Die neuen türkischen Einwanderer

Gebildet, engagiert – und heimatlos

29:43 Minuten
Silhouette eine Person vor einer Wand mit türkischen Postern.
Viele seien zermürbt von der Lage in der Türkei, sagt Migrationsforscher Murat Erdogan. Insbesondere Hochqualifizierte verlassen daher das Land. © Ozan Safak/Unsplash
Von Luise Sammann · 18.02.2019
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Als "New Wave" bezeichnen sich jene hochqualifizierten Türken, die seit 2016 wegen des politischen Klimas aus ihrem Heimatland geflohen sind. In Deutschland stellen sich ihnen neue Herausforderungen - etwa die Mentalität vieler Deutsch-Türken.
"Manchmal fühlt es sich an, als hätten wir unser Land im Stich gelassen, einfach kampflos aufgegeben. Nachts liege ich wach und denke an meine Verwandten und Freunde, die ich in der Türkei zurückgelassen habe..."
"Jeden Tag gucke ich auf Facebook, um zu sehen, was zuhause vor sich geht. Den türkischen Mainstreammedien kann man ja nicht mehr trauen. Meine Gedanken sind jeden Tag in der Türkei."
"Ich hätte diesen Schritt nicht gemacht, wenn ich kein Kind gehabt hätte. Wäre ich allein, hätte ich gekämpft. Aber es geht um meinen Sohn und seine Zukunft."

Flucht vor dem Erdogan-System

Eine kleine, vollgestellte Küche in Berlin-Mitte. Zümrüt Kaplan, 50 Jahre alt, steht in Jeans und Schlabberpullover am Herd und brät Zwiebeln an. Unmöglich genau zu sagen, woher die Tränen in ihren Augen kommen…
Seit einem Jahr lebt die Istanbulerin mit ihrem 12-jährigen Sohn Can in Deutschland. Ein Jahr voller Abschiede und Neuanfänge liegt hinter ihr. Ein Jahr voller Tränen.
Straßenszene im Istanbuler Stadtteil Kadiköy
Straßenszene im Istanbul: Viele der neuen türkischen Einwanderer verlassen ihre Heimat, weil ihnen zuhause ständig Probleme gemacht werden.© imago
"Ich habe mein Zuhause, meinen Mann und meine zwei Stieftöchter zurückgelassen, als ich nach Berlin kam. Aber ich musste es versuchen. In der Türkei habe ich am Ende nur noch schwarz gesehen. Sie ist mein Zuhause – aber ich war wie eine Fremde dort. Und dann habe ich nun mal einen eigenwilligen Sohn, der seine Haare gerne lang tragen will. An einer staatlichen türkischen Schule darf er das nicht und eine Privatschule konnte ich nicht mehr bezahlen. Wo hätte ich ihn im Erdogan-System lassen sollen?"
Sohn Cans lange Haare, Zümrüts eigene politische Einstellung – ihr Drang, auch nach den gescheiterten Gezi-Protesten vom Sommer 2013, bei denen sie und viele ihrer Freunde ganz vorn mit dabei waren – immer und überall ihre Meinung zu sagen: Irgendwann, so die 50-Jährige, bestand ihr Leben in Istanbul nur noch aus Problemen.
"Ich konnte am Ende nicht mal mehr unseren Lebensunterhalt verdienen. Unser Sektor wurde ganz einfach ausgelöscht…"

Von der einstigen Aufbruchsstimmung ist wenig geblieben

In Istanbul arbeitete Zümrüt als Eventmanagerin. Je hipper die Bosporus-Metropole ab der Jahrtausendwende wurde, desto mehr gab es für sie und ihre Kollegen zu tun. Internationale Stars und Touristen aus aller Welt rissen sich um Auftrittsgenehmigungen und Konzertkarten – Rock- und Jazz-Festivals, Auftritte von Lady Gaga und Co. brachen immer neue Besucherrekorde.
Doch dann kamen die Terroranschläge, die Tourismuskrise und ein zunehmend autoritärer Präsident.
"In der aktuellen Türkei kann man keine Festivals mehr organisieren. Die meisten Leute meiden Großveranstaltungen. Und Veranstaltungen, auf denen es Alkohol gibt, werden sowieso unmöglich gemacht."
Zümrüt nimmt wie zum Trotz einen Schluck aus ihrem Rotweinglas, lässt ihren Unmut dann an einer Salatgurke aus.

Allein an einem fremden Ort

Das endgültige Aus brachte der Putschversuch gegen Präsident Erdogan im Juli 2016. Scheinbar wahllos begann die Polizei danach Oppositionelle zu verhaften – darunter auch immer wieder Bekannte von Zümrüt. Mal hatten sie die falschen Kommentare auf Facebook gepostet, mal die falschen Demos besucht oder auch nur ihre Kinder auf die falschen Schulen geschickt hatten.
Pro-Erdogan-Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul am 18. Juli 2016.
Pro-Erdogan-Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul nach dem gescheiterten Militärputsch 2016.© AFP - Ozan Kose
Zümrüt gab innerlich auf, beantragte ein "Visum zur Arbeitsplatzsuche für qualifizierte Fachkräfte". Am 17.01.2017 landete sie mit Ihrem Sohn Can in Deutschland. Dem Land, das ihre Eltern – einst Gastarbeiter in Süddeutschland – mehr als 30 Jahre zuvor verlassen hatten.
"Ich kannte niemanden hier. Im Prinzip bin ich ganz allein an einen fremden Ort gekommen. Völlig verrückt! Aber wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich froh, dass ich es gewagt habe. In der Türkei hatten wir keine Luft mehr zum Atmen. Hier geht es uns besser."

Nicht mehr willkommen im Heimatland

Wie viele Türken in den letzten Jahren wie Zümrüt Kaplan aus politischen Gründen nach Deutschland gekommen sind, weiß niemand genau. Fest steht: Es sind viele. Ein halbes Jahrhundert nachdem ihre Eltern und Großeltern auf der Suche nach Arbeit und Lohn ihr Land verließen, um bei Siemens, Mercedes und Co. für ein besseres Leben zu schuften, macht sich nun eine weitere Gruppe auf den Weg. Doch Menschen wie Zümrüt fliehen nicht vor der Armut in Anatolien. Sie fliehen vor einem System, indem sie ohnehin nicht mehr willkommen sind.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während einer Rede in Ankara
"Wir sollten ihre Tickets bezahlen und sie ins Flugzeug setzen": Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während einer Rede in Ankara.© AFP / ADEM ALTAN
"Dieser Tage sehen wir, wie einige undankbare Menschen, die ihre Wurzeln nicht kennen, blind vor Hass auf die Türkei sind. Sie finden unser Land nicht mehr lebenswert und sprechen davon auszuwandern", sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im März 2018. "Wir sollten ein Extra-Büro eröffnen, um diesen Leuten dabei zu helfen! Wir sollten ihre Tickets bezahlen und sie ins Flugzeug setzen. Denn solche Bürger sind ohnehin nichts als eine Last für unser Land. Eine Bürde!"

Eine Viertelmillion wanderte 2017 aus

Eine Istanbul, Ende des vergangenen Jahres. Zäh schiebt sich die unendliche Schlange bunter Autos durch die Bosporus-Metropole. Die Scheiben einer neu fertig gestellten Mega-Moschee spiegeln blitzend die langsam untergehende Abendsonne, ein paar hungrige Möwen umkreisen kreischend zwei hochaufragende Minarette.
Professor Murat Erdogan hat jetzt keinen Blick für die Schönheit seiner Stadt. Der renommierteste Migrationsforscher der Türkei ist viel gefragt dieser Tage. Auch am Wochenende flitzt er von Termin zu Termin. Als einzig möglichen Interviewtermin bietet er eine Taxifahrt an.
"Vor kurzem hat die Statistikbehörde aktuelle Zahlen veröffentlicht. Sie sagen, dass im Jahr 2017 252.000 Menschen die Türkei verlassen haben. Natürlich ist das ein riesiger Verlust für ein Land. Und wenn Sie sich genauer ansehen, wer da gegangen ist, dann sind das vor allem junge, dynamische Leute mit hohem Bildungsstand. Wir sprechen hier also von einem typischen Fall von Brain Drain."

Vor allem Hochqualifizierte verlassen das Land

Der Professor hält kurz inne. Während das Taxi über die Stadtautobahn jagt, verschwindet die Sonne hinter einem der wenigen bewaldeten Hügel, die der türkische Bauboom noch nicht verschlungen hat. Die fliegenden Händler rechts und links der Straße knipsen ihre Lampen an.
"Nehmen Sie als Beispiel meinen Neffen. Er hat an der renommierten Middle Eastern Technical University in Ankara Elektroingenieur studiert. Man muss unter zwei Millionen Abiturienten zu den besten Tausend gehören, um an eine solche Uni zu kommen. Er hat es geschafft, einen sehr guten Abschluss gemacht und dann einen guten Job gefunden. Mit sehr gutem Gehalt. Aber er war trotzdem unzufrieden, hat sich ständig unsicher gefühlt in der Türkei. Und am Ende hat er beschlossen zu gehen. Inzwischen lebt er in Berlin."
So wie in diesem Beispiel sind es vor allem türkische Softwareentwickler, Wissenschaftler oder Ingenieure, die sich in den letzten Jahren in deutschen Großstädten wie Berlin, Köln und Hamburg niedergelassen haben. Auch an vielen deutschen Universitäten sind sie untergekommen. Allein neun der elf Gastwissenschaftler, die zurzeit im Rahmen des Sonderprogramms "Wissenschaftsfreiheit" an der Humboldt-Universität zu Berlin forschen, sind Türken. Die Einstein Stiftung fördert sie als "Wissenschaftler, die in ihren Heimatländern bedroht oder in ihrer Arbeit eingeschränkt sind". Ähnliche Programme gibt es an Unis in Bonn, Siegen, Stuttgart und vielen anderen Städten.

Personalmangel an türkischen Universitäten

Zumindest Teile der türkischen Regierung haben inzwischen eingesehen, wie teuer dieser Brain Drain ihr Land langfristig zu stehen kommt. Vor allem an den Universitäten sind die Auswirkungen längst unübersehbar. Zahlreiche Lehrstühle sind unbesetzt, Studenten berichten von Kommilitonen, die plötzlich zu Dozenten aufsteigen, ganze Fachbereiche müssen wegen Personalmangels geschlossen werden...
Die Ministerien für Bildung und Wissenschaft rufen deswegen seit einiger Zeit türkische Wissenschaftler aus dem Ausland zurück. Migrationsforscher Murat Erdogan reibt vielsagend Daumen und Zeigefinger aneinander.
"Als Professor und Fachbereichsleiter an einer staatlichen Universität verdiene ich 8000 Lira im Monat. Das sind etwa 1100 Euro. Wissenschaftlern, die jetzt aus dem Ausland zurückkommen, bietet der türkische Staat mehr als das Dreifache davon!"

"Die Menschen sind zermürbt"

Doch für die meisten kommt das viel zu spät. Mit Geld lassen sich qualifizierte Türken oft nicht mehr in ihre Heimat zurück locken. Vielmehr steigt die Zahl derer, die nach Möglichkeiten suchen, um zum Beispiel nach Deutschland zu emigrieren, immer weiter.
"Die tägliche Atmosphäre in der Türkei, die anhaltenden Spannungen, die Streitereien, die Unsicherheit: All das zermürbt die Menschen. Selbst, wenn sie nicht sonderlich politisch aktiv sind", so Migrationsforscher Murat Erdogan. Er selbst ist davon nicht ausgenommen, gesteht er, kurz bevor er aus dem Taxi springt. In Zukunft wird der 55-Jährige am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung arbeiten.
Der türkische Journalist Can Dündar bei der Eröffnung des Online-Magazins Özgürüz
Der türkische Journalist Can Dündar lebt seit August 2016 in Deutschland. Seitdem fordert die Türkei seine Auslieferung.© dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
Tatsächlich sind es längst nicht nur diejenigen, die bereits direkt politisch verfolgt werden – wie zum Beispiel der viel beachtete Journalist und Autor Can Dündar, ebenfalls im Berliner Exil – die die Türkei dieser Tage verlassen. Die Mehrheit der Türken, die ihrer Heimat in den letzten zwei Jahren den Rücken gekehrt haben um in Deutschland oder anderswo ein neues Leben zu beginnen, ging, bevor es sie treffen konnte. Bevor Haftbefehle oder Ausreisesperren ihr Leben und das ihrer Kinder zerstören konnten. Längst nicht jeder der neu angekommenen Türken in Berlin ist politisch aktiv.

Reger Austausch im Exil

Ein holzvertäfeltes Lokal in Berlin-Charlottenburg. Kaviar, Saure-Gurken-Suppe und Piroggen stehen auf der Speisekarte des russischen Restaurants Samowar. Dazu Wodka in dreizehn unterschiedlichen Varianten. An einer langen Tafel am Fenster sitzt ein Dutzend junger Männer und Frauen vor den Resten ihres Abendessens. Sie unterhalten sich über die Unterschiede der russischen und der türkischen Küche.
Fast alle der Anwesenden kommen aus Istanbul. Einige wenige aus Izmir oder Ankara. In ihrer Heimat haben sie an den besten Unis studiert – in Berlin arbeiten sie in den Marketing- und IT-Abteilungen großer Firmen wie Zalando oder SAP.
"Wir haben eine Facebook-Gruppe, die sich New-Wave-in-Berlin nennt. Eine Art Plattform, auf der sich Türken wie wir, die neu nach Berlin kommen, austauschen und gegenseitig helfen", erklärt Cansu Yener, Architekturstudentin aus Istanbul. "Es geht um Fragen, wie 'Wo melde ich mich an, wie finde ich eine Wohnung, wie versichere ich mich?' Aber auch um ganz alltägliche Dinge. Zum Beispiel: 'Leute, wo kauft ihr türkischen Käse in Berlin? Oder türkische Süßigkeiten?'"
Ja, um Essen geht es viel bei den selbst ernannten New-Wave-Türken in Berlin. Okan Sahiner, Programmierer aus Istanbul und seit 11 Monaten in Deutschland, nickt lachend.
"Allein den Döner, den wir gewohnt sind, finden Sie hier nicht. Die Portionen in Berlin sind zwar größer, weil das Fleisch hier günstiger ist. Aber der Geschmack ist nicht zu vergleichen."

Unterschiede zwischen alteingesessenen und neuen Türken

Knapp 2500 Mitglieder hat die New-Wave-Gruppe bei Facebook bereits. Täglich werden es ein paar mehr. Beitreten kann jeder, der neu nach Berlin gekommen ist – also die Türkei meist nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 verlassen hat. Politische Konflikte innerhalb der Gruppe sind damit weitestgehend ausgeschlossen. Denn Türken, die mit der Entwicklung in ihrer Heimat einverstanden sind, würden ihr Land dieser Tage kaum verlassen, so Architekturstudentin Cansu:
"Auch die Türken, die schon in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und die Türken, die jetzt neu aus der Türkei kommen, unterscheiden sich sehr voneinander: unsere Lebensart, unsere politische Meinung, unser Geschmack. Außerdem haben sie ja schon ihre Familien und Freunde hier, die sie um Rat fragen können. Aber wir kommen meist ganz allein, umso mehr müssen wir zusammenhalten."

Gute Erfahrungen mit deutschen Kollegen

Die Gruppe bricht auf. In einer nahegelegenen Bar soll der Abend weitergehen. Fröstelnd schieben sie sich hinaus in die Dunkelheit. Ein paar Deutsche stehen rauchend vor dem Restaurant, schauen auf, als die Gäste herauskommen. Programmierer Okan Sahiner lächelt ihnen vorsichtig zu.
"Ich habe noch keine schlechten Erfahrungen mit Deutschen gemacht. Ich habe mehrere deutsche Kollegen in der Firma. Wir treffen uns auch privat. Klar kannte ich die Geschichten, dass die Deutschen kalt und nicht sehr freundlich sind. Aber die, die ich bisher getroffen habe, waren nicht so."
Der 29-Jährige streicht sich über den dunklen Dreitagebart, überlegt kurz. Dann fügt er hinzu.
"Vielleicht liegt es auch daran, dass ich noch kein Deutsch kann. Wenn du Englisch sprichst, stempeln dich die Deutschen wohl weniger schnell ab. Ich bin jedenfalls froh, dass ich hierhergekommen bin."

Jobs sind kein Problem – nur Wohnungen sind nicht zu finden

Auch die anderen New-Wave-Türken sind zufrieden. Ihre Visa-Anträge – früher traditionell eine langwierige Prozedur für Reisende aus der Türkei – wurden schnell und problemlos bearbeitet. Und Jobs hatten die meisten von ihnen schon lange, bevor sie im Flugzeug saßen. Deutschland wirbt um Leute wie sie.
Und doch – oder gerade deswegen – sind viele überrascht von den Schwierigkeiten, auf die sie nach ihrer Ankunft im alltäglichen Leben stoßen:
"Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein könnte, eine Wohnung in Berlin zu finden. Dass die Jobsuche schwer sein könnte, ok. Aber eine Wohnung – ?!"
"Wir haben wirklich unglaubliche Zeiten hinter uns. Zwar mussten wir nie auf der Straße schlafen. Aber zeitweise habe ich acht Wohnungen am Tag besichtigt. Bin 40 km mit dem Fahrrad gefahren. Zwischendurch haben wir bei einer Familie auf dem Sofa gelebt. Aber deren Tochter erlaubte meinem Sohn nicht, in ihr Zimmer zu kommen. Und weil er auch nicht bei uns Erwachsenen sein wollte, saß er drei Wochen lang auf dem Fußabtreter vor der Wohnungstür und wartete darauf, dass wir schlafen gingen."

Hilfe für Neuankömmlinge

Eventmanagerin Zümrüt hat inzwischen eine Wohnung zur Zwischenmiete in Berlin-Mitte gefunden. Doch der Weg dorthin war lang. Und ohne persönliche Kontakte hätte sie es wohl nie geschafft.
Was aber, wenn einem genau die bei der Ankunft in Berlin fehlen?
Um anderen Neuankömmlingen den Start zu erleichtern, gründete eine Gruppe junger Türkinnen vor gut einem Jahr den Verein Puduhepa in Berlin-Kreuzberg. Benannt nach der hethitischen Großkönigin Puduhepa, die im 13. Jahrhundert als eine der einflussreichsten Frauen im Nahen Osten galt. Eine Frau, die sich einmischte, sich engagierte.
"Wenn man hier ankommt, hat man keine Ahnung. Muss ich mich irgendwo registrieren? Wohin soll ich gehen? Und was brauche ich dafür", so Puduhepa-Mitgründerin Tugba Kiratli.
"Um in ein System reinzukommen, muss man bestimmte Schritte gehen, aber wir wussten nicht, welche das sind. Mit Hilfe von Freunden, die vor uns gekommen waren und viel Internetrecherche haben wir es irgendwie geschafft. Aber es war sehr ermüdend. Vor allem, wenn man noch kein Deutsch spricht. Unser Ziel ist, anderen diese Last zu nehmen. Denn sein Land zu verlassen, zu emigrieren, ist allein schon schwierig genug."

Hürden bei der Ankunft

Um zunächst einen besseren Überblick über die größten Probleme der New-Wave-Türken zu bekommen, haben die Puduhepa-Gründerinnen heute über Facebook zu einem ersten Treffen geladen. Bei Tee, Kaffee und belegten Brötchen diskutieren etwa 25 Neu-Berliner über die Hürden, die sie seit ihrer Ankunft aus der Türkei nehmen mussten. An nach Themen sortierten Gruppentischen geht es um Stichworte wie Arbeitsmarktzugang, Gesundheitssystem, Wohnungssuche etc.
Aylin Yilmaz, Psychologin aus Istanbul, sitzt bei einer Gruppe, die sich als erstes über das Thema Bildung austauscht. Kein Zufall. Viele der New-Wave-Türken in Berlin haben Kinder, die sie nicht im Erdogan-System aufwachsen lassen wollten und die nun in Deutschland aufwachsen sollen.
"Nach Berlin zu kommen, war einfach, aber hier ein Leben aufzubauen nicht. Für uns war das Schwierigste, eine Kita für mein Kind zu finden. Wir haben fast acht Monate lang gesucht, und als wir einen Platz hatten, sagten uns alle, was für ein Glück wir gehabt hätten."

Viele Neuankömmlinge kennen die Anlaufstellen gar nicht

Aylin schüttelt immer noch fassungslos mit dem Kopf, wenn sie an ihre verzweifelte Suche zurückdenkt. Dass sie sich ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt mit solchen Themen herumschlagen müsste, hatte sie vor ihrer Abreise aus Istanbul nicht erwartet. Aber genau darum geht es, so Puduhepa-Mitbegründerin Belma Bagdat:
"Manchmal sagen uns die Deutschen: Aber es gibt doch schon Ansprechpartner und Hilfe für genau diese Probleme. Warum macht ihr das? Das Problem ist, dass keiner von uns von diesen Ansprechpartnern wusste. Berlin hat zum Beispiel ein multilinguales 'Willkommenszentrum'. Wunderbar. Aber keiner von uns wusste davon, und so musste sich jeder einzelne allein durchwurschteln. Wir versuchen bei Puduhepa also erstmal herauszufinden, warum diese existierenden Strukturen die Neuankömmlinge offenbar gar nicht erreichen."

Im Kampf mit den täglichen Vorurteilen

Belma nimmt einen Teelöffel, klopft damit an ihr Wasserglas. Eine halbe Stunde ist um. Zeit für die Teilnehmer, sich an einen der anderen Thementische zu setzen. Psychologin Aylin Yilmaz landet beim Stichwort Diskriminierung.
"Mir fällt vor allem auf, dass die Deutschen ein sehr enges 'Türken-Bild' im Kopf haben. Wenn ich zum Beispiel in der Kita andere Eltern treffe, sind sie oft überrascht, wenn ich sage, dass ich Türkin bin. Wenn ich dann frage, warum, dann sagen sie: Du siehst irgendwie nicht türkisch aus. Sie können das meist nicht genauer definieren. Aber ich weiß, was sie meinen. Ich entspreche nicht ihrem Vorurteil."
Nach und nach fallen den Frauen und Männern an Aylins Tisch Geschichten von anderen Neuankömmlingen ein, die wegen ihres türkischen Nachnamens keine Wohnungen gefunden haben oder beim Arzt unfreundlich behandelt wurden, weil sie – obwohl gerade erst angekommen – kein ordentliches Deutsch sprechen. Nein, vorurteilsfrei sind die Deutschen auf keinen Fall, so die einhellige Meinung.

Migrantisch geprägte Stadtteile werden gemieden

Dass das mit den etwa 200.000 Türkischstämmigen zusammenhängt, die bereits in Berlin leben, ist den New-Wave-Türken klar. Nicht zufällig meiden einige von ihnen bewusst Stadtteile mit hohem Migrantenanteil wie Kreuzberg und Neukölln:
"Wir haben einfach völlig unterschiedliche Lebensstile, verkehren an unterschiedlichen Orten", so Oguzhan Okumus, der für seine Doktorarbeit in Politikwissenschaften nach Berlin gekommen ist.
"Die einzigen Orte, an denen wir uns zufällig über den Weg laufen, sind Dönerläden. Wir könnten uns auch in der Moschee treffen. Aber da gehe ich nie hin. Und die meisten Deutschtürken verkehren dafür nicht in den Bars und Clubs, in die ich gern gehe."
Menschen schwenken in der Öffentlichkeit türkische Staatsflaggen.
Die neuen Einwanderer aus der Türkei stehen ratlos vor der Erdogan-Begeisterung vieler Deutschtürken.© imago/Future Image/C.Hardt
"Wir haben nicht direkt etwas gegeneinander. Aber eben auch nicht füreinander. Mein Sohn Can war auf der deutschtürkischen Aziz-Nesin-Schule in Kreuzberg. Ich kam mir wie ein Alien vor zwischen den anderen Müttern dort. Die gehörten alle der zweiten oder dritten Generation von Deutschtürken an. Und ich kann gar nicht genau sagen, was uns so sehr voneinander unterscheidet. Natürlich die Sprache – ihr Deutsch ist meist sehr gut, ihr Türkisch eher schlecht. Aber auch, wie sie sich kleiden, ihre Weltsicht… Einfach komplett anders als ich. Für sie wirke ich wahrscheinlich zu deutsch, obwohl ich viel mehr Zeit in der Türkei verbracht habe als sie. Und auf mich wirken sie so anatolisch – anatolischer als die Leute, die ich in Anatolien kenne. Ich weiß nicht, wie sie das schaffen, aber irgendwie konservieren sie hier die Kultur, die ihre Familien vor 50-60 Jahren mitgebracht haben."
"Und dann sind da natürlich noch die Erdogan-Anhänger unter den Deutschtürken. Einmal hatte ich einen Streit auf dem Wochenmarkt. Der Verkäufer merkte, dass ich die Türkei gerade erst verlassen habe und fragte, warum. Allah sei Dank, sei sie doch großartig. Ich sagte nur: Wenn du sie so sehr liebst, dann hau doch ab und zieh selbst hin. Seitdem kaufe ich dort lieber nicht mehr ein."

Politischen Debatten geht man aus dem Weg

Politische Diskussionen wie diese versucht Kemal Kocatürk in Berlin lieber zu vermeiden. Ausgerechnet er, der in Istanbuls intellektuellen Kreisen als Provokateur galt. Der bekennende Erdogan-Kritiker gehört zu den bekanntesten Theaterschauspielern der Türkei. Seit August 2017 lebt auch er mit seiner Frau und den zwei Töchtern in Kreuzberg.
"Ich bin hierhergekommen, nachdem sie mich am Istanbuler Stadttheater gefeuert haben. Erst habe ich noch versucht, eine eigene kleine Bühne aufzubauen. Aber man hat alles getan, um mir zu schaden. Meine Stücke wurden verboten, ich bekam keine Rollen im Fernsehen mehr und Auftrittsverbote für öffentliche Säle. Am Ende mussten wir einsehen, dass es in unserer Heimat unter dieser Regierung keinen Platz mehr für uns gibt."
Der Neustart in Berlin ist für Kocatürk und seine Frau alles andere als leicht. Obwohl er sein bestes tut, um Deutsch zu lernen, ist dem 55-Jährigen bewusst, dass er kaum je an einem deutschen Theater spielen wird. Und mit den kleinen Soloauftritten vor türkischem Publikum, für die er alle paar Wochen in Berlin, Hamburg, Hannover oder Köln auf der Bühne steht, lässt sich bisher kaum Geld verdienen.

Die "neuen" Türken geben Sprachunterricht

In einer Kreuzberger Erdgeschosswohnung haben die Kocatürks deswegen die "Tiyatro Kumpanyasi" gegründet. Eine Art Schauspielschule, in der sie Türkische Sprachgestaltung, Kindertheater und Klavierstunden anbieten.
Ausgerechnet die so genannten Almancis – die Deutschtürken also, von denen sich die Neuankömmlinge aus der Türkei sonst eher abgrenzen – sind es, die Kocatürks Neuanfang in Berlin möglich machen.
Gülsen, eine Rentnerin aus Kreuzberg mit roten Haaren und grellem Nagellack, kommt seit einigen Wochen regelmäßig zur Sprachgestaltung in die Tiyatro Kumpanyasi. Konzentriert liest sie einen türkischen Zungenbrecher vor, den Kemal Kocatürk für sie an die Tafel geschrieben hat. Die Anstrengung steht der alten Frau ins Gesicht geschrieben.
"Das Türkisch, das wir hier in Deutschland sprechen, ist eine Katastrophe. Je öfter ich hierherkomme, desto mehr wird mir das klar. Aber es lohnt sich. Inzwischen merken auch meine Bekannten in der Türkei, wie sich meine Aussprache verbessert."
Zufrieden macht Rentnerin Gülsen sich auf den Heimweg. Kocatürks nächste Schüler betreten den Raum: Fünf deutschtürkische Kinder im Grundschulalter. Eine Stunde lang spielt Kemal Kocatürk auf Türkisch mit ihnen Rollen- und Theaterspiele, arbeitet spielerisch mit ihnen an Wortschatz und Ausdrucksvermögen. Selin, Mutter von zwei Töchtern, steht am Rand und schaut zu.
"Ich will, dass meine Kinder ordentliches Türkisch sprechen. Deswegen gehen wir ganz bewusst zu jemandem, der gerade frisch aus der Türkei nach Berlin gekommen ist. Solche Leute haben einen viel größeren Wortschatz. Wenn man erstmal eine Weile hier gelebt hat, dann geht der verloren. Im Alltag benutzt man die Sprache einfach nicht in ihrer ganzen Bandbreite. Ich merke das bei mir selbst, seit ich vor 23 Jahren hierhergekommen bin."

Auf Distanz zur alten Heimat

In Kreuzberg hat sich Kocatürks Schauspielschule bereits herumgesprochen. Und auch wenn die dunkle Erdgeschosswohnung in Kreuzberg wenig gemein hat mit den großen Istanbuler Bühnen, auf denen er die letzten zwanzig Jahre stand, hat sich der Umzug nach Berlin für ihn auch künstlerisch ausgezahlt.
"Ich habe mich in den letzten Jahren dazu verleiten lassen, nur noch politisch motiviertes Theater zu machen. Natürlich, als Künstler beschäftigst du dich mit dem, was das Leben dir vorgibt. Aber Kunst muss eigentlich noch mehr sein, für sich stehen und sich nicht auf Politik beschränken. Daran habe ich mich erst wieder erinnern müssen. Deswegen tut es gut, ein bisschen auf Distanz zu den aktuellen Ereignissen in der Türkei zu gehen. Wir waren so eingebunden, dass wir gar nicht mehr mitbekommen haben, was im Rest der Welt künstlerisch passierte. Das versuche ich jetzt aufzuholen."

"Ich vermisse nicht mein Land, sondern meine Leute"

Wie lange sie in Berlin bleiben werden, können die Kocatürks genauso wie die meisten anderen New-Wave-Türken noch nicht sagen. Das Visum, das sie kurz nach ihrer Ankunft erhalten haben, gilt zunächst für zwei Jahre. Doch dass sich die Situation in ihrer Heimat so schnell wieder ändern wird, glauben sie nicht.
"Ich selbst versuche anderen Türken, die jetzt hierherkommen, zu helfen. Wer keine Wohnung findet, kann bei uns schlafen. Außerdem weiß ich inzwischen alles darüber, wie man ein Visum bekommt oder was man hier arbeiten kann. Letztes Jahr habe ich meinen 50. Geburtstag hier gefeiert. Und wissen sie, was eine türkische Freundin beim Blick in die Runde sagte: Wie hast du bloß so viele tolle Leute in nur einem Jahr aufgetan. Ja, ich habe wirklich Glück. Denn die Wahrheit ist: Ich vermisse nicht mein Land, sondern meine Leute dort."
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