Die Musikerin Victoria Hanna

Fasziniert vom Klang alter Schriften

Von Luigi Lauer · 17.08.2018
Die israelische Künstlerin Victoria Hanna verbindet alte religiöse Texte mit elektronischer Musik. Ihre neue CD trägt als Titel ihren Namen. Ihre orthodoxe jüdische Familie, zu der auch Rabbis gehören, hat nie einen Auftritt von ihr besucht.
Die Menschen im Konzertsaal des jüdischen Museums in Berlin lauschten gespannt, aufmerksam und lautlos bis zum Ende eines jeden Liedes von Victoria Hanna. Die ist sichtlich begeistert von der Konzentriertheit des Publikums über die volle Konzertlänge. Selbstverständlich ist das bei ihren Auftritten nicht.
Orayta – das ist das aramäische Wort für Tora. Kabbalistischer Rap, aramäischer Hiphop – das sind die Schlagwörter, auf die man stößt, wenn man sich die Musik von Victoria Hanna zu erklären versucht. Denn alltäglich ist das gewiss nicht, was die Künstlerin aus Jerusalem macht, und genau das verlangt dem Publikum schon einiges ab. Bei ihr trifft das ganz Alte auf ganz Neues, historische Sprache auf elektronische Musik. Nun erstmals auch auf CD.
Victoria Hanna: "Die Texte auf diesem Album sind sehr alt. Ein Beispiel aus dem 'Hohelied' oder 'Lied der Lieder' aus dem Alten Testament: Der Text erzählt die Geschichte einer Frau, die mitten in der Nacht durch die Straßen Jerusalems läuft, auf der Suche nach ihrem Geliebten. Es ist wie ein Monolog: 'Ich schlafe, aber mein Herz ist wach. Die Stimme meines Geliebten klopft an: Öffne mir, meine Schwester, meine Geliebte, meine Perfekte. Mein Kopf ist voller Tau, und meine Locken sind voll mit Tropfen der Nacht.' Ich mache mit dem Text nun Folgendes: Ich dekonstruiere ihn. Jetzt fühlt man das Erwachen des Herzens durch den Klang! Wann immer man in den Klang einer Sprache eintaucht, findet man eine beeindruckende Verbindung zur Bedeutung. Das fasziniert mich."

Religiöse Botschaft steht nicht im Vordergrund

Victoria Hanna stammt aus einer orthodoxen jüdischen Familie. Religiöse Texte sind ihr seit der Kindheit vertraut:
"Ich bin umgeben von Leuten, die mit solchen Texten zu tun haben. Zwei meiner Brüder sind Rabbis, mein seliger Vater war auch einer. Wann immer ich einen Text sah, habe ich sie gebeten, ihn für mich zu sprechen. Ich nahm das auf und lernte den Text dann. Aber auch die Bedeutung ist hinreißend."
Am Anfang war der Klang. Erst über ihn gelangte Victoria Hanna zum Inhalt. Die religiöse Botschaft der Texte steht aber nicht im Vordergrund.
"Natürlich werden religiöse Menschen sie wiedererkennen. Ich sehe sie aber in erster Linie als sehr alte Literatur. Sie ist sehr poetisch. Es wäre schade, würde man sie nur als religiöse Texte oder als religiöse Lieder betrachten, denn dann übersieht man die Weisheit und die Schönheit. Diese Schönheit findet man in Sufi-Texten, in Sanskrit, in Hindu-Texten. Und es gibt keinen Grund, weshalb man die Schönheit dieser uralten Texte nicht befördern sollte."

Die Familie der Rebellin

Victoria Hanna ist ein Künstlerinnenname, der sich aus den Vornamen der beiden Großmütter zusammensetzt. Eine der beiden sei rebellisch gewesen, sagt sie, die andere eher duldsam. Passender hätte Victoria Hanna ihren Namen kaum wählen können. Die Rebellin in sich hat die Mittvierzigerin mühsam ausgraben müssen, nach viel zu langer Duldsamkeit. Erst jetzt, genau heute, erscheint ihr erstes, selbstbetiteltes Album:
"Tatsächlich musste ich mich in gewisser Weise befreien. Für eine jüdisch-orthodoxe Frau war es mir unmöglich, mich selber so auszudrücken, wie ich es heute mache, weil es sich nicht gehört. Sogar meine eigene Familie hat nie einen Auftritt von mir besucht. Ich habe viele, viele Jahre gebraucht, diese CD zu veröffentlichen. Manche der Lieder habe ich vor langer Zeit geschrieben. Ich habe mir selber Steine in den Weg gelegt, denn da war dieses kleine orthodoxe Kind in mir, das sagte: Du machst etwas, was du nicht darfst. Ich brauchte einige Zeit, dieses Kind zu erziehen, und ich rede bis heute mit ihm."

Der Rapper als Klangproduzent

Überraschend an der Musik von Victoria Hanna ist, dass sie hunderte Jahre alte Texte bearbeitet und sie mit aktueller elektronischer Musik verbindet. Zweifellos ein Novum – war das so auch geplant?
"Es war gar kein Plan dahinter, diese beiden miteinander zu verbinden. Es passierte auf ganz natürliche Weise. Ich liebe neue Klänge. Mich faszinieren moderne Sounds, all diese Maschinen, diese Beats, das gefällt mir. Wenn ich moderne Musik von Rappern höre, nehme ich sie vor allem als Klang wahr. Man kann die Sprache erfühlen. Es ist dem ähnlich, was ich mache, denn es hat auch mit Sprache zu tun, wenn auch nicht mit einer altertümlichen Sprache. Es ist ein Dialog zwischen zwei Genres. Rap ist die Kunst des Sprechens. Sprechen ist Klang, und darum ist ein guter Rapper auch ein guter Klangproduzent, nicht nur ein Geschichtenerzähler."
Victoria Hanna lotet die Grenzen von Stimme und Sprache aus, und so ist auch ihr Album in diese zwei Teile gegliedert. Sie modelliert die Sprache, um sie mit der Stimme neu zusammenzufügen. Anders als die Rabbis in der eigenen Familie haben externe Kräfte erkannt, dass sich junge Menschen durch Victoria Hannas Musik für alte religiöse Texte gewinnen lassen – und für den Glauben generell.
"Mich haben orthodoxe Rabbis kontaktiert. Nicht viele, aber doch einige. Sie wollten mich treffen, das war großartig. Sie haben mir Schriftstücke gezeigt von Baal Shem Tov, dem Gründer der chassidischen Bewegung im Judentum im 18. Jahrhundert, ein sehr frommer, mystischer Zweig. Diese Menschen haben sich auch spirituell mit Naturklängen beschäftigt. Die Texte waren sehr, sehr eng verbunden mit dem, wovon ich rede. All mein Wissen, auch das, was ich mache, entspringt der Erforschung von Klang in diesen Texten. Die Rabbis haben mich dazu ermutigt und sie unterrichten im Gegenzug ihre Schüler mit meinen Videoclips."

Orthodoxe Wiederentdeckung

Es ist diesen Rabbis zu verdanken, dass Victoria Hanna ohne Groll auf ihr Elternhaus zurückblickt. Obwohl sie als Frau im orthodoxen Judentum von vielem ausgeschlossen ist, hegt sie eine gewisse Bewunderung für diese Menschen.
"Die Menschen haben die Fähigkeit, mehrere Blickwinkel gleichzeitig zu verstehen. Deshalb habe ich in gewisser Weise Verständnis für diese orthodoxen Leute. Ich liebe meinen Vater, ich liebe die Rabbis und ich bewundere ihre Hingabe für etwas so Tiefschürfendes. Sie tun das jeden Tag, jeden Moment. Das ist beeindruckend."
Die Welt ist Klang, davon ist Victoria Hanna überzeugt. Sie will weder politisieren, noch missionieren. Sie will verstehen – und Klang sei immer schon zugegen gewesen.
"Klang verbindet die Zukunft mit der Vergangenheit. Klänge verbinden alle Religionen, alle Traditionen, alle Kulturen. Denn Klang ist der Ursprung unseres Seins."
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