"Die NATO ist weiterhin eine wichtige sicherheitspolitische Klammer"
Omid Nouripour im Gespräch mit Jörg Degenhardt · 15.11.2010
Deutschland müsse auch zukünftig die Nation in Europa sein, die sowohl nach Washington als auch nach Moskau schaue, sagt der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour mit Blick auf den NATO-Gipfel in Lissabon am 19. und 20. November. Er fordert eine schnelle Einbindung Russlands in die Strukturen der NATO.
Jörg Degenhardt: Die NATO, das Nordatlantische Bündnis, will oder besser muss sich wieder einmal neu erfinden. Beim Treffen in Lissabon Ende der Woche soll festgelegt werden, wohin die Reise geht. Klar ist, die Allianz will gewappnet sein gegen neue Bedrohungen, wie beispielsweise Angriffe auf Computernetze. Sie will das gesamte Bündnisgebiet durch eine Raketenabwehr schützen, und viele NATO-Regierungen hoffen nach der Georgienkrise auf eine neue Ära in den Beziehungen zu Moskau. Omid Nouripour ist verteidigungspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, und er gehört zur deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der NATO, die noch bis morgen in Warschau tagt und dabei schon mal einige Streitfragen vorab diskutiert. Guten Morgen, Herr Nouripour!
Omid Nouripour: Schönen guten Morgen, Herr Degenhardt!
Degenhardt: Können Sie uns kurz Ihre NATO der Zukunft beschreiben, oder brauchen wir das Bündnis in dieser Form gar nicht mehr?
Nouripour: Die NATO ist weiterhin eine wichtige sicherheitspolitische Klammer, wenn es darum geht, dass die Amerikaner und der Europäer zusammenarbeiten. Das Wichtige ist, dass die NATO zwei Dinge begreift: Erstens, sie hat nur eine Zukunft, wenn sie Sicherheit kollektiv herstellt, auch mit anderen Akteuren, und nicht gegen die anderen, und zweitens, wenn sie versteht, dass sie Kernaufgaben hat, die sie nicht überdehnen darf. Die NATO begibt sich gerade in eine neue Gesamtstrategie, weil sie eine Legitimitätskrise hat, weil sie beschreiben muss, warum sie da ist. Deshalb ist es umso wichtiger, dass sie nicht versucht, hier zu erklären, dass sie für alles zuständig ist – für Klimawandel bis organisierte Kriminalität –, sondern sagt, das sind die eingegrenzten Bereiche, das können wir und mehr geht nicht.
Degenhardt: Was sind denn die Kernaufgaben?
Nouripour: Na ja, das eine ist natürlich Sicherheit herstellen im transatlantischen Raum, nämlich sozusagen von den USA und Kanada auf der einen Seite bis eben zu Europa auf der anderen Seite, und das Zweite ist, dass unter dem Dach der Vereinten Nationen es natürlich so ist – mittlerweile ist es Realität –, dass Aufgaben auch wahrgenommen werden, die eben zu mehr Sicherheit führen. Aber das sind in erster Linie konventionelle Aufgaben, wenn ich das so nennen darf. Wenn die NATO jetzt erklärte, sie will die Sicherheit im gesamten Internet jetzt sozusagen für sich beanspruchen als Aufgabe und eine Glocke, eine Sicherheitsglocke schaffen für alles, dann ist das etwas, was vielen Menschen Angst macht – und ich kann es verstehen.
Degenhardt: Herr Nouripour, Sie haben bei anderer Gelegenheit gesagt, Russland sei die größte Herausforderung der NATO, wie kommen Sie darauf?
Nouripour: Russland ist eben die wichtigste Herausforderung für die Legitimität. Die NATO ist natürlich auch immer ein Gegenstück gewesen zum Warschauer Pakt, also zur Sowjetunion, und in dem Augenblick, in dem der Warschauer Pakt nicht mehr da ist, muss die NATO erklären, warum sie da ist, Russland ist aber weiterhin da. Und wir hatten natürlich den Georgienkrieg, der die Welt erschüttert hat – das muss man, glaube ich, so sagen. Deshalb ist die Frage: Wie kann man Russland einbinden in einer Situation, in der nach meinem Verständnis es in Russland immer noch, 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, es so ist, dass es große Verletzungsgefühle gibt? Die Russen fühlen sich – ob es stimmt oder nicht, sei jetzt dahingestellt – fühlen sich weiterhin jetzt von den Verhandlungen nach dem Ende des Kalten Krieges über den Tisch gezogen, und deshalb sind sie extrem misstrauisch, was die NATO betrifft ...
Degenhardt: Zum Beispiel auch die Raketenabwehr, um gleich ganz konkrete Ängste anzusprechen.
Nouripour: Richtig. Wobei das Raketenabwehrsystem tatsächlich extrem falsch eingetütet worden ist von der Bush-Administration. Sie haben ja nicht nur Russland düpiert, sie haben ja auch die ganze NATO düpiert, indem sie einfach bilaterale Verträge mit zwei, drei Ländern geführt haben, die dazu hätten führen sollen, dass es ein Raketenabwehrsystem gibt fast für ganz Europa, aber nur die Esten, die Dänen und die Tschechen wären eingebunden gewesen. Das geht so nicht. Und dass die Russen an der Stelle natürlich ein Stoppzeichen setzen wollten, das kann ich verstehen. Aber das Wichtigste ist, dass wir den Russen das Gefühl geben, dass wir die Sicherheit auf diesem Kontinent mit ihnen erstellen wollen.
Degenhardt: Wäre es denn nicht das Einfachste, die Russen würden gleich Mitglied der NATO? Da gibt es ja auch Stimmen, die genau das vorschlagen.
Nouripour: Es ist richtig – wie gesagt, es hängt davon ab, wie die Psychologie in Moskau gerade funktioniert. Es gibt auch sehr viele in Moskau, die der Meinung sind, dass das ein Problem sei, Mitglied in der NATO zu werden, weil man ja dann erst recht untergebuttert werden würde. Also die Frage ist, wie man eine solche Mitgliedschaft tatsächlich hier nach Moskau herantragen kann. Aber was man auf keinen Fall vergessen darf, ist, die Russen oder viele in Russland denken immer noch in Einflusssphären, und deshalb ist ja die Verletzung da, dass man sagt, viele osteuropäische Staaten sind eigentlich unsere Einflusssphäre und nicht die der NATO. Wir müssen dieses Denken natürlich zurückweisen. Wir reden über souveräne Staaten. Es darf keine Einflusssphären geben in der Form, sondern wenn die Ukraine sich im Parlament mehrheitlich entscheidet, in die NATO beizutreten, dann muss zwar die NATO dann entscheiden, ob wir die wollen oder nicht, aber das ist keine Frage, die in Moskau entschieden wird, sondern in Kiew.
Degenhardt: Schröder und Putin waren und sind enge Freunde – schauen wir in die Zukunft und auf die speziellen Beziehungen zwischen EU, NATO und Russland: Könnte Deutschland dabei vielleicht eine besondere oder sogar eine Vermittlerrolle spielen?
Nouripour: Ja, diese Geschäftsfreundschaft, die ist ein wenig suspekt, deshalb glaube ich nicht, dass sie die Grundlage ist tatsächlich für eine Zusammenarbeit. Natürlich müssen wir die große Nation in Europa sein, die weiterhin versucht, sowohl über den Teich nach Washington als auch natürlich nach Moskau zu schauen und zu sagen, wie man hier auch Ausgleiche erzielen kann. Das ist natürlich unsere Aufgabe. Deshalb ist es ja umso befremdlicher, wenn die Bundeskanzlerin dann einfach öffentlich erklärt, sie warne davor, dass das eine zu schnelle Annäherung gäbe der NATO nach Russland. Wir wollen, wir müssen wollen, dass die Russen so schnell wie möglich tatsächlich auch in NATO-Strukturen eingebunden werden. Deshalb ist es ja im Übrigen so unglaublich wichtig, dass dieser Rat jetzt stattfindet in Lissabon beim NATO-Gipfel, der Russland-NATO-Rat, weil das die zentrale Baustelle sein muss, wo man tatsächlich auch Krisen miteinander ausficht. Ich erinnere daran, dass beim Georgienkrieg genau dieser Rat ausgesetzt worden ist, genau das wichtigste Instrument, um Konflikte zu lösen, und das darf nie wieder passieren.
Degenhardt: Omid Nouripour, verteidigungspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, zum künftigen Kurs der NATO. Auf dem Gipfel in Lissabon muss sich das Bündnis einen neuen Fahrplan geben. Vielen Dank, Herr Nouripour!
Nouripour: Danke Ihnen!
Links bei dradio.de:
"Also, der Mann scheint entschlossen zu sein"
Wolfgang Ischinger zur Außenpolitik von Russlands Präsident Medwedew (DLF)
Omid Nouripour: Schönen guten Morgen, Herr Degenhardt!
Degenhardt: Können Sie uns kurz Ihre NATO der Zukunft beschreiben, oder brauchen wir das Bündnis in dieser Form gar nicht mehr?
Nouripour: Die NATO ist weiterhin eine wichtige sicherheitspolitische Klammer, wenn es darum geht, dass die Amerikaner und der Europäer zusammenarbeiten. Das Wichtige ist, dass die NATO zwei Dinge begreift: Erstens, sie hat nur eine Zukunft, wenn sie Sicherheit kollektiv herstellt, auch mit anderen Akteuren, und nicht gegen die anderen, und zweitens, wenn sie versteht, dass sie Kernaufgaben hat, die sie nicht überdehnen darf. Die NATO begibt sich gerade in eine neue Gesamtstrategie, weil sie eine Legitimitätskrise hat, weil sie beschreiben muss, warum sie da ist. Deshalb ist es umso wichtiger, dass sie nicht versucht, hier zu erklären, dass sie für alles zuständig ist – für Klimawandel bis organisierte Kriminalität –, sondern sagt, das sind die eingegrenzten Bereiche, das können wir und mehr geht nicht.
Degenhardt: Was sind denn die Kernaufgaben?
Nouripour: Na ja, das eine ist natürlich Sicherheit herstellen im transatlantischen Raum, nämlich sozusagen von den USA und Kanada auf der einen Seite bis eben zu Europa auf der anderen Seite, und das Zweite ist, dass unter dem Dach der Vereinten Nationen es natürlich so ist – mittlerweile ist es Realität –, dass Aufgaben auch wahrgenommen werden, die eben zu mehr Sicherheit führen. Aber das sind in erster Linie konventionelle Aufgaben, wenn ich das so nennen darf. Wenn die NATO jetzt erklärte, sie will die Sicherheit im gesamten Internet jetzt sozusagen für sich beanspruchen als Aufgabe und eine Glocke, eine Sicherheitsglocke schaffen für alles, dann ist das etwas, was vielen Menschen Angst macht – und ich kann es verstehen.
Degenhardt: Herr Nouripour, Sie haben bei anderer Gelegenheit gesagt, Russland sei die größte Herausforderung der NATO, wie kommen Sie darauf?
Nouripour: Russland ist eben die wichtigste Herausforderung für die Legitimität. Die NATO ist natürlich auch immer ein Gegenstück gewesen zum Warschauer Pakt, also zur Sowjetunion, und in dem Augenblick, in dem der Warschauer Pakt nicht mehr da ist, muss die NATO erklären, warum sie da ist, Russland ist aber weiterhin da. Und wir hatten natürlich den Georgienkrieg, der die Welt erschüttert hat – das muss man, glaube ich, so sagen. Deshalb ist die Frage: Wie kann man Russland einbinden in einer Situation, in der nach meinem Verständnis es in Russland immer noch, 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, es so ist, dass es große Verletzungsgefühle gibt? Die Russen fühlen sich – ob es stimmt oder nicht, sei jetzt dahingestellt – fühlen sich weiterhin jetzt von den Verhandlungen nach dem Ende des Kalten Krieges über den Tisch gezogen, und deshalb sind sie extrem misstrauisch, was die NATO betrifft ...
Degenhardt: Zum Beispiel auch die Raketenabwehr, um gleich ganz konkrete Ängste anzusprechen.
Nouripour: Richtig. Wobei das Raketenabwehrsystem tatsächlich extrem falsch eingetütet worden ist von der Bush-Administration. Sie haben ja nicht nur Russland düpiert, sie haben ja auch die ganze NATO düpiert, indem sie einfach bilaterale Verträge mit zwei, drei Ländern geführt haben, die dazu hätten führen sollen, dass es ein Raketenabwehrsystem gibt fast für ganz Europa, aber nur die Esten, die Dänen und die Tschechen wären eingebunden gewesen. Das geht so nicht. Und dass die Russen an der Stelle natürlich ein Stoppzeichen setzen wollten, das kann ich verstehen. Aber das Wichtigste ist, dass wir den Russen das Gefühl geben, dass wir die Sicherheit auf diesem Kontinent mit ihnen erstellen wollen.
Degenhardt: Wäre es denn nicht das Einfachste, die Russen würden gleich Mitglied der NATO? Da gibt es ja auch Stimmen, die genau das vorschlagen.
Nouripour: Es ist richtig – wie gesagt, es hängt davon ab, wie die Psychologie in Moskau gerade funktioniert. Es gibt auch sehr viele in Moskau, die der Meinung sind, dass das ein Problem sei, Mitglied in der NATO zu werden, weil man ja dann erst recht untergebuttert werden würde. Also die Frage ist, wie man eine solche Mitgliedschaft tatsächlich hier nach Moskau herantragen kann. Aber was man auf keinen Fall vergessen darf, ist, die Russen oder viele in Russland denken immer noch in Einflusssphären, und deshalb ist ja die Verletzung da, dass man sagt, viele osteuropäische Staaten sind eigentlich unsere Einflusssphäre und nicht die der NATO. Wir müssen dieses Denken natürlich zurückweisen. Wir reden über souveräne Staaten. Es darf keine Einflusssphären geben in der Form, sondern wenn die Ukraine sich im Parlament mehrheitlich entscheidet, in die NATO beizutreten, dann muss zwar die NATO dann entscheiden, ob wir die wollen oder nicht, aber das ist keine Frage, die in Moskau entschieden wird, sondern in Kiew.
Degenhardt: Schröder und Putin waren und sind enge Freunde – schauen wir in die Zukunft und auf die speziellen Beziehungen zwischen EU, NATO und Russland: Könnte Deutschland dabei vielleicht eine besondere oder sogar eine Vermittlerrolle spielen?
Nouripour: Ja, diese Geschäftsfreundschaft, die ist ein wenig suspekt, deshalb glaube ich nicht, dass sie die Grundlage ist tatsächlich für eine Zusammenarbeit. Natürlich müssen wir die große Nation in Europa sein, die weiterhin versucht, sowohl über den Teich nach Washington als auch natürlich nach Moskau zu schauen und zu sagen, wie man hier auch Ausgleiche erzielen kann. Das ist natürlich unsere Aufgabe. Deshalb ist es ja umso befremdlicher, wenn die Bundeskanzlerin dann einfach öffentlich erklärt, sie warne davor, dass das eine zu schnelle Annäherung gäbe der NATO nach Russland. Wir wollen, wir müssen wollen, dass die Russen so schnell wie möglich tatsächlich auch in NATO-Strukturen eingebunden werden. Deshalb ist es ja im Übrigen so unglaublich wichtig, dass dieser Rat jetzt stattfindet in Lissabon beim NATO-Gipfel, der Russland-NATO-Rat, weil das die zentrale Baustelle sein muss, wo man tatsächlich auch Krisen miteinander ausficht. Ich erinnere daran, dass beim Georgienkrieg genau dieser Rat ausgesetzt worden ist, genau das wichtigste Instrument, um Konflikte zu lösen, und das darf nie wieder passieren.
Degenhardt: Omid Nouripour, verteidigungspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, zum künftigen Kurs der NATO. Auf dem Gipfel in Lissabon muss sich das Bündnis einen neuen Fahrplan geben. Vielen Dank, Herr Nouripour!
Nouripour: Danke Ihnen!
Links bei dradio.de:
"Also, der Mann scheint entschlossen zu sein"
Wolfgang Ischinger zur Außenpolitik von Russlands Präsident Medwedew (DLF)

Die NATO befinde sich derzeit in einer Legitimitätskrise, sagt Omid Nouripour (Bündnis90/Die Grünen)© nouripour.de