Die Nonne aus Deutschland
In ihrer Nachbarschaft leben bis zu 20 Menschen auf 50 Quadratmetern. Karoline Mayer wohnt in einem Armenviertel in Santiago de Chile. Seit 40 Jahren kämpft die Nonne aus Deutschland dafür, dass die Menschen dort mit Lebensmitteln, Medizin und Bildung versorgt werden.
Ein Donnerstag in Recoleta, einem Viertel im Norden von Santiago de Chile: In einem der gelb, rot und blau angestrichenen Gebäude des Kindergartens "Naciente" spielen Zwei- bis Fünfjährige. "Naciente" ist Spanisch und bedeutet Geburt. Wer in Recoleta geboren wird, wächst in Armut auf. Aurelia Arredondo ist die Leiterin des Kindergartens:
"Im Kindergarten nehmen wir die Ärmsten der Armen aus Recoleta auf. Viel Gewalt gibt es im Viertel, viele Drogen und Alkohol. In vielen Familien gibt es nur eine Person, die arbeitet: die Mama. Deshalb braucht sie den Kindergarten "Naciente" und die Kinderkrippe "Sala Cuna"."
Beide Einrichtungen wurden in den 70er-Jahren von Karoline Mayer gegründet, einer Nonne aus Bayern. Schon als Kind träumte sie davon, das heimatliche Eichstätt zu verlassen, um den Armen der Welt die Liebe Gottes nahezubringen. Die junge Karoline wollte nach China, doch ihr Orden, die Steyler Missionsschwestern, schickten sie nach Südamerika.
"Musste mich damit abfinden. Gehörte ja schon zu einem Orden, hatte ein Armuts- und Gehorsamsgelübde abgelegt. Gehorsam sein bedeutete, das zu akzeptieren, was geordert wurde. Das bedeutete dann eben, 1968 den Weg nach Chile zu nehmen."
Schwester Karoline oder Hermana Karoline, wie sie hier alle nennen, ist eine zierliche Frau mit weißem Haar und lebhaften blauen Augen. Doch wenn sie ihre kräftige Stimme erhebt, ahnt man, welche Kraft in ihr steckt. Schon bald nach ihrer Ankunft in Santiago ging die gelernte Krankenschwester in die Armenviertel, um mit den Frauen die Versorgung mit Lebensmitteln und die Betreuung der Kinder zu organisieren und um Kranke zu heilen.
"Also es war der ganze Sinn meines Lebens, unter den Menschen dort zu sein. Und deswegen hab ich dann im Jahr 71 den Orden gebeten, dass sie mir die Erlaubnis geben, dort hinzuziehen, in einer kleinen Holzhütte unter den Menschen dort zu leben, um ihnen so das nahe zu bringen, was eigentlich unser Glaube verkündet, dass Gott Mensch geworden ist unter den Armen. Wie soll ich dieses Geheimnis den Menschen verkünden, wenn sie gar keinen Zugang dazu haben, denn die Kirche war für sie damals eine mächtige Institution, die auch sie beherrschte, mit der sie dann auch nicht viel zu tun haben wollten."
Die chilenische Gesellschaft ist von sozialen Hierarchien geprägt. Die Steyler Missionsschwestern sahen ihre Aufgabe zu Beginn der 70er-Jahre darin, die Oberschicht zu missionieren. Karoline fühlte sich aber eher zu den Bewohnern der Elendsviertel hingezogen. Diese sympathisierten mit Salvador Allende. Der linke Präsident ließ ausländische Konzerne enteignen und den armen Bauern das Land geben, das zuvor den Reichsten unter den chilenischen Großgrundbesitzern gehört hatte. Dass Karoline sich für die Armen einsetzte und auch noch mitten unter ihnen leben wollte, stieß bei ihrem Orden auf Unverständnis. Erst recht, als sie wegen ihres Engagements manche Versammlung der Schwestern versäumte.
Nach vielen Diskussionen verließ Karoline schließlich den Orden.
Auch die Bewohner der Elendsviertel betrachteten die Nonne und ihre Helferinnen anfangs mit Misstrauen: Was wollen die Fremden? Doch sie erkämpfte sich Respekt, insbesondere, als sie nach dem Militärputsch von 1973 im Land blieb, um den Armen beizustehen. Unter der Repression und der neoliberalen Wirtschaftspolitik hatten diese besonders zu leiden. Wenn Schwester Karoline heute durch Recoleta geht, öffnen sich überall Türen, wird sie begrüßt und hineingebeten. Die Leute wissen:
"Wir kommen nicht, um zu herrschen, um irgendetwas für uns aufzubauen, sondern um Dinge zu tun, wo sie selbst teilnehmen können, bei denen sie selbst ihr Leben in die Hand nehmen und auf ihre eigenen Füße kommen."
Seitdem sie den Orden verlassen hat, hat Schwester Karoline mehrere christliche Institutionen gegründet, um den Bewohnern der Elendsviertel zu helfen. 1990, nach dem Ende der Militärdiktatur, entstand ihr wohl wichtigstes Projekt, die ökumenische Stiftung Cristo vive, Christus lebt. Zu ihr gehören heute mehrere Kindertagesstätten und Berufsbildungszentren, Polikliniken, ein Tageszentrum für Drogenkranke und – eine Seltenheit in Chile – eine Werkstatt für Behinderte. Überall werden Menschen aus der Unterschicht kostenlos betreut. Aurelia Arredondo, die Leiterin des Kindergartens "Naciente", berichtet:
"Es ist wichtig, dass es eine kirchliche Einrichtung ist, denn die Art zu arbeiten, unterscheidet sich von der anderer Einrichtungen. Das Verhältnis untereinander und zu den Kindern, das Verhältnis zu den Menschen in Recoleta ist anders."
Mittagspause im Berufsbildungszentrum, das ein paar Blocks vom Kindergarten entfernt ebenfalls in Recoleta steht. Auszubildende haben sich versammelt, um den Nationaltanz zu üben, die Cueca. Mann und Frau halten je ein Taschentuch und tänzeln umeinander herum.
Die Tänzerinnen und Tänzer nehmen zufrieden den Applaus entgegen. Sie lernen in der Schreinerwerkstatt. Seit 1992 wurden unter dem Dach der Stiftung Cristo vive rund 11.000 junge Menschen ausgebildet – im Handwerk oder zu Krankenpflegern und Servicekräften in der Gastronomie. Das staatliche Bildungssystem, das während der Diktatur zusammengekürzt wurde, hatte ihnen kaum eine Chance gewährt. Viele brachen die Schule ab, lebten auf der Straße. Das Berufsbildungszentrum nahm sie trotzdem auf. Und ebnet ihnen den Weg in die Zukunft. Eine Berufsausbildung wie in Deutschland gibt es in Chile bislang nicht. Schwester Karoline:
"Das ist in Chile immer noch ein Handicap, dass alles, was handwerkliche Arbeit ist oder körperliche Arbeit, schlecht angesehen wird oder ganz minderwertig gewertet. Beruf in Chile, profesión, ist eigentlich nur für Akademiker."
Schwester Karoline ringt darum, dass das Erziehungsministerium Berufsabschlüsse grundsätzlich zertifiziert und Geld für die Ausbildung zahlt. Ihre Kontakte in der Politik helfen ihr dabei:
"Zum Beispiel mit diesem Präsidentschaftskandidaten reden wir darüber: In privaten Gefängnissen, die es inzwischen in Chile gibt, kostet praktisch 900 Euro im Monat ein Gefangener. Und was wir bitten, ein Jahr Ausbildung, ist nicht mehr als 2000 Euro im Jahr für einen jungen Menschen, der damit eine ordentliche Berufsausbildung erhält."
"Im Kindergarten nehmen wir die Ärmsten der Armen aus Recoleta auf. Viel Gewalt gibt es im Viertel, viele Drogen und Alkohol. In vielen Familien gibt es nur eine Person, die arbeitet: die Mama. Deshalb braucht sie den Kindergarten "Naciente" und die Kinderkrippe "Sala Cuna"."
Beide Einrichtungen wurden in den 70er-Jahren von Karoline Mayer gegründet, einer Nonne aus Bayern. Schon als Kind träumte sie davon, das heimatliche Eichstätt zu verlassen, um den Armen der Welt die Liebe Gottes nahezubringen. Die junge Karoline wollte nach China, doch ihr Orden, die Steyler Missionsschwestern, schickten sie nach Südamerika.
"Musste mich damit abfinden. Gehörte ja schon zu einem Orden, hatte ein Armuts- und Gehorsamsgelübde abgelegt. Gehorsam sein bedeutete, das zu akzeptieren, was geordert wurde. Das bedeutete dann eben, 1968 den Weg nach Chile zu nehmen."
Schwester Karoline oder Hermana Karoline, wie sie hier alle nennen, ist eine zierliche Frau mit weißem Haar und lebhaften blauen Augen. Doch wenn sie ihre kräftige Stimme erhebt, ahnt man, welche Kraft in ihr steckt. Schon bald nach ihrer Ankunft in Santiago ging die gelernte Krankenschwester in die Armenviertel, um mit den Frauen die Versorgung mit Lebensmitteln und die Betreuung der Kinder zu organisieren und um Kranke zu heilen.
"Also es war der ganze Sinn meines Lebens, unter den Menschen dort zu sein. Und deswegen hab ich dann im Jahr 71 den Orden gebeten, dass sie mir die Erlaubnis geben, dort hinzuziehen, in einer kleinen Holzhütte unter den Menschen dort zu leben, um ihnen so das nahe zu bringen, was eigentlich unser Glaube verkündet, dass Gott Mensch geworden ist unter den Armen. Wie soll ich dieses Geheimnis den Menschen verkünden, wenn sie gar keinen Zugang dazu haben, denn die Kirche war für sie damals eine mächtige Institution, die auch sie beherrschte, mit der sie dann auch nicht viel zu tun haben wollten."
Die chilenische Gesellschaft ist von sozialen Hierarchien geprägt. Die Steyler Missionsschwestern sahen ihre Aufgabe zu Beginn der 70er-Jahre darin, die Oberschicht zu missionieren. Karoline fühlte sich aber eher zu den Bewohnern der Elendsviertel hingezogen. Diese sympathisierten mit Salvador Allende. Der linke Präsident ließ ausländische Konzerne enteignen und den armen Bauern das Land geben, das zuvor den Reichsten unter den chilenischen Großgrundbesitzern gehört hatte. Dass Karoline sich für die Armen einsetzte und auch noch mitten unter ihnen leben wollte, stieß bei ihrem Orden auf Unverständnis. Erst recht, als sie wegen ihres Engagements manche Versammlung der Schwestern versäumte.
Nach vielen Diskussionen verließ Karoline schließlich den Orden.
Auch die Bewohner der Elendsviertel betrachteten die Nonne und ihre Helferinnen anfangs mit Misstrauen: Was wollen die Fremden? Doch sie erkämpfte sich Respekt, insbesondere, als sie nach dem Militärputsch von 1973 im Land blieb, um den Armen beizustehen. Unter der Repression und der neoliberalen Wirtschaftspolitik hatten diese besonders zu leiden. Wenn Schwester Karoline heute durch Recoleta geht, öffnen sich überall Türen, wird sie begrüßt und hineingebeten. Die Leute wissen:
"Wir kommen nicht, um zu herrschen, um irgendetwas für uns aufzubauen, sondern um Dinge zu tun, wo sie selbst teilnehmen können, bei denen sie selbst ihr Leben in die Hand nehmen und auf ihre eigenen Füße kommen."
Seitdem sie den Orden verlassen hat, hat Schwester Karoline mehrere christliche Institutionen gegründet, um den Bewohnern der Elendsviertel zu helfen. 1990, nach dem Ende der Militärdiktatur, entstand ihr wohl wichtigstes Projekt, die ökumenische Stiftung Cristo vive, Christus lebt. Zu ihr gehören heute mehrere Kindertagesstätten und Berufsbildungszentren, Polikliniken, ein Tageszentrum für Drogenkranke und – eine Seltenheit in Chile – eine Werkstatt für Behinderte. Überall werden Menschen aus der Unterschicht kostenlos betreut. Aurelia Arredondo, die Leiterin des Kindergartens "Naciente", berichtet:
"Es ist wichtig, dass es eine kirchliche Einrichtung ist, denn die Art zu arbeiten, unterscheidet sich von der anderer Einrichtungen. Das Verhältnis untereinander und zu den Kindern, das Verhältnis zu den Menschen in Recoleta ist anders."
Mittagspause im Berufsbildungszentrum, das ein paar Blocks vom Kindergarten entfernt ebenfalls in Recoleta steht. Auszubildende haben sich versammelt, um den Nationaltanz zu üben, die Cueca. Mann und Frau halten je ein Taschentuch und tänzeln umeinander herum.
Die Tänzerinnen und Tänzer nehmen zufrieden den Applaus entgegen. Sie lernen in der Schreinerwerkstatt. Seit 1992 wurden unter dem Dach der Stiftung Cristo vive rund 11.000 junge Menschen ausgebildet – im Handwerk oder zu Krankenpflegern und Servicekräften in der Gastronomie. Das staatliche Bildungssystem, das während der Diktatur zusammengekürzt wurde, hatte ihnen kaum eine Chance gewährt. Viele brachen die Schule ab, lebten auf der Straße. Das Berufsbildungszentrum nahm sie trotzdem auf. Und ebnet ihnen den Weg in die Zukunft. Eine Berufsausbildung wie in Deutschland gibt es in Chile bislang nicht. Schwester Karoline:
"Das ist in Chile immer noch ein Handicap, dass alles, was handwerkliche Arbeit ist oder körperliche Arbeit, schlecht angesehen wird oder ganz minderwertig gewertet. Beruf in Chile, profesión, ist eigentlich nur für Akademiker."
Schwester Karoline ringt darum, dass das Erziehungsministerium Berufsabschlüsse grundsätzlich zertifiziert und Geld für die Ausbildung zahlt. Ihre Kontakte in der Politik helfen ihr dabei:
"Zum Beispiel mit diesem Präsidentschaftskandidaten reden wir darüber: In privaten Gefängnissen, die es inzwischen in Chile gibt, kostet praktisch 900 Euro im Monat ein Gefangener. Und was wir bitten, ein Jahr Ausbildung, ist nicht mehr als 2000 Euro im Jahr für einen jungen Menschen, der damit eine ordentliche Berufsausbildung erhält."