Die Mythen der Märchen

Von Anke Petermann · 20.12.2012
Jacob und Wilhelm Grimm lebten in Kassel, als sie die Märchen sammelten. Darum trafen sich hier Forscher zum einem Kongress, um mit einigen Mythen aufzuräumen: Die Grimms ließen sich die Geschichten nicht vom Volk, sondern von gut situierten Bürgerstöchtern im eigenen Salon erzählen.
Aschenputtel, Schneewittchen, Rotkäppchen - die Grimmschen Märchen sind selbst ein Mythos. Die wissenschaftliche Enttarnung hat längst begonnen, der Grimm-Kongress setzte sie fort. Jacob und Wilhelm Grimm suchten altdeutsche Ursprünglichkeit in mündlich überlieferten Geschichten, bedienten sich jedoch für ihre Märchensammlung massiv bei französischen Quellen. Professor Holger Ehrhardt leitet das Fachgebiet "Werk und Wirkung der Brüder Grimm" an der Gastgeber-Uni Kassel:

"Die Brüder Grimm haben, als sie für den ersten Band gesammelt haben, geglaubt, dass sie mit den Märchen den urdeutschen Mythos bewahren können, dass die Märchen eine Form sind, in der sich alte deutsche Mythen gespeichert hatten. Aber diese Märchen, das hat sich sehr schnell herausgestellt, waren nicht auf das Deutsche zu beschränken. Sie haben europäische, asiatische Wurzeln teilweise, und das war den Brüdern Grimm auch sehr schnell bewusst geworden. Und so haben sie in der zweiten Auflage noch sehr schnell versucht, die französischen Elemente etwas zu eliminieren, aber insgesamt ist ihnen das nicht gelungen, weil man Mythen natürlich nicht national fassen kann."

Der Kongress thematisierte weitere Widersprüche: Die Grimms stellten sich als Feldforscher dar. Aber um die mündliche Überlieferung einzufangen, streiften sie nicht durchs Land, sondern ließen sich Geschichten im eigenen Salon erzählen. Und zwar vor allem von gut situierten Bürgerstöchtern, nicht von einfachen Leuten. Zunehmend feilte vor allem Wilhelm die Märchen literarisch aus, der vermeintliche Volkston - in Wahrheit das Ergebnis dichterischer Schöpfung. Nach dem marketingtaktischen Motto, so der Frankfurter Germanistik-Professor Hans-Heino Ewers:

"'Bei uns bekommt ihr die wahren Märchen!' Wir sind im frühen 19. Jahrhundert, Deutschland ist besetzt, die napoleonischen Kriege, und dann hat man natürlich gesagt, einen Moment, das hängt auch mit der nationalen Bewegung zusammen, und dann fängt man an zu verbergen, dass das alles französisches Erzählgut ist, das muss dann deutsch werden. Und diese Literaturstrategien hat man sehr lange Zeit wirklich ernst genommen."

Dabei, so der international renommierte Wuppertaler Grimm-Forscher Heinz Rölleke, war dem philologischen Puristen Jacob Grimm schon früh aufgefallen, dass es sein jüngerer Bruder mit der unverfälschten Tradition in Bezug auf die Märchen nicht so genau nahm:

"Jacob hat Wilhelm ständig kritisiert, er dichte zu viel darin herum. Jacob wollte die Texte so schlicht und schlecht, muss ich mal sagen, wie sie waren, veröffentlichen, und Wilhelm hat gespürt, nein, das geht so nicht, und musste erst mal das schmutzige Aschenputtel ein bisschen säubern und kämmen, und dann hat er sie in die Ausgabe gebracht. Und das führte zu Divergenzen: Je mehr Wilhelm daran machte, desto grantiger wurde Jacob."

Nach Wilhelms Tod schimpfte er über die Bearbeitungswut des jüngeren Bruders, hätte am liebsten noch einmal eine historisch-kritische Neuausgabe der Märchen angepackt, doch daraus wurde nichts. "Pietätlos" nennt Professor Rölleke die posthume Bruderschelte. Und wie respektlos verfährt die aktuelle Forschung mit den Grimms? "Sehr schonend" demontiere sie die Mythen, die teilweise die Grimms selbst mit kreiert hätten, versichert Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt:

"Sie müssen sich das so vorstellen, dass wir gewissermaßen die Wertschätzung jetzt anders begründen. Wir versuchen, klar zu machen, dass die Grimms ein Teil der romantischen Bewegung sind, ein Teil der romantischen Literatur und dass die Kinder- und Hausmärchen nicht etwas anderes sind als die großen anderen Literaturwerke der Romantik, sondern dass sie dazugehören, als Teil der deutschen Literatur."

Die Grimmschen Erzählungen - also keine Volks-, sondern Kunstmärchen, die Brüder keine reinen Sammler mit philologisch-pädagogischen Absichten, sondern selbst Dichter, vor allem Wilhelm Grimm. Für den Laien ist das gewöhnungsbedürftig, denn im kollektiven Gedächtnis sind die Grimms nicht als Dichter gespeichert, sondern festgelegt auf die Rolle der Archäologen verschütteter volkstümlicher Poesie. Deshalb muss einer, der dieses Bild infrage stellt, erst mal versichern, er wolle die beiden nicht herabsetzen. Hans-Heino Ewers jedenfalls stellt klar:

"Das ist keine Abwertung der Grimms, sondern nur eine neue Sicht auf die Grimms, die meines Erachtens dazu beiträgt, dass wir bestimmte Traditionen der deutschen Literatur wieder mit entdecken und uns nicht nur auf vermeintliche Volksmärchen konzentrieren."

Der viertägige Kasseler Kongress bestärkte die neue Sicht. Er ist Auftakt zum Grimm-Jahr 2013 mit Festspielen, Lesungen, Ausstellungen. An den hessischen Lebensstationen der Brüder Hanau, Steinau an der Straße, Marburg und Kassel muss sich der Besucher außerdem darauf einstellen, Schneewittchenteller in vielen Restaurants, Froschkönig-Brunnen auf vielen Plätzen und Rotkäppchen in lokalen Trachten präsentiert zu bekommen. Grimm avanciert zur Marke und damit auch zum Gegenstand für Marketingforschung. Aber auch für Germanisten bleibt zu tun.

Noch nicht gelüftet ist zum Beispiel das Geheimnis der sprachlichen Magie, des romantischen Märchentons. Erst damit hat Wilhelm Grimm schon bekannte internationale Stoffe so unverwechselbar und vermeintlich urdeutsch gemacht. Der Wuppertaler Germanistik- Professor Heinz Rölleke nennt den Anfang vom Sterntaler-Märchen als Beispiel:

"'Es war einmal ein armes Mädchen, dem waren Vater und Mutter gestorben.' So spricht heute keiner, so hat auch damals keiner gesprochen. Aber so spricht Grimm. Und da ist ja ein Kind sofort Feuer und Flamme. Wenn sie dem am nächsten Abend sagen 'Es war einmal ein armes Mädchen, dessen Eltern waren gestorben ...', ist der ganze Zauber weg, aber 'dem waren Vater und Mutter gestorben', da fühlt sich das Kind sofort inbegriffen, 'das könnte mir auch passieren', und schon ist die Verbindung da. Oder diese Verdoppelungen von Grimm 'Ich rieche, rieche Menschenfleisch' oder 'er setzte sich an die See und angelte und angelte', das ist ja inhaltlich überhaupt nichts Neues. Das ist nur die Tonart, und die ist faszinierend. Das muss systematisch mal erforscht werden, da sind unser Linguisten gefragt, unsere Stilkenner, die haben da noch keine Zeile drüber geschrieben, nicht."

Und wenn sie nicht gestorben sind, die Linguisten, Stilforscher, Psychologen und Historiker, dann forschen sie noch lange zu Grimms Märchen.

Links bei dradio.de:

Wie im Märchen - "Grimm-Tag" im Deutschlandradio Kultur

Begründer "mehrerer akademischer Disziplinen" - Grimm-Forscher über die historische Bedeutung der berühmten Märchen-Brüder

Link zum Thema:

Grimm-Jahr 2013 - Veranstaltungen und Ausstellungen
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