Die "Nazifalle"

Von Ulrich Panzer |
Wenn es um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit geht, gelten bei uns strenge Regeln. Wer sie verletzt, ist schnell erledigt. Diese Erfahrung musste zum Beispiel Bundestagspräsident Philipp Jenninger machen, als er 1988 seine Rede zum Jahrestag der Reichspogromnacht hielt. Sein Versuch, die Begeisterung der Deutschen für Hitler zu erklären, führte zum Eklat.
Einen Tag nach der Rede trat Jenninger zurück. Zehn Jahre später sorgte Martin Walser mit seiner Äußerung über "Auschwitz als Moralkeule" für eine heftige Kontroverse, und in den vergangenen Monaten erregte die Forderung nach einer kommentierten Neuauflage von "Mein Kampf" die Gemüter.

In den Auseinandersetzungen fällt auf, dass bei denen, die auf der "richtigen" Seite stehen, oft Reflexe an die Stelle von Sachkompetenz treten. Angelernte Betroffenheit statt treffsicherer Argumente. Warum verlieren wir, wenn es um die NS-Zeit geht, so schnell den Verstand? Wie sinnvoll sind Tabus bei der Vergangenheitsbewältigung und wozu führt es, wenn Menschen wissen, dass man nicht mit "Hitlers Autobahnen" argumentieren kann, aber nicht begründen können, warum?

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Links:
Philipp Jenningers Rede am 10. November 1988 vor dem Deutschen Bundestag
Der Fall Jenninger - Kommunikationswissenschaftliche Untersuchung
Zur Diskussion um Mein Kampf

Literaturtipps:

Götz Aly: Hitlers Volksstaat
Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus
Fischer Taschenbuch Verlag, 9.95 Euro

Der Historiker und Journalist Götz Aly charakterisiert das NS-Regime in seiner detaillierten und spannend geschriebenen Untersuchung als eine "Gefälligkeitsdiktatur", die sich die Zufriedenheit und Unterstützung der Bevölkerung durch soziale und materielle Wohltaten erkaufte, z.B. Ehegattensplitting, Kindergeld, Abschaffung der Gebühren für weiterführende Schulen, Kündigungsschutz, Krankenversicherung für Rentner, steuerfreie Feiertags- und Nachtzulagen. Finanziert wurden diese Errungenschaften durch eine atemberaubende Staatsverschuldung und vor allem durch die Ausplünderung der besetzten Länder und die Enteignung der Juden. Alys Kernaussage, dass die Mehrheit der Deutschen die Nazis unterstützte, weil sie von deren Verbrechen profitierte, sorgte bei Erscheinen des Buches für heftige Diskussionen.

Rafael Seligmann: Der Musterjude
(Roman)
dtv, 9.90 Euro

Der Roman schildert mit einer guten Portion Sarkasmus die Karriere eines jüdischen Jeansladenbesitzers, der eines Tages seine Berufung zum Journalisten entdeckt und einen kometenhaften Aufstieg zum Vorzeigejuden des Boulevardjournalismus hinlegt. Was andere aus Gründen der political correctness nicht sagen dürfen – der "Musterjude" Moische Bernstein darf es. Als Starautor verbrät er Banalitäten, würzt sie mit Polemik und einer Prise Stammtischparolen und entwickelt sich zum Sprachrohr des "gesunden deutschen Volksempfindens". Sein Erfolg wird immer absurder, doch der Absturz naht… - Eine unterhaltsam geschriebene Gesellschaftssatire, die die Absurditäten der Medienwelt und einer übertriebenen political correctnes darstellt.

Christian Zentner: Adolf Hitlers Mein Kampf
Eine kommentierte Auswahl
List Verlag, 16.90 Euro

In der Nazizeit war Hitlers Schrift "Mein Kampf" ein Bestseller. Doch nach dem Krieg wollte niemand das Buch je gelesen haben. Was erstaunlich ist, legte der Autor doch hier bereits Mitte der 20er Jahre in verblüffender Offenheit seine Ziele dar: Beseitigung der Juden, Zerschlagung der Demokratie, Krieg gegen Frankreich und Eroberung neuen Lebensraums im Osten. Seit 1945 darf "Mein Kampf" in Deutschland nicht mehr aufgelegt werden, der antiquarische Erwerb des Buchs ist jedoch erlaubt. Die Auswahl von Christian Zentner enthält (lediglich) exemplarische Textbeispiele aus "Mein Kampf", kommentiert und in den Zusammenhang gesetzt, eine Art "worst of". Das Buch ist geeignet, einen ersten Eindruck von Hitlers Schrift zu vermitteln.

Adolf Hitler – Mein Kampf
Eine Lesung von Helmut Qualtinger
2 CD’s
Preiserrecords
Preis: zwischen 15.99 und 33.90 €

Mitschnitt einer Lesung des Schauspielers Helmut Qualtinger im Hamburger Thalia Theater aus dem Jahr 1973. Enthalten sind Schlüsselstellen aus "Mein Kampf" in einer Mischung aus Bösem und Banalem. Durch Qualtingers Vortragsart wird dem Hörer die mitunter makabre Komik deutlich, und zugleich bleibt ihm das Lachen im Halse stecken.


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