Anar Ali: "Nacht der Bestimmung"
© CulturBooks Verlag
Auf der Suche nach dem Glück
06:18 Minuten

Anar Ali
Übersetzt von Jan Carsten
Nacht der BestimmungCulturebooks, Hamburg 2021248 Seiten
22,00 Euro
Eine muslimisch-indische Familie, die aus Uganda ausgewiesen wurde, sucht ihr Glück in Kanada. Im Gepäck: generationenübergreifende Erwartungen. In der "Nacht der Bestimmung", der heiligsten Nacht des Jahres, holt sie ein Trauma ein
Calgary, im Winter 2000. Die Stadt ist von eisiger Kälte heimgesucht. Doch das hält Layla Visram nicht davon ab, in den Abendstunden des 21. Januar das Gebetshaus aufzusuchen: Es ist die „Nacht der Bestimmung“, die für alle gläubigen Muslime die heiligste Nacht des Jahres darstellt. Wünsche, die in dieser Nacht ausgesprochen werden, gehen in Erfüllung; das Leben aller wird, so heißt es in den Schriften, in dieser Nacht in entscheidende Bahnen gelenkt.
Dass ihr Mann Mansoor nicht mitgekommen ist, weil er von Religion nichts hält, bekümmert sie ebenso wie die Tatsache, dass ihr Sohn Ashif zwar soeben für ein paar Tage zu Besuch gekommen ist, aber nicht wirklich Zeit für sie hat. Und am Ende dieser Nacht wird Mansoor in einem Feld am Rande der Stadt aufgefunden, erfroren und schon halb tot.
Aus Uganda ausgewiesen
Mit dieser Szene beginnt Anar Alis Roman, der in der ismailitischen Immigrantengemeinde Calgarys spielt. Mitte der 1970er-Jahre fanden Mansoor, seine Frau Layla und der damals zweijährige Ashif eine neue Heimat in der Calgary. Wie Tausende andere Asiaten waren sie 1972 aus ihrer Heimat Uganda vom damals neu ins Amt berufenen Präsidenten Idi Amin ausgewiesen worden.
Layla war mit ihrem nur wenige Monate alten Sohn zuerst ausgereist; ihr Mann Mansoor blieb vorerst, um das gewaltige Vermögen zu retten, das sein eigener Vater, ein Selfmade-Man aus Indien, einst mit bloßen Händen aus dem Nichts in Uganda errichtet hatte.
Häusliche Gewalt
Ali beleuchtet diese Vorgeschichte der Familie vor allem im ersten Teil des Romans, in geschickt gesetzten Rückblenden: Sie bildet den Ausgangspunkt, um das Trauma zu verstehen, das in der Nacht der Bestimmung alle drei Familienmitglieder einholen wird. Denn nichts Geringeres verhandelt der Roman, indem er von den Bürden der Suche nach dem Immigrantenglück erzählt und davon, mit welchen generationenübergreifenden Erwartungen und Konsequenzen diese Suche einhergeht.
Mansoor steht Zeit seines Lebens im Schatten des väterlichen Erfolgs – und gibt diesen Druck nicht zuletzt an den eigenen Sohn weiter. Ashif wiederum – der noch als erfolgreicher Manager nicht weiß, wer er, ein „afrikanischer Muslim“, eigentlich wirklich ist – fühlt sich seit Kindertagen verantwortlich für seine Mutter: Sie ist seit langem das Objekt häuslicher Gewalt, da Mansoor – selbst mit einem gewalttätigen Vater aufgewachsen – das eigene Gefühl des Versagens an ihr auslässt.
Ein eindringlicher Roman
Wer die inneren Verwerfungen der ersten und zweiten Immigrantengeneration kennt, kann nur bewundern, wie genau Anar Ali die komplexe zwischenmenschliche Dynamik solcher Familien einfängt: die Väter zerrieben von Verantwortung, die Söhne von widerstreitenden Loyalitäten. Und die Frauen? Vergegenwärtigen, zumindest in diesem Roman, immer klarer die eigene Rolle – und können eben deshalb am Ende vergeben.
Anar Ali, die selbst in den 1970er-Jahren als Kind mit ihren Eltern aus Kenia nach Kanada emigrierte, erzählt von diesen Dynamiken so intensiv wie poetisch. Jan Karsten wiederum hat diesen eindringlichen Roman über das Gewicht der Geschichte in ein leuchtendes Deutsch übertragen.