Die Nerven liegen blank

Von Rainer Burchardt, freier Journalist |
Es hätte doch alles so schön sein können. Da kam nun endlich der Sommer im Gewande der Altweibervariante daher, da feierten Bonn und Berlin sozusagen simultan den Jahrestag der deutschen Einheit, und zuvor hatte Angela Merkel, wenn auch mit Ach und Krach ihre Kanzlerinnenmehrheit bei der Abstimmung über den erweiterten europäischen Rettungsschirm hinbekommen.
Doch wie so oft, war alles mal wieder zu schön, um wahr werden können. Denn hinter den Kulissen und dann auch davor stritten sich die Unionspolitiker Bosbach und Pofalla über Grundgesetz und Gewissen, wobei der offenbar wenig krisensichere Kanzleramtsminister Pofalla das Antlitz des Kritikers des europäischen Rettungsschirms Bosbach ziemlich unflätig als Fresse porträtierte, die er nicht mehr sehen könne. Und mit der grundgesetzlich garantierten Gewissenfreiheit, dieser so wörtlich Scheiße, wolle er Pofalla in Ruhe gelassen werden.

Endlich mal klare Worte, möchte der Zyniker in mir triumphieren – doch letztlich zeigt dies als pars pro toto, dass im Regierungslager die Nerven ziemlich blank liegen. Und dann auch noch die anstehende Mitgliederabstimmung bei den Liberalen über den Rettungsschirm, der die Griechen und nicht zuletzt auch die Banken nicht im Regen stehen lassen soll.

Und als ob dieses raue Klima für Schwarz-Gelb nicht schon bedrohlich genug ist, meldeten die Griechen erneut, dass sie ihr versprochenes Sparziel wohl nicht erreichen. Und das ausgerechnet einen Tag nachdem Angela Merkel und ihre hellenischer Amtskollege Papandreu einträchtig der Öffentlichkeit das Gegenteil versichert hatten. Und von der Troika war aus Athen auch eher Hinhaltendes zu erfahren.

Und schließlich musste die nebenbei auch noch ziemlich reisefreudige Kanzlerin außer ihren eigenen Landsleuten auch noch die Slowaken von der vermeintlich wunderbaren Wirkung des Rettungsschirms überzeugen. Doch das gelang nur bei der dortigen Opposition.

Ein unerwarteter Lichtblick blieb - vorläufig jedenfalls - der Kanzlerin dann doch. Denn unversehens sind sich nun in der Berliner Landespolitik die Sozialdemokraten und die Grünen dermaßen in die Haare geraten, dass erste Auguren entgegen dem bisherigen Trend, sogar eine mögliche rot-grüne Bundesregierung nach spätestens 2013 in Gefahr sehen. Mit einer ziemlich barschen Basta-Volte hat Klaus Wowereit die gerade begonnenen Koalitionsgespräche mit den Grünen für gescheitert erklärt und sich nun auch der regional machtgierigen CDU zu gewandt. Jetzt sehen viele Grüne schwarz für eine gemeinsame Zukunft mit der SPD im Bund.

Verständlich dass dies bei den Sozialdemokraten eher gelassen betrachtet wird, wenngleich Wowereits Wende tatsächlich ein falsches Signal in Richtung Wiederbelebung der Großen Koalition sein könnte.

Doch was jetzt zunächst einmal angesagt sein sollte, das ist Gelassenheit in den verschiedenen Lagern. Was Bundespräsident Christian Wulff vor einigen Monaten eine bunte Republik genannt hat, das bezieht sich aktuell nicht nur auf das Straßenbild hierzulande, sondern eben auch auf die politische Landschaft, die von Berlin aus von den Piraten belebt wird. Ob das dauerhaft sein wird, ist nicht sicher, doch nach Umfragen liegt diese neue erfrischend alternaiv daherkommende Gruppierung bei acht Prozent bundesweit. Und die Piraten ziehen nicht nur die notorischen Protestwähler an, sondern ähnlich wie Grünen vor mehr als 30 Jahren Wählerstimmen aus allen politischen Lagern ab.

Auch das kann das bislang wohlbekannte und eher idyllische und kalkulierbare Lagerdenken ins Wanken bringen. Das muss nicht schlecht sein, denn das alles signalisiert eine Zukunft der wechselnden Mehrheiten im Bund und auch in den Ländern.
Die Zeiten der Stimmvererbungen sind damit wohl endgültig vorbei. Und das führt dann natürlich zwangsläufig dazu, dass jahrzehntelang eingeübte Rituale der politischen Klasse zur Disposition gestellt werden. So gesehen kann nicht ausgeschlossen werden, wenn trotz heftigster Dementis der Parteispitze die SPD sich in Richtung Große Koalition bewegen will. Das Stichwort dazu hieße in diesen europa- und weltpolitisch unsicheren Zeiten für Stabilität im eigenen Staat zu sorgen.

Das kann man als vernünftig ansehen, doch dies wird zumindest auf kurze Sicht keineswegs zur Beruhigung der Turbulenzen auf den globalen Wirtschafts- und Finanzmärkten beitragen. Obama hat ja nicht ganz Unrecht, wenn er die gelinde gesagt Unordnung bei der europäischen Krisenbewältigung als bedrohlichen Faktor für die Weltwirtschaft kritisiert. Allerdings hätte der selbst gewaltig unter Druck stehende US-Präsident auch ein wenig vor der eigenen Haustür fegen können, denn den Ausgang haben die ökonomisch-tektonischen Verwerfungen im Epizentrum USA genommen. Dies hätte die Kanzlerin durchaus einmal in Richtung Washington formulieren können.

Doch dazu fehlt der innenpolitisch gewaltig unter Druck geratenen schwarz-gelben Koalition, allen voran die mäandierende Angela Merkel offenbar der Mut. Das ist ein grandioses Trauerspiel.

Der sich aufdrängende Ausweg wären Neuwahlen. Doch das kann die Kanzlerin, die sich gestern auch noch der störrischen CSU in Bayern stellen musste, nicht wollen. Es wird höchste Zeit für ein neues Wahlgesetz, das auch während einer laufenden Legislaturperiode dem geänderten Willen des Volkes besser entspricht.