"Die NS-Belastung war zweifellos sehr hoch"

Moderation: Frank Meyer · 10.06.2013
Im Bundesjustizministerium waren in den 50er- und vor allem 60er-Jahren NS-Juristen Abteilungs- und Referatsleiter, das erklärt der Historiker Manfred Görtemaker. Daher sei wohl nach 1949 kein einziger Richter für das, was er im Dritten Reich getan habe, je verurteilt worden.
Frank Meyer: Die zivilen Strafgerichte in Deutschland haben von 1933 bis 45 16.000 Todesurteile verhängt. Die meisten der Verurteilten wurden auch hingerichtet. Die furchtbaren Juristen im NS-Staat und ihre Karrieren in der Bundesrepublik, die sind schon öfter zum Thema geworden. Aber erst jetzt wird ein ganz wesentlicher Teil dieser Geschichte erforscht, die NS-Juristen im Bundesjustizministerium. Die zuständige Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat im vergangenen Jahr eine unabhängige wissenschaftliche Kommission berufen, die dieses Thema untersuchen soll.

Heute Mittag hat diese Kommission in Berlin ein Buch mit einem ersten Zwischenbericht vorgestellt. Einer der beiden Leiter dieser Kommission ist der Historiker Manfred Görtemaker, Professor an der Universität Potsdam. Und der ist jetzt für uns im Studio, seien Sie willkommen, Herr Görtemaker!

Manfred Görtemaker: Guten Tag!

Meyer: Sie schreiben in der Einleitung zu Ihrem Buch, dass im Jahr 1960 alle Abteilungsleiter im Bundesjustizministerium eine nationalsozialistische Vergangenheit hatten. Kann man das verallgemeinern und sagen, in diesem Ministerium haben in der Nachkriegszeit vor allem NS-Juristen gearbeitet?

Görtemaker: Das würde ich so nicht sagen, aber die NS-Belastung war zweifellos sehr hoch. Wir haben einen Überblick bisher über die Abteilungsleiter und über die Referatsleiter. Wie weit es dann auch tatsächlich nach unten reichte, wissen wir noch nicht. Dazu müssen wir uns natürlich die Personalakten des gesamten Personalbestandes im Ministerium genauer ansehen und da sind wir gerade dabei. Aber dass die NS-Belastung sehr hoch war, das ist vollkommen klar.

Meyer: Es ist schon öfter aufgefallen, dass in der Bundesrepublik sich kaum ein Richter oder Staatsanwalt verantworten musste für seine Unrechtsurteile im NS-Staat. Sehen Sie da einen Zusammenhang mit den vielen NS-Juristen, die im Bundesjustizministerium gearbeitet haben?

Görtemaker: Es ist nicht nur das Ministerium. Wir müssen einfach sehen, dass natürlich im Nürnberger Juristenprozess schon Richter und Staatsanwälte angeklagt waren, aber es ist tatsächlich richtig, dass nach 1949, also in der Bundesrepublik, kein einziger Richter und kein einziger Staatsanwalt für das, was sie im Dritten Reich getan haben, je verurteilt worden sind.

Und das ist natürlich eine Methode, die doch erstaunlich anmutet, um nicht zu sagen ungeheuerlich. Denn natürlich waren viele Richter und Staatsanwälte am Justizunrecht im Dritten Reich beteiligt. Was wir bisher auch noch nicht sagen können, ist, ob das eben tatsächlich vom BMJ, also vom Bundesministerium der Justiz gesteuert war. Das sehen wir eigentlich eher nicht so, aber es gibt hier tatsächlich so etwas wie eine gemeinsame Grundhaltung im Ministerium und auch bei den Obersten Gerichten, auch beim Bundesgerichtshof, die tatsächlich dazu geführt hat, dass sozusagen Kollegen aus dem eigenen Justizbereich eben nicht angeklagt wurden beziehungsweise nicht verurteilt wurden.

Meyer: Wo haben Sie denn an anderer Stelle Erkenntnisse darüber, dass Einstellungen, die aus dieser Vorgeschichte in der NS-Zeit herrühren, tatsächlich das Handeln von Juristen im Bundesjustizministerium geprägt haben?

Görtemaker: Also, zunächst ist mal erstaunlich, dass diese Personen, die belastet waren, tatsächlich eingestellt wurden. Weder der erste Bundesjustizminister, noch sein Staatssekretär Strauß, der die meisten dieser Einstellungen nach persönlichen Gesprächen vorgenommen hat, waren ja in irgendeiner Weise belastet. Es ist tatsächlich so, dass Strauß eben Jude war und das Dritte Reich nur mit Mühe überlebt hat. Aber es ist eben offensichtlich so gewesen, dass tatsächlich die Kompetenz, die gefordert war, um in das Ministerium eintreten zu können, natürlich nicht unbegrenzt vorhanden war, sodass dann eben auch viele Personen hineinkamen, die dort eigentlich nichts zu suchen gehabt hätten.

Und was wir uns natürlich gefragt haben, ist, ob man nicht zum Beispiel mehr der Immigranten hätte bedienen sollen. Das ist aber nicht geschehen, sondern was wir sehen, ist, dass ganz am Anfang belastete Persönlichkeiten, auch wenn sie durch das Entnazifizierungsverfahren einigermaßen gut durchgekommen waren, tatsächlich eingestellt wurden, und dann wurden natürlich sehr viele Personen etwa so mit dem Schneeballeffekt nachgezogen, die dann tatsächlich dazu geführt haben, dass das Ministerium in den 50er- und vor allem 60er-Jahren zunehmend eine NS-Belastung aufweist.

Das heißt, die Belastung nimmt nicht ab, sondern sie nimmt zu in den 60er-Jahren. Und das ist ein erstaunliches Phänomen und wir müssen da untersuchen, welchen Einfluss das dann eben etwa bei den Amnestien hatte oder eben auch bei der Gesetzgebung allgemein. Und hier stellen wir natürlich fest, dass es beispielsweise im Familienrecht eben Kontinuitäten gab, die niemals hätten passieren dürfen und die dann zu einer sehr, ich will es mal so formulieren, konservativen Grundanschauung im Bereich der Gesetzgebung geführt haben.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, heute wurde das Buch "Die Rosenburg" vorgestellt, ein Buch über die Beschäftigung von NS-Juristen im Bundesjustizministerium. Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker ist einer der beiden Leiter dieser Kommission, die das Buch zusammengestellt hat. Die Rosenburg, Herr Görtemaker, war ja bis 1973 der Dienstsitz des Bundesjustizministeriums. Würden Sie sagen, es gab do so etwas wie einen Korpsgeist in der Rosenburg, der den kritischen Umgang mit der NS-Zeit behindert hat?

Görtemaker: Also, der Geist der Rosenburg wird ja auch von Mitarbeitern selbst immer beschworen. Es gibt, vom Personalrat des BMJ herausgegeben, ein kleines Büchlein mit diesem Titel und es ist tatsächlich so, dass die nostalgische Verklärung dieser Frühzeit der Rosenburg doch ganz erstaunliche Formen angenommen hat.

Und wir bemühen uns jetzt, diese Legenden, die da gestrickt worden sind, ein bisschen zu zerstören. Ganz ohne Zweifel, das Ministerium war ja ein sehr kleines Ministerium, ein sehr kleines Haus, die kannten sich alle untereinander. Und selbstverständlich hat man sich ständig getroffen, man ging miteinander ums Haus in der Mittagspause und jeder wusste alles von jedem. Und hier zu sagen, da hätte man nichts gewusst, das ist nicht glaubwürdig. Also, die haben voneinander gewusst und die haben sich natürlich auch gegenseitig gestützt und gefördert.

Meyer: Wie ist das heute mit dem Korpsgeist? Bekommen Sie denn Zugang zu allen Materialien, die Sie brauchen, im Justizministerium?

Görtemaker: Also, es hat natürlich auch in diesem Ministerium einen Generationswechsel gegeben, und zwar schon in den 1970er- und 1980er-Jahren. Und die Aufarbeitung der Geschichte dieses Hauses beginnt demzufolge auch tatsächlich unter Justizminister Hans Engelhard in den 80er-Jahren, da werden erste Studien gefördert, die schon ein wenig Einblick geben in das, was tatsächlich auch personell in diesem Hause passiert war, die auch sich mit dem Bereich der Justiz im Dritten Reich beschäftigen.

Also, das beginnt in den 1980er-Jahren, das setzt sich in den 90er-Jahren mit etwas geringerer Intensität fort, das hatte mit der Wiedervereinigung zu tun, die andere Akzente gesetzt hat. Aber unser Projekt ist gewissermaßen die logische Fortführung dessen, was in den 80er-Jahren begann. Und wir können wirklich sagen, dass wir keinerlei Hindernisse in den Weg gestellt bekommen haben.

Wir haben tatsächlich Einblick in alle Personalakten, wir bekommen die größtmögliche Unterstützung aus dem Haus, auch insbesondere von mehreren Mitarbeitern, die dort speziell dann eben auch für dieses Thema Interesse aufbringen. Und insofern ist die Zusammenarbeit eigentlich sehr gut. Was aber auch wichtig ist, es wird nicht inhaltlich Einfluss genommen auf unsere Arbeit. Sonst würde ich diese Arbeit auch nicht machen.

Meyer: Üblicherweise, wenn eine solche Kommission wie Ihre berufen wird, dann forscht die Kommission, stellt die Ergebnisse zusammen und veröffentlicht sie dann. Sie gehen jetzt einen anderen Weg, Sie haben ja gerade im letzten Jahr erst begonnen und legen jetzt eine Art ersten oder Zwischenbericht vor. Warum haben Sie sich zu diesem Schritt entschlossen?

Görtemaker: Wir haben natürlich die Erfahrungen aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes, wo das Buch eben nach mehrjähriger Forschungstätigkeit vorgelegt worden ist. Und dann wurde anschließend sozusagen mehr über die Kommission diskutiert als über das Auswärtige Amt.

Wir waren der Auffassung, dass es wichtig ist, tatsächlich die Öffentlichkeit von vornherein in diesen Aufarbeitungsprozess einzubeziehen und gewissermaßen in der Form eines öffentlichen Diskurses diese Diskussion sehr intensiv zu betreiben. Wir haben deswegen am Beginn unserer Arbeit nicht gesagt, wir ziehen uns jetzt zurück in den Elfenbeinturm, sondern wir veranstalten eine Konferenz, bringen die führenden Rechtshistoriker der Bundesrepublik zusammen und schauen, was bisher dort gemacht worden ist.

Wir haben also eine Bestandsaufnahme vorgelegt und daraus dann ein Forschungskonzept entwickelt, das wir jetzt in den nächsten zwei, zweieinhalb Jahren fortführen werden, und dann wird im Jahr 2015 die Abschlusspublikation vorgelegt werden.

Meyer: Sie erforschen jetzt die Geschichte des Bundesjustizministeriums in der Nachkriegszeit, Sie haben es gerade angesprochen, für das Außenministerium liegt diese Forschungsarbeit schon vor, aber für viele andere Bundesinstitutionen und Ministerien nicht. Wo sehen Sie da wichtige weiße Flecken, welches Ministerium müsste da endlich rangehen?

Görtemaker: Also, es gibt ja bisher acht Bundesministerien oder Bundeseinrichtungen, die näher untersucht worden sind oder näher untersucht werden. Wir haben diese verschiedenen Kommissionen auch im Mai in der Europäischen Akademie in Berlin zu einem gemeinsamen Gespräch zusammengeführt, aber wir haben natürlich, ganz klar, weiße Flecken in verschiedenen Bereichen.

Das Innenministerium zum Beispiel ist ein wichtiges Ministerium, das sicherlich auch noch näher untersucht werden müsste, vielleicht das wichtigste überhaupt. Wir hoffen natürlich, dass von uns gewissermaßen so eine Ansteckung ausgeht und dass wir nicht nur als BMJ, sondern als Teil dieser acht Kommissionen dann eben dazu beitragen werden, dass auch andere, die noch fehlen, dazukommen werden.

Auf jeden Fall ist es wichtig, dass dieser Prozess der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Ministerien in Gang gekommen ist, und wir hoffen, dass wir dann ein differenziertes Bild gewinnen werden am Ende, bei dem wir sehr viel genauer wissen, warum es so und nicht anders gewesen ist.

Meyer: Welchen Einfluss hatten NS-Juristen im Bundesjustizministerium, das untersucht eine unabhängige wissenschaftliche Kommission jetzt. Heute wurde ein erstes Buch zu diesem Thema vorgelegt von der Kommission, als Zwischenbericht, "Die Rosenburg" heißt dieses Buch.

Herr Görtemaker, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Görtemaker: Bitte schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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