"Die Niedlichkeit und der Schweinkram"

Moderation: Katrin Heise · 28.11.2011
Er gestaltet Kinderbücher - und zugleich pornografische Satiren: Der Karikaturist und Autor Tomi Ungerer besticht durch seine Vielseitigkeit, heute wird er 80 Jahre alt. Der Zeichner F. W. Bernstein gratuliert.
Katrin Heise: Einen Pendler zwischen der heilen und der geilen Welt, so nannte er sich selber einmal. Auf der einen Seite illustriert Tomi Ungerer Kinderbücher, auf der anderen Seite zeichnet er erotische Fantasien für Erwachsene. Aber heil ist seine Kinderwelt auch nicht gerade. Tomi Ungerer hat Ideen für noch mindestens 20 Bücher, hat er gesagt. Heute wird der Zeichner und Autor 80 Jahre alt und bei seiner lebenslangen Produktivität und Vielseitigkeit wäre es jetzt ziemlich schwierig, eine Rangfolge seiner Werke aufzustellen. Festlegen wollte er sich und will er sich nicht, auch nicht, was das Altsein betrifft, wie er in einer Sendung von "Titel Thesen Temperamente" zu hören war.

Tomi Ungerer: Für mich spielt eigentlich Alter keine Rolle, ich bin sowieso mein eigenes ewiges Kind. Aber ich würde sagen, wenn man müde ist, dann ist man schon alt. Aber bei der Arbeit, solange man strebt, solange ich strebe mindestens, da kenne ich kein Alter. Und hier oben im Kopf werde ich fast jünger und jünger. Für mich wäre es langweilig, mein ganzes Leben bei einem Stil zu bleiben. Und deshalb auch meine Kinderbücher, meine erotischen Bücher, meine Reportagebücher und meine soziale Satire und dann auch die Liebe und das Romantische und so weiter, das gehört alles hinein. Ich wusste es nicht damals, aber ich habe es nicht besser entdeckt, dass in allen meinen Kinderbüchern die Kindern nie Angst haben. Sogar, wenn die drei Räuber kommen, alle - sogar die Hunde - rennen weg, aber die Kinder haben in meinen Büchern nie Angst. Ohne Angst gäbe es keinen Mut. Der Mut ist die Überwindung der Angst. Ich erinnere mich ganz gut, mein Gott, unter den Nazis und dann im Colmarer Brückenkopf, drei Monate an der Front, Schanzengräben, die Bomben, alles Mögliche, aber ich erinnere mich als Kind nicht, Angst gehabt zu haben. Es war irgendwie eher ein Abenteuer. Das war immer so. Ob ich sogar das Wort Spaß benutze? Ich glaube schon.

Heise: Tomi Ungerer war das aus der Sendung "Titel Thesen Temperamente". Der Karikaturist und Autor feiert heute seinen 80. Geburtstag und ein Gratulant ist zu mir ins Studio gekommen, nämlich F. W. Bernstein, emeritierter Professor für Karikatur und Bildergeschichte an der Hochschule der Künste in Berlin, Zeichner, Dichter. Bernstein gehört zu den Gründern der Neuen Frankfurter Schule, einer Gruppe von Schriftstellern und Zeichnern, die aus der Redaktion der Satirezeitschrift "pardon" hervorgegangen ist und selbst die "Titanic" publizierte. Herr Bernstein, schön, dass Sie hier sind, schönen guten Tag!

F. W. Bernstein: Guten Tag!

Heise: Gibt es für Sie von Tomi Ungerer etwas, was Sie ganz besonders an ihm schätzen?

Bernstein: Ja, erst mal darf ich als Schulmeister und Kleinmeister gratulieren und noch für die nächsten 20 Jahre natürlich alles Gute und viele Bücher für uns wünschen!

Heise: Diese angekündigten 20 Bücher mindestens!

Bernstein: Ja, mein absoluter Favorit - schwer zu sagen, das wird jede Woche ein anderer sein, aber was mir über die Maßen gefällt, das sind seine Zeichnungen von seinen Landhäusern. Die hat er einmal in Kanada und jetzt in Irland. Und da hat er bis zum alten, verrotteten Pflug und den Tieren dort alles gezeichnet auf eine Art und Weise, da kann eigentlich bloß noch der alte Menzel mithalten, was er da an Zeichnungen gemacht hat, an realistischen Zeichnungen.

Heise: Sie meinen auch vor allem das genaue Hingucken, was ein Zeichner ja braucht?

Bernstein: Das Hingucken und, was am allerschwierigsten ist, hat er dort praktisch mit links geschafft, dass er die Tiere in Bewegung gemacht hat. Das konnte er natürlich nachher prima brauchen für die Cartoons und die Karikaturen, aber jeder Hund und jede Gans und jede Maus dort ist echt.

Heise: Echt, genau, die laufen tatsächlich. Wann, erinnern Sie sich, wann haben Sie Tomi Ungerer erstmals wahrgenommen?

Bernstein: Das war in meiner Studienzeit schon, das waren die 60er-Jahre und Anfang der 70er. Da war er schon Kult. Mit den Satiren insbesondere, die er in Amerika gemacht hat. Und den Ritterschlag hat er ja dort auch gekriegt, er ist verboten worden. Und da haben wir uns immer bemüht drum, auch bei "pardon" schon, hat nie so recht geklappt, das Verbot.

Heise: Aber viel diskutiert wurden Sie ja auch. Wie geht das eigentlich, wenn man selber eben Satiriker, Provokateur ist, so unter Kollegen? Gibt es da etwas, an dem Sie sich vielleicht bei Ungerer doch auch gerieben haben, wo Sie gesagt haben, da ist er zu weit gegangen?

Bernstein: Wir waren immer wieder überrascht oder ich war überrascht, was noch dazukommt zu dem, wo man gedacht hat, gut, jetzt hat er mal die Sexualitäten da, die grimmigen, und dann kam wieder noch was anderes. Ja, er hat, wenn er etwas gemacht hat, gleich in Serie gemacht und das ist auch schon zum Applaudieren ein Anlass, dass er dabei die Serie weiterentwickelt hat, das Thema gemolken hat nach Strich und Faden. Und natürlich sind die Sexualitäten dann ganz prima und damit kann man immer noch provozieren. Aber ich finde das einfach, die puren grafischen Qualitäten, also die realistischen Zeichnungen bis zu dem, was er an Kinderbüchern macht, mindestens genau so. Auch wenn da nicht unbedingt jetzt der große Schock drin ist. Was er selber gesagt hat, dass die Kinder keine Angst haben vor ihm, kann natürlich auch mit der Komik zusammenhängen, worüber man lachen kann.

Heise: Wo man dann als Erwachsener eher so eine Schere hat und die Kinder das vielleicht viel unmittelbarer aufnehmen.

Bernstein: Und er ist ja auch mit Kinderbüchern verboten worden in dem prüden Amerika damals.

Heise: Es gibt auch heute noch Kindergärten, die ihn nicht irgendwo reinlegen würden in ein Buchregal.

Bernstein: Auch das ist eigentlich ein Ritterschlag. Denn die Niedlichkeit der Kinderbücher ist ja verheerend, da hat er nie mitgespielt.

Heise: Sie selber, Herr Bernstein, haben auch ein Kinderbuch veröffentlicht. Und diese Niedlichkeit, dieses, gegen die neue Niedlichkeit anzuschreiben, was sind das für Probleme mit der Niedlichkeit?

Bernstein: Ach, was ist das für ein Problem ... Man will da einfach nicht mitspielen. Wenn ich mir vorstelle, dass die Kinder dauernd diese lächelnden Figuren mitkriegen, also, mit den Smiley-Gesichtern ... Ich selber habe versucht, in dem Ladenhüter, was immer das Kinderbuch drauf hatte, realistisch zu sein, das heißt, Geschichten, Live-Geschichten von einem Patenkind zu erzählen, und habe dann auch mal diskutiert mit Waechter, mit unserem Großmeister. Der hat auch natürlich viele Kinderbücher, nicht ganz so viele wie Tomi Ungerer, gemacht und hat da immer Erfindungen reingemacht. Und ich meinte, er könne doch auch realistisch sein – er hat sein Allerschönstes gemacht, "Wer kommt mit auf die Lofoten", eine Lofotenreise, die er gemacht hat, für die Kinder dann illustriert hat –, und dann sagte er, nein, Kinderbücher, da muss mehr drin sein als bloß so ein bisschen hausgemachte Geschichte. Und das hat natürlich Tomi Ungerer ganz mustergültig vorgemacht, dass er Erfindungen dann auch mit Klischees, Räuber ist natürlich ein Patent, ein Klischee. Aber so, wie er es dann macht und zubereitet und noch ein bisschen steigert, da ist es mehr als bloß patente Programmmusik.

Heise: Wie wichtig, würden Sie denn sagen, ist tatsächlich Angst? Tomi Ungerer hat ja in dem Ton, den wir eben gehört haben, so viel über Angst gesprochen und das Gegenteil von Angst, Spaß.

Bernstein: Ich weiß nicht, ob Spaß ... Also, Komik kann eine Überwindung von Angst sein oder ein Gegengift zu Angst, aber es gibt bei den Psychologen, habe ich mir sagen lassen, den Begriff, für Kinder sehr wichtig, der Angstlust. Wenn Sie – jede Mutter kennt das auch und jeder Vater auch –, wenn man den Kindern so Angst macht, huhu, und die Kinder kreischen dann vor Wonne ...

Heise: ... wollen das dann noch mal hören, genau ...

Bernstein: ... ja. Und das spielt dann auch bei den Kinderbüchern eine Rolle. Das ist bei der Niedlichkeit nicht drin. Aber bei meinen eigenen Kindern, da war das absolute Favoritkinderbuch "Die glückliche Wiese". Das war so was Niedliches ...

Heise: Ja, sehen Sie, die Bandbreite muss einfach groß sein. Zeichner F. W. Bernstein zum Geburtstag von Tomi Ungerer zu Besuch im "Radiofeuilleton". Herr Bernstein, jetzt zum 80. gibt es ja Ausstellungen in Straßburg, Frankfurt, Karlsruhe. Straßburg ist ja auch so ein Museum von Tomi Ungerer. Vor zehn Jahren hatte er eine große Ausstellung im Museum of Modern Art in New York. Also, international bekannt. Der Humor ist ja eigentlich oft sehr landesspezifisch, warum funktionieren die Zeichnungen von Tomi Ungerer trotzdem so grenzüberschreitend?

Bernstein: Ja, das ist auch erstaunlich. Das geht zum Teil, glaube ich, schon über die Satire, mit der er in Amerika großen Erfolg hatte, Werbesatire zum Beispiel, und auch echte Werbung, die er gemacht hat, die alles andere als niedlich und langweilig war. Und er hat immerhin auch eines gemacht, das müsste auch erwähnt werden, die Grenze zwischen U- und E-Kunst, zwischen der Unterhaltung und der Komik und der Satire und Museum of Modern Art, der Hochkunst, spielend überwunden. Und das ist auch etwas, da bemühen wir uns ja schon immer wieder drum, komische Kunst zu kreieren, das war bei ihm von Anfang an eigentlich. Also, obwohl er keine Kunst machen wollte, um Gottes Willen! Aber seine Sachen, die sind so gut ...

Heise: ... die sind schon einfach Kunst, kann er sich gar nicht gegen wehren ...

Bernstein: ... sagen wir so, die sind besser als das, was an aktueller Kunst gerade gemacht wurde.

Heise: Über eine Sache stolpern wir ja auch immer wieder, dieses Kinderbücher und pornografische Satiren. – Das geht aber auch zusammen?

Bernstein: Ja, Satire und Kinderbücher ging schon immer zusammen, das war seit Wilhelm Busch schon so.

Heise: Und der Porno dazu, pornografisch?

Bernstein: Ja, von ihm gibt es sogar das Schrecklichste der Schrecken, er hat "Heidi", dieses Kinderbuch, also, das ist wirklich ein Kitschdings, ich habe es in meiner Kindheit auch gelesen, und das hat er gemacht, also so was von niedlich und sauber und prima. Und daneben hat er im Privatdruck – ich glaube, es ist nachher auch richtig erschienen – eine Pornoversion gemacht von dem. Und ja, das gehört dann aber zusammen, die Niedlichkeit und der Schweinkram. Ich weiß nicht, ob Kinder für Pornos ansprechbar sind, ich glaube eher, nee, was soll denn das, die vögeln ja schon wieder ...

Heise: ... gelangweilt, meinen Sie?

Bernstein: ... ja ... Und nein, es ist nebeneinander im Oeuvre und es mischt sich ja nicht. In Kinderbüchern bei ihm, da ist kein Schweinkram drin. Da ist Brutalität drin und Zerstörung, das ist bei Wilhelm Busch schon so, da werden Sachen kaputt gemacht und das ist auch schon ein grafisches Meisterstück, wenn bei ihm Sachen kaputt gehen.

Heise: Das Oeuvre, was wir uns auf jeden Fall und ihm zum 80. noch wünschen, das noch erweitert wird, wie Sie am Anfang auch eingestiegen sind: Noch mehr Bücher von Tomi Ungerer wünschen wir uns. Der Zeichner F. W. Bernstein zum 80. von Tomi Ungerer war hier zu Besuch. Herr Bernstein, ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie gekommen sind!

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