Die neue Monogamie

Von Uwe Bork |
Was waren das noch für Zeiten! Damals, als das Etikett, 68er zu sein, noch nicht unbedingt das Lebensalter meinte, sondern vielmehr die Lebensumstände einer ganzen Generation beschrieb. Und die bezogen sich eben nicht nur auf das Politische. Wer die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte, meinte das zuweilen auch ganz wörtlich.
Nicht nur stadtbekannte Kommunarden ließen sich bei ihrem beginnenden Marsch durch die Institutionen gern zu einem Abstecher in jenes neu erschlossene Wunderland der Lüste überreden, in dem ein gewisser Oswald Kolle gerade die Claims der sexuellen Befreiung absteckte. In der gassenhauerischen Popularisierung seiner Lehren wurde dann allen Ernstes vermutet, wer zweimal mit derselben tätig Bett oder Matratzenlager teile, gehöre deswegen schon zum verachteten Establishment. Selbst fernab der Studentenbewegung schien die "Pille" plötzlich ganzen Generationen von Jugendlichen genau jene sexuelle Freiheit zu schenken, von der dem Vernehmen nach ihre Eltern immer nur geträumt hatten. Wilde 70er, wilde 80er und – trotz AIDS - vielleicht sogar noch wilde 90er brachen an.

Und heute? Eine neue Lustlosigkeit scheint sich breitgemacht zu haben. Unter vielen Jugendlichen ist wahllose Promiskuität inzwischen so out wie die Macht der Straße für einen Joschka Fischer. Auch auf sexuellem Gebiet haben die Realos gesiegt: Ob der Verkehr in den Betten nachgelassen hat, sei hier dahingestellt, auf jeden Fall nachgelassen hat aber anscheinend der Verkehr zwischen den Betten. Sex ja, aber nicht mehr mit jedem, heißt die Devise der neuen Treuen. Und sogar die Keuschheit bis zur Ehe findet wieder ihre Verfechter, sei es aus religiösen Gründen oder auch nur aus Angst vor Ansteckung mit dem immer noch tödlichen HI-Virus.

Viele Freundschaften, die kurz nach der Pubertät auf der Schule begonnen haben, dauern inzwischen länger als die Ehen der Eltern. Werden wir Zeugen einer sexuellen Konterrevolution? Können wir gar eine späte Variante der einst von Helmut Kohl propagierten "geistig-moralischen Wende" beobachten? Oder hat sich die vielbeschworene Sexwelle schlicht und einfach totgelaufen am langen, flachen Strand des Lebens?

Sicher wäre es falsch, eine neue Spießigkeit zu konstatieren, wie es abwertend vor allem unter denjenigen Mode zu werden scheint, die in wilderen Jahren und zum Schrecken ihrer Eltern einst ein sexuelles Tabu nach dem anderen zu brechen pflegten. Sie müssen jetzt feststellen, dass so, wie sie einmal mit langen Haaren und Blümchenhemd oder Parka, mit Minirock und Häkel-Bikini die ältere Generation schockten, ihre Kinder und Kindeskinder das nun mit dem völlig entgegen gesetztem Programm schaffen. "Die jungen Menschen heute wachsen mit dem Zwang auf, alles Sexuelle auszuprobieren und das möglichst sofort. Ansonsten gehören sie nicht dazu. Diesem Zwang wollen sie sich entziehen. Sie haben da die gleiche Motivation wie die 68er – nur der Zwang hat sich umgedreht." Der dies sagt, muss es wissen: Der Arzt und Psychotherapeut Martin Goldstein hat von 1969 bis 1984 als "Dr. Sommer" in der Zeitschrift "BRAVO" aus sexuell unwissenden Kindern etwas kundigere Leute werden lassen.

Der jugendliche Hang zu einer neuen Monogamie also nur das letzte mögliche Protestverhalten gegen konturlose Erziehungsliberale, die noch für die letzte Torheit Verständnis aufbringen? Auch dieser Erklärungsversuch greift sicherlich zu kurz. Wahrscheinlicher ist, dass viele Jugendliche von heute vernünftiger sind als ihre Eltern vermuten, - zumindest in sexueller Hinsicht. Sie lassen sich ihren Lebensstil nicht mehr von Papa oder Mama vorschreiben und folgen damit überraschenderweise ganz deren Spuren. Denn die haben es vor Jahren oder Jahrzehnten auch nicht anders gemacht, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Sie zeigen aber auch Verantwortung in einer Situation, die – trotz medizinischer Erfolge – Lust immer noch mit Lebensgefahr verbinden kann. Wären sie doch bloß ebenso schlau – mag da manch einer denken - wären sie doch bloß ebenso schlau auch gegenüber der Droge Alkohol. Oder gegenüber Rechtsradikalismus und Fremdenhass, wenn man sich auf mehr politisches Gebiet begeben will.

Und noch etwas. Sollte sich die neue Treue der Jugendlichen auch jenseits der 20 fortsetzen, könnte sich in der Tat einiges ändern. Wie das Statistische Landesamt Stuttgart jüngst feststellte, wird selbst unter den als chronisch solide geltenden Schwaben mittlerweile mehr als jede zweite Ehe wieder geschieden: ein neuer Rekord. Unser monogamer Nachwuchs könnte diesen Trend in eine Art sequentieller Polygamie stoppen. Womit dann allerdings ausgerechnet die Erben der 68er zu den Rettern der bürgerlichen Kleinfamilie würden ...

Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist außerdem Autor mehrerer Bücher.
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