Die Mutter war die Muse

Von Johannes Halder |
Muttersöhnchen, Stubenhocker: Der französische Maler Édouard Vuillard (1868-1940) steht bis heute im Schatten seiner Weggefährten und war als Mitglied der Künstlergruppe "Nabis" doch von einigem Einfluss auf die Moderne. In Deutschland selten gezeigt, ist sein Werk in Karlsruhe wieder zu entdecken. Die dortige Kunsthalle zeigt 120 seiner Gemälde, Pastelle, Aquarelle, Zeichnungen und Lithographien.
Ein Mädchen liegt im Bett, die Knie angewinkelt, die Laken hochgezogen bis zum Kinn. Man weiß nicht, ob es sich zum Schlafen, Träumen oder Sterben hingelegt hat; die Farben sind fahl, das ganze Bild wirkt mönchisch und morbid, rätselhaft und still.

"Im Bett" heißt die Szene, in der zwischen den aufgetürmten Kissen nichts passiert als ein lapidares Spiel von Flächen und Linien. 1891 hat Édouard Vuillard das Bild gemalt, es hängt gleich am Anfang der Schau, und man versteht auf einen Blick, warum Vuillard in der Wertschätzung des Publikums bis heute zurückgeblieben ist. Während seine Vorgänger die Leichtigkeit des Lebens feiern und ihre Leinwände mit Licht und Farbe fluten, verfolgt Vuillard ein anderes Programm, sagt Kurator Holger Jacob-Friesen, nämlich die Überwindung des Impressionismus.

"Es geht darum, die Realität des Bildes wahrzunehmen, und zwar zunächst einmal – das klingt banal, ist aber ganz wichtig für die Moderne – die Erkenntnis, dass ein Bild eine Fläche ist, zweidimensional, und dass ein Bild die Zweidimensionalität dieses Bildträgers nicht ignorieren sollte."

Keine Illusion also, weder durch Plastizität noch durch Perspektive oder Farbe, stattdessen eine kühne Flächigkeit und extreme Reduktion, die den Raum geradezu erstickt. Das erstaunt bei einem Maler, dessen Spezialität vor allem Interieurs sind, die wechselnden Wohnungen in Paris, in denen er mit seiner Mutter lebte.

"Bis zum Tode seiner Mutter 1928 hat er mit ihr zusammengelebt, an verschiedenen Straßen in verschiedenen Quartieren. Es ist häufig das Schneideratelier der Mutter, und das geschäftige Treiben in dieser kleinen Schneiderei ist häufig auch auf seinen Bildern dargestellt. Vuillard hat einmal gesagt: ‚Ich habe selten etwas Großes geschaffen, wenn ich mein Zimmer verlassen habe.’"

In der Tat wirken die Bilder dieses Stubenhockers stets ein bisschen ungelüftet. Es sind Räume, in denen die betäubende Pracht der bürgerlichen Konvenienz regiert. Die Farben leuchten dunkel und schwer, ein juwelenhaftes Funkeln, gefasst in ein raffiniertes geometrisches Geflecht aus Stoffmustern und Tapeten, Teppichen und Accessoires. Dazwischen mischen sich die Menschen: stehend im Zimmer, sitzend auf dem Sofa, musizierend am Klavier. Im sinnlichen Zusammenspiel dekorativer Elemente zaubert Vuillard ein pulsierendes Gewebe aus Farben und Flächen, und dies mit durchaus radikalen Mitteln: er schneidet Figuren oder Köpfe an, wählt stürzende Perspektiven und wagt verstörend exzentrische Kompositionen – alles bemerkenswert modern, und dennoch wirkt seine Malerei mitunter, als sei sie in einen schönen Schlaf gefallen.

Neben derlei malerischen Kammerspielen erleben wir Vuillard auch als Pionier der Druckgrafik. In seiner japanisch inspirierten Serie "Landschaften und Innenräume" lässt er sich beim Lithographieren über die Schulter schauen: Zustandsdrucke, Skizzen, Vorzeichnungen setzen Maßstäbe für das Medium. Und überhaupt, Vuillard, der Zeichner. Eine Figur taucht aus einem ornamentalen Linienknäuel auf und versinkt wieder darin: seine Mutter, sein Lieblingsmotiv.

"Vuillard hat einmal in später Zeit gesagt: ‚Oui, c’est ma muse, ma maman.’ Also: meine Mutter, das ist meine Muse. Und entsprechend oft taucht sie in seinen Werken auf."

Die Mutter als Muse, das Atelier ein Hort der Häuslichkeit. Auch in seinem Spätwerk bedient Vuillard die bürgerliche Glückserwartung. Als gefragter Porträtist der Pariser Oberschicht treibt er ein melancholisches Spiel mit Zeit und Erinnerung, stets gebunden an die plüschige Behaglichkeit der mit Besitztümern vollgestopften Salons, die Vuillard, ein überzeugter Sozialist, durchaus mit Ironie zu schildern weiß.

Sein Herz hängt nicht an diesen Kreisen. Lieber verkehrt er mit Theaterleuten, für die er Programme entwirft, begeistert sich für die düsteren Dramen von Hauptmann oder Ibsen und ist Gast in den Literatenzirkeln um die "Revue blanche".

1908 zieht er um, wieder mit der Mutter, wirft Blicke aus dem Fenster auf den Platz Vintimille, an dem er die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens wohnt, inmitten der Bohème. Er beobachtet das lebhafte Treiben auf dem begrünten Rondell aus der Vogelschau, bannt die Atmosphäre in zarten Pastellen und verfolgt die Stimmung im Lauf der Tages- und Jahreszeiten: Frühlingsblüte, sommerliche Morgensonne, Herbstnebel, Schneefall. Vuillard ist ganz in seinem Element, wischt einzelne Baumkronen als vibrierende Grünschleier auf das Blatt, lässt leichthändig die Farben flirren und löst sich vom Motiv, oft hart am Rand der Abstraktion. Ein ganzes Kabinett die pure Augenlust.

Hier, in dem Quartier am Montparnasse, hat Vuillard sich sichtlich wohl gefühlt. Es ist, als wäre der Platz sein Wohnzimmer, aus dem ein Weg direkt in die Moderne führt.

Service: Die Ausstellung ist vom 18.10.2008 bis zum 25.1.2009 zu sehen.
Kunsthalle Karlsruhe