Die Neo-Cons im Adenauer-Haus
Von Alan Posener · 18.05.2007
Vor der letzten Bundestagswahl fragten sich viele Beobachter, ob Angela Merkel die deutsche Maggie Thatcher werden könne. Inzwischen ist klar: Sie ist Deutschlands Tony Blair. Aus Labour machte Blair New Labour – Angela Merkel ist dabei, aus der CDU die "New CDU" zu machen. Das neue Grundsatzprogramm ihrer Partei dokumentiert bereits den Wandel.
Blair sicherte seiner Partei die Macht, indem er einfach die Felder besetzte, die zuvor als urkonservativ galten: Marktwirtschaft, Leistungsgesellschaft, Law and Order, Kanonenboote. Merkel will ihrer Partei die Macht sichern, indem sie einfach die Felder besetzt, die zuvor als ursozialdemokratisch galten. Kinderkrippen und Ganztagsschulen, einst von der Union als familienfeindliches, sozialistisches Teufelswerk verschrien, erklärt die Partei nun zu einem zentralen Anliegen. Dafür sitzen ja auch die taffen CDU-Frauen Ursula von der Leyen und Annette Schavan im Kabinett.
Deutschland ist zwar für die CDU noch immer nicht Einwanderungsland, aber doch immerhin "Integrationsland". Die Familie wird von der Ehe gelöst: sie findet und fördert die Union nun überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung übernehmen; und die Ehe selbst, obwohl "Leitbild" der CDU, ist am Ende nur eine der möglichen Formen der Partnerschaft, in der Menschen "ihren Lebensentwurf verwirklichen". Wie die SPD ihren Wowi in Berlin, so hat die CDU ihren Ole von Beust in Hamburg: "Anything you can do, I can do better…"
Machttaktisch geht Merkels Rechnung bereits jetzt auf. Die SPD wirkt beinahe so orientierungslos und marginal wie es die britischen Konservativen waren, bevor der smarte David Cameron auf die Idee kam, Blairs Taktik zu kopieren und seinerseits New Labour die Themen zu klauen, also Englands Angela Merkel zu werden. Und Merkel denkt über den Tag hinaus, wenn auch kaum über das nächste Wahljahr: denn da kann sie, wenn alles gut geht, den ungeliebten Koalitionspartner loswerden und mit Freidemokraten und Grünen eine Jamaika-Koalition bilden. Ja, das CDU-Grundsatzprogramm wirkt geradezu wie das Programm einer solchen Koalition. Für die FDP gibt es das Bekenntnis zum schlanken Staat und zu mehr Eigenverantwortung in den Sozialsystemen, für die Grünen die weitgehende Ausmerzung all dessen, was an der CDU nach prä-68er Moralinsäure roch.
Bei soviel Koalitionsarithmetik droht aber das Eigene verloren zu gehen, das eigentlich Konservative aus dem Blick zu geraten. So jedenfalls murrt es nicht nur an den berühmten Stammtischen der Ortsvereine, sondern auch bis weit hinauf in der Parteihierarchie, sobald die Große Vorsitzende und ihr Generalsekretär außer Hörweite sind. Tatsächlich vollzieht sich in der CDU unter Angela Merkel, was sich in anderen konservativen Parteien des Westens längst vollzogen hat: an die Stelle der Paläokonservativen treten die Neokonservativen. Und damit ein konkurrierender Begriff davon, was es heißt, konservativ zu sein. Bisher einten Konservative und Liberale das Misstrauen gegen den Staatseingriff, gegen das "social engineering". Während die Liberalen aber auf das autonome Individuum und seine Freiheit setzten, vertrauten Paläokonservative auf gesellschaftliche Institutionen: Familie und Kirche, Verein, Schule, Militär und Betrieb, die Träger dessen, was Wolfgang Schäuble unsere "Werteordnung" nennt.
Die Neokonservativen hingegen haben ihre Scheu vor dem Staat verloren und sehen die überkommenen Institutionen in einer Krise. Dysfunktionale Familien und leere Kirchen, das Erodieren der Wehrpflicht und das anhaltend hohe Niveau der Jugendarbeitslosigkeit signalisieren den Neocons, dass der Staat gefordert ist; genauer: der gute Staat. Es ist kein Zufall, dass Angela Merkel aus einem Land stammt, in dem die Zivilgesellschaft durch den Sozialismus verwüstet wurde. Aus einem ostdeutschen Pfarrhaus stammend, hat sie wenig Vertrauen in die Widerstandskraft überkommener Institutionen. Und wenig Geduld mit der Sentimentalität derjenigen unter ihren westlichen Parteifreunden, die auf Entschleunigung setzen, auf hinhaltenden gesellschaftlichen Widerstand gegen die Verwüstung der Zivilgesellschaft durch den Kapitalismus.
Der europäische Konservatismus wandelt sein Gesicht. Nicolas Sarkozy in Paris, Angela Merkel in Berlin, David Cameron in London: die Neocons kommen. Sie sind pragmatisch und etatistisch, machtbewusst, modern und ganz und gar unsentimental. Die gute Nachricht für echte Konservative lautet: nun könnt ihr zeigen, dass ihr es ernst meint. Ehen, Familien, Nachbarschaften, Vereine, Kirchen, Traditionen: Das alles könnt ihr pflegen, ohne dass euch die CDU durch allzu große Nähe in Verlegenheit bringt. Die gute Nachricht für Nostalgiker lautet: In der SPD ist seit Gerhard Schröders Abgang wieder Platz.
Alan Posener, Journalist und Autor. 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u.a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.
Deutschland ist zwar für die CDU noch immer nicht Einwanderungsland, aber doch immerhin "Integrationsland". Die Familie wird von der Ehe gelöst: sie findet und fördert die Union nun überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung übernehmen; und die Ehe selbst, obwohl "Leitbild" der CDU, ist am Ende nur eine der möglichen Formen der Partnerschaft, in der Menschen "ihren Lebensentwurf verwirklichen". Wie die SPD ihren Wowi in Berlin, so hat die CDU ihren Ole von Beust in Hamburg: "Anything you can do, I can do better…"
Machttaktisch geht Merkels Rechnung bereits jetzt auf. Die SPD wirkt beinahe so orientierungslos und marginal wie es die britischen Konservativen waren, bevor der smarte David Cameron auf die Idee kam, Blairs Taktik zu kopieren und seinerseits New Labour die Themen zu klauen, also Englands Angela Merkel zu werden. Und Merkel denkt über den Tag hinaus, wenn auch kaum über das nächste Wahljahr: denn da kann sie, wenn alles gut geht, den ungeliebten Koalitionspartner loswerden und mit Freidemokraten und Grünen eine Jamaika-Koalition bilden. Ja, das CDU-Grundsatzprogramm wirkt geradezu wie das Programm einer solchen Koalition. Für die FDP gibt es das Bekenntnis zum schlanken Staat und zu mehr Eigenverantwortung in den Sozialsystemen, für die Grünen die weitgehende Ausmerzung all dessen, was an der CDU nach prä-68er Moralinsäure roch.
Bei soviel Koalitionsarithmetik droht aber das Eigene verloren zu gehen, das eigentlich Konservative aus dem Blick zu geraten. So jedenfalls murrt es nicht nur an den berühmten Stammtischen der Ortsvereine, sondern auch bis weit hinauf in der Parteihierarchie, sobald die Große Vorsitzende und ihr Generalsekretär außer Hörweite sind. Tatsächlich vollzieht sich in der CDU unter Angela Merkel, was sich in anderen konservativen Parteien des Westens längst vollzogen hat: an die Stelle der Paläokonservativen treten die Neokonservativen. Und damit ein konkurrierender Begriff davon, was es heißt, konservativ zu sein. Bisher einten Konservative und Liberale das Misstrauen gegen den Staatseingriff, gegen das "social engineering". Während die Liberalen aber auf das autonome Individuum und seine Freiheit setzten, vertrauten Paläokonservative auf gesellschaftliche Institutionen: Familie und Kirche, Verein, Schule, Militär und Betrieb, die Träger dessen, was Wolfgang Schäuble unsere "Werteordnung" nennt.
Die Neokonservativen hingegen haben ihre Scheu vor dem Staat verloren und sehen die überkommenen Institutionen in einer Krise. Dysfunktionale Familien und leere Kirchen, das Erodieren der Wehrpflicht und das anhaltend hohe Niveau der Jugendarbeitslosigkeit signalisieren den Neocons, dass der Staat gefordert ist; genauer: der gute Staat. Es ist kein Zufall, dass Angela Merkel aus einem Land stammt, in dem die Zivilgesellschaft durch den Sozialismus verwüstet wurde. Aus einem ostdeutschen Pfarrhaus stammend, hat sie wenig Vertrauen in die Widerstandskraft überkommener Institutionen. Und wenig Geduld mit der Sentimentalität derjenigen unter ihren westlichen Parteifreunden, die auf Entschleunigung setzen, auf hinhaltenden gesellschaftlichen Widerstand gegen die Verwüstung der Zivilgesellschaft durch den Kapitalismus.
Der europäische Konservatismus wandelt sein Gesicht. Nicolas Sarkozy in Paris, Angela Merkel in Berlin, David Cameron in London: die Neocons kommen. Sie sind pragmatisch und etatistisch, machtbewusst, modern und ganz und gar unsentimental. Die gute Nachricht für echte Konservative lautet: nun könnt ihr zeigen, dass ihr es ernst meint. Ehen, Familien, Nachbarschaften, Vereine, Kirchen, Traditionen: Das alles könnt ihr pflegen, ohne dass euch die CDU durch allzu große Nähe in Verlegenheit bringt. Die gute Nachricht für Nostalgiker lautet: In der SPD ist seit Gerhard Schröders Abgang wieder Platz.
Alan Posener, Journalist und Autor. 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u.a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.

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