befürworter der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zum Nachdenken bringen sollte.

Besprochen von Johannes Kaiser

Stephanie Cooke: Atom. Die Geschichte des nuklearen Zeitalters
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2010
592 Seiten, 24,95 Euro
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