"Die Musik muss atmen"

Von Sibylle Tamin |
In Marcel Prousts Fragebogen findet sich auf die Frage, was möchten Sie gerne können, vielfach die Antwort: Klavierspielen. Klavierspielen scheint Traum vieler Erwachsener zu sein. Was steckt hinter dieser Sehnsucht?
Die Erkundungen führen in die Schweiz, zur großen alten Pianistin Ilse von Alpenheim, die von ihrem Weg zum schönen Klang erzählt. Klavierspieler treten in der Literatur von Thomas Bernhard bis Leo Tolstoi auf. Und András Schiff, der weltberühmte ungarische Pianist spricht über sein Klavierspiel, das gleich aus mehreren Gründen existentiell für ihn ist. Am Klavierspielen sei nichts Bemerkenswertes, so Johann Sebastian Bach, man müsse nur die Tasten zur rechten Zeit treffen. Ob man damit dem Klavierspielen gerecht wird? András Schiff lacht und erzählt eine kleine Geschichte, die Béla Bartók gern zum Besten gegeben haben soll: Ein Pianist und ein Hausmeister sitzen am Klavier. Wenn jeder einen Ton spielt, gibt es keinen Unterschied. Doch schon beim zweiten Ton wird er gewaltig. Denn, spiele man zwei Töne hintereinander oder zusammen, spreche man schon von Relationen. Und die kann der Hausmeister nicht herstellen. Strawinsky behauptete zwar, man könne auch mit einem Regenschirm eine Taste anschlagen und es entstünde Musik. Doch das wären wohl erstickte Töne. András Schiff besteht darauf: "Die Musik muss atmen."

Aus urheberrechtlichen Gründen können wir diese Lange Nacht leider nicht zum Nachhören anbieten.


Auszug aus dem Manuskript:

In Marcel Prousts Fragebogen findet sich auf die Frage, was möchten Sie gerne können, vielfach die Antwort: Klavierspielen. Klavierspielen können scheint Traum vieler Erwachsener zu sein.

Warum Klavierspielen?
Was steckt hinter dieser Sehnsucht?

Die Erkundungen führen in die Schweiz, zur großen alten Pianistin Ilse von Alpenheim, die von ihrem Weg zum schönen Klang erzählt, lassen die Klavierspieler in der Literatur von Thomas Bernhard bis Leo Tolstoi auftreten und beginnen mit einem Gespräch mit András Schiff, dem weltberühmten ungarischen Pianisten.

Es ist Sonntagnachmittag und im großen Saal der Berliner Philharmonie spielt das Jugendorchester. Einige der Musiker haben erst nach der Pause ihren Auftritt und üben noch ein letztes Mal ihre Phrasen. Das klingt herein bis in den Solistenraum von András Schiff. Der Flügel steht offen, ein gelbes Sofa an der Wand und vor dem großen Fenster ein kleiner Tisch an dem das Gespräch stattfinden wird. András Schiff verschließt die Tür. In den vergangenen Stunden war sie immer wieder geöffnet worden von Menschen, die ihn spielen hörten und sehen wollten. Jetzt will er nicht unterbrochen werden.

Auch mit grauem Lockenhaar wirkt er Jungshaft fast, so ganz ohne Allüre. Etwas Sanftes geht von ihm aus – sanft, klar, bestimmt. Er setzt sich mir gegenüber, schweigt, wartet auf die erste Frage.

Ich habe einen Satz von Bach gefunden, der heißt "Am Klavierspielen ist nichts Bemerkenswertes. Man darf nur die Tasten zur richtigen Zeit treffen".

Schiff: "Ja, das sagt man gern, das muss man nicht wörtlich nehmen.
Bartok hat es wunderbar gesagt: wenn ein großer Pianist und ein Hausmeister am Klavier sitzen, und jeder spielt einen Ton, da gibt’s vielleicht nicht viel Unterschied, aber schon bei dem 2. Ton, da gibt’s enorme Unterschiede, weil: spielen Sie 2 Töne hintereinander oder zusammen, spricht man schon von Relationen. Und das kann der Hausmeister nicht. Das kann man nicht, auch wenn Strawinsky immer wieder zynisch meinte, man kann mit dem Regenschirm eine Taste anschlagen und das ist auch Musik. Das Klavier ist ein polyphones Instrument, wir spielen mehrere Stimmen gleichzeitig, das kann z.B. eine Klarinette oder ein Horn kaum Streicher können manchmal Akkorde spielen aber keiner von denen muss das ständig machen, was ein Klavier permanent macht: mehrstimmige Musik, polyphone Musik spielen."


Musiken:

W.A.Mozart, Klaviersonate, K 333

Franz Schubert, Sonate D 894

Franz Schubert, D 957, Wanderer an den Mond,
Peter Schreier, András Schiff

J.S. Bach, Das Wohltemperierte Klavier, András Schiff
Präludium Cis-Dur BWV 848, 1:05

Robert Schumann, Sonate Nr.3 f-moll op.4, 3.Satz

Ludwig van Beethoven, Sonate cis-moll op.27 Nr.2,
sog. Mondscheinsonate, András Schiff

Bela Bartok, out of doors, night’s music

Beethoven, Sonate op. 117, András Schiff

Robert Schumann Sonate Nr. 1 op. 11, András Schiff

W.A. Mozart, Sonate a-moll K 310
András Schiff

J.S.Bach, Italienisches Konzert, 3.Satz


Auszug aus dem Manuskript:

In einem Essay hatte Andras Schiff aus Carl Philip Emmanuel Bachs "Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen" zitiert: "Zur wahren Art das Klavier zu spielen, gehören die rechte Fingersetzung, die guten Manieren und der gute Vortrag". Der Fingersatz steht für C.Ph.E.Bach an erster Stelle, während die "Guten Manieren", also die Verzierungen nur zweitrangig sind. Aber: Lässt sich der Fingersatz überhaupt festschreiben? Ist er nicht etwas ganz Individuelles? Ändert er sich nicht immer wieder quasi von selbst?
Und hat nicht jeder Pianist seinen eigenen Fingersatz? Was sagt der Fingersatz über die Musik aus?

Lässt sich denn der Fingersatz festschreiben?

Schiff: "Früher dachte ich, dass das keine Rolle spielt. Und wenn Sie meine Noten sehen – ich schreibe nie Fingersätze rein, außer bei sehr extremen Stücken wie das zweite Klavierkonzert von Bartok oder bei Goldberg-Variationen, wo immer die Hände sich kreuzen und wenn man dort den Fingersatz nicht genau ausarbeitet, dann kommen immer Karambolagen. Aber sonst nicht. Ich hatte den Auftrag für Henle die Ausgabe für das Wohltemperierte Klavier zu machen. Zuerst wollte ich gar nicht, dann habe ich diese Aufgabe akzeptiert und habe viel nachgedacht und es war klar, dass diese Fingersätze in meinem Gedächtnis ganz fest sitzen und darum sage ich, die Finger, die Hände haben auch ihr Gedächtnis. Und wenn man denkt, wie spielt man ein Stück auswendig, das hat damit sehr viel zu tun. Es gibt ein Gedächtnis der Bewegungen. Das könnte man wahrscheinlich physiologisch gut erklären. Man erinnert sich an gewisse Bewegungen, die Finger, die Hände, was ist die Reihenfolge.
Es ist auch so, dass in der klassischen Musik kann ein Fingersatz sehr musikalisch sein, muss eigentlich immer musikalisch sein. Es kann der Phrasierung und der Artikulation helfen oder sie verhindern. Und deshalb muss man sich Gedanken machen. In meiner Erfahrung ist das so, dass ich mit der Zeit die Fingersätze nicht ändere. Die sitzen sehr tief und da muss schon was Wichtiges passieren, dass ich das ändere."

Ich habe gelesen, dass zur Zeit von Bach der Daumen nicht benutzt wurde. Kann man sich ein Spiel ohne Daumen vorstellen

Schiff: "Also der größte Lehrmeister ist wieder C.Ph.E. Bach. Also sein Buch über Musik, Versuche über die wahre Art Klavier zu spielen, und da schreibt er: Ja, mein seliger Vater hat erzählt, dass man in seiner Zeit da hat man den Daumen so gut wie nicht benutzt, aber besonders nicht für die, was wir heute schwarze Tasten nennen auf dem Flügel. Was wir die schwarzen Tasten nennen, das war damals nicht schwarz, manchmal war das umgekehrt, waren die weißen die schwarzen und die schwarzen, die weißen. Also die Halbtöne auf den Tasteninstrumenten, die liegen einfach so, dass sie schwer erreichbar sind mit dem Daumen. Wir sind alle unterschiedlich, aber die Daumen sind kürzer bei allen Menschen. Und deshalb haben Bach und seine Vorgänger auch so komponiert. Ich glaube, sie haben außer im Wohltemperierten Klavier von Bach auch nicht alle diese Tonarten benutzt, wo man sehr viele Halbtöne braucht. Also, das mußte man meiden, weil wenn man in Fis-Dur oder b-moll spielt, dann kommt man wirklich nicht aus, dann muss man die Daumen benutzen auch auf Halbtönen. Aber das war so gut wie die Ausnahme. Weil man schrieb für Kenner und Liebhaber, für Laien, Amateure, die nicht gern hatten, wenn man in fis-Dur oder es-moll komponiert hat. Also zwei Kreuze oder zwei Bs sind genug."


András Schiff, ungarischer Pianist und Dirigent, geboren 1953 in Budapest:
András Schiff, ungarischer Pianist und Dirigent

Auszug aus dem Manuskript:

In Ungarn tritt András Schiff nicht mehr auf.
Er hatte sich mit einem Leserbrief an die Washington Post eingemischt und den zunehmend öffentlichen Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus in seinem Land angeprangert, seit die rechtspopulistische Fidesz mit Viktor Orban an der Regierung ist.
Ein Sturm der Entrüstung ging daraufhin durch die ungarische Presse. András Schiff wurde in einem Artikel als "stinkendes Exkrement" beschimpft und bedauert, dass es 1919 nicht gelungen sei, alle Linken und Juden umzubringen. Anonym wurde Schiff gedroht, wenn er nach Ungarn käme, schlüge man ihm, dem Saujuden, die Hände ab. Aber weder in der EU gab es einen Aufschrei, noch in Ungarn selbst.
Bis auf den Dirigenten Adam Fischer schwiegen die ungarischen Musikerkollegen auf diese massiven Beschimpfungen und Gewaltandrohungen

Schiff: "Die Philosophen, die Literaten, die bilden schon eine Opposition. Aber wirklich, was meine Musikerkollegen betrifft - das ist ziemlich unglaublich, weil fast niemand sich meldet. Als ich diese Hetzkampagne gegen mich hatte, außer Adam und Eva Fischer, den Dirigenten, hat kein Musiker ein Wort gesagt. Das zeigt, was diese Leute über mich denken.
Vielleicht finden sie das gerecht. Weiß nicht."

Nun ist ja Ungarn Mitglied der EU, und wenn ich lese, dass ein Mitglied der Fidesz-Partei schreiben kann, 1919 seien nicht genügend Linke und Juden umgebracht worden, und dann gibt es keinen Aufschrei in der EU? Wie erklären Sie sich das?

Schiff: "Ich kann das nicht erklären. Ich glaube sehr an Europa. Ich glaube, die EU in Brüssel ist sehr heterogen, da sitzen auch sehr mutige Menschen im Europaparlament, aber das ist nicht die Mehrheit und dann sitzen sehr viele konservative Elemente dort, die sagen: Fidesz und Viktor Orban, die sind Freunde von uns, das ist eine christlich demokratische Partei, so etwas wie CDU und sie denken, sie müssten mit denen solidarisch sein. Ich glaube, dass Fidesz weder christlich noch demokratisch ist. Da sehe ich eine Erklärung, warum es nicht vehement verurteilt wird, was in Ungarn passiert.
Die Attacke von Linken und Grünen, und das wird gebremst von konservativen Kräften, die sehr viel zu sagen haben."


Ilse von Alpenheim, geboren 1927 in Innsbruck ist eine österreichisch-schweizerische Pianistin.:
Ilse von Alpenheim ist eine österreichisch-schweizerische Pianistin

Auszug aus dem Manuskript:

Ilse von Alpenheim: "Wie mein Mann gestorben ist, hab ich mir überlegt, wie lang will ich denn noch spielen. Ja, solang man gefragt wird, geht man. Ich wollte nur nicht den Moment erleben, dass man nicht mehr gefragt wird und das Gefühl hat, ich möchte aber so gern spielen. Und da ist mir ein Zufall zu Hilfe gekommen."
:
Mit achtzig hatte Ilse von Alpenheim sich dann doch noch einmal ans Klavier gesetzt und acht ihrer Lieblingsstücke eingespielt.
Sie hatte auf Drängen eines Freundes einige der Stücke ausgesucht, die sie ein Leben lang begleitet haben: Mozart, Haydn, Schubert, Schumann, Chopin und Brahms.


Ilse von Alpenheim "Ich hab ein bisschen gespielt und inzwischen hat er sich hier hereingeschlichen, hab ihn aber nicht gesehen und dann steht er plötzlich auf und sagt: ich will einfach noch eine Platte von dir. Sag ich, was, bist du verrückt, ich spiel ja nicht mehr. Sagt er, du kannst spielen was du willst, wir kommen mit der Technik hierher, du kannst auf deinem Flügel spielen. Sag ich, Peter, also ich habe meinen Abschied genommen, ich kann das nicht mehr. Und dann ging er zurück und hatte jede Woche angerufen, ob ich `s mir überlegt hab. Und nach zwei Monaten hab ich nachgegeben."

Ich hatte die Aufnahme gehört und wollte hinter das Geheimnis ihres Zaubers kommen. Wer ist es, der diesen Stücken einen solch feinen Klang verleiht.

Ilse von Alpenheim: "Ich wollte Schauspielerin werden. Und alle ham gesagt, du gehst doch in die Musik, was heißt denn Schauspielerin, bist du verrückt. Ich hab aber ziemlich lang daran festgehalten, nur, es hat sich dann so ergeben; ich bin weitergereicht worden."


Klavierspielen in der Literatur:

E.T.A.Hoffmann
Kreisleriana
Poetische Werke, Band 1,
Aufbau-Verlag, Berlin 1958

Die Lebensgeschichte des Kapellmeisters Johannes Kreisler in E.T.A. Hoffmanns "Fantasiestücke in Callots Manier" ist in Grundzügen die des Autors selbst. Hoffmann hatte, wie sein Kapellmeister, durch die napoleonischen Kriege seine Beamtenstellung verloren und war gezwungen, von seiner Kunst zu leben. Dem Wahnsinn verfallen, ist der Autor aber nicht. Den mussten nur die Figur des exzentrischen, genialischen Kapellmeisters erleiden.

Alle Uhren, selbst die trägsten, hatten schon acht geschlagen, die Lichter waren angezündet; der Flügel stand geöffnet, und des Hauswirts Tochter, die den kleinen Dienst bei dem Kreisler besorgte, hatte schon zweimal ihm verkündet, dass das Teewasser übermäßig koche. Endlich klopfte es an die Tür, und der treue Freund trat mit dem Bedächtigen herein. Ihnen folgten bald der Unzufriedene, der Joviale und der Gleichgültige. Der Klub war beisammen, und Kreisler schickte sich an, wie gewöhnlich, durch eine symphoniemäßige Phantasie alles in Ton und Takt zu richten, Der Bedächtige sah sehr ernsthaft, beinahe tiefsinnig aus und sprach:

"Wie übel, wurde doch neulich Euer Spiel, lieber Kreisler, durch den stockenden Hammer unterbrochen, habt Ihr denselben reparieren lassen?"


Thomas Mann
Dokor Faustus,
S.Fischer Verlag, 1974

In Thomas Manns Roman, Doktor Faustus, tritt in einer Kleinstadt, zur Anregung "für das geistige kulturellen Leben" Wendell Kretzschmar, Organist und Kapellmeister vor ein kleines Publikum.. Seine Vorträge zur Musikgeschichte, die er mit Erläuterungen am Klavier begleitet, sind anspruchsvoll, jedoch von einem Stotterleiden beeinträchtigt, das geeignet ist:

"die Aufmerksamkeit von dem geistig Gebotenen völlig abzulenken und sie in ein ängstlich gespanntes Warten auf das nächste konvulsivische Festsitzen zu verwandeln."

An jenem Abend hatte sich Wendell Kretzschmar vorgenommen, Beethovens letzte Klaviersonate Opus 111 vorspielend zu erläutern.

"Im Lichte des Gesagten, fuhr [Wendell Kretzschmar] fort, habe man das Werk von dem er im Besonderen spreche, die Sonate Opus 111 zu betrachten. Und dann setzte er sich an das Pianino und spielte uns aus dem Kopf die ganze Komposition, den ersten und den ungeheueren zweiten Satz in der Weise vor, dass er seine Kommentare beständig in das eigene Spiel hinein rief und, um uns auf die Führung recht aufmerksam zu machen, zwischendurch begeisterungsvoll-demonstrativ mitsang, was alles zusammen einen teilweise hinreißenden, teilweise komischen und von dem kleinen Auditorium wiederholt auch mit Heiterkeit aufgenommenen Spektakel ergab. Denn da er einen sehr starken Anschlag hatte und im Forte gewaltig auftrug, mußte er überlaut schreien, um seine Zwischenreden halbwegs verständlich zu machen, und mit höchstem Stimmaufwand singen, um das Vorgeführte noch vokal zu unterstreichen. Mit dem Munde ahmte er nach, was die Hände spielten. Bum, bum – Wum, wum – Schrum, schrum, machte er bei den grimmig auffahrenden Anfangsakzenten des ersten Satzes und sang in der hohen Fistel die Passagen melodischer Lieblichkeit mit, von denen der zerwühlte Sturmhimmel des Stückes zuweilen wie von zarten Lichtblicken erhellt ist. Schließlich legte er die Hände in den Schoß, ruhte einen Augenblick aus und sagte: "Jetzt kommt’s." Er begann den Variationensatz, das ‚Adagio molto semplice e cantabile‘."


Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Insel Taschenbuch, 1984

Was bei Thomas Mann zu höchster Erbauung wird, führt bei Lew Tolstoj zu tödlicher Tat.
Die Ehefrau eines gutsituierten Moskauer Bürgers hatte, nachdem die Kinder größer geworden waren, wieder begonnen, Klavier zu spielen.

"Sie fing wieder an leidenschaftlich Klavier zu spielen, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Und daraus kam alles Weitere."

Truchatschewskij, ein Studienfreund des Hausherrn, war aus dem Ausland zurückgekehrt und begann mit der Frau seines Freundes zu musizieren. Eines Abends treten beide mit der Kreuzersonate vor geladenem Publikum auf.

"Oh, wie genau erinnere ich mich aller Einzelheiten dieses Abends. Ich erinnere mich, wie meine Frau sich mit heuchlerisch-gleichgültigem Blick, hinter dem, wie ich wohl sah, sich große Angst verbarg – vor allem um ihr musikalisches Können -, wie sie sich ans Klavier setzte und wie nun in der üblichen Weise das A angeschlagen, ein Pizzicato auf der Geige versucht, das Notenheft zurecht geschoben wurde. Ich erinnere mich weiter, wie sie einander anblickten, nach den Zuhörern sahen, die noch nicht alle Platz genommen hatten, wie sie dann einander etwas sagten und endlich die Musik begann. Sie spielten die Kreutzersonate von Beethoven. "Kennen sie das erste Presto? Sie kennen es", rief er. "Huhuhuh! Ein furchtbares Werk ist diese Sonate. Und gerade dieser Teil. Und die Musik überhaupt ist etwas Furchtbares! Was ist sie? Ich verstehe es nicht. Was ist die Musik?"


Alessandro Baricco
Novecento,
Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011

In der Erzählung Novecento von Alessandro Baricco wird
auf einem Ozeandampfer das Findelkind Novecento entdeckt.
Es wird lebenslang das Schiff nicht verlassen. Eines Nachts setzt es sich ans Klavier.

In der zweiten Nacht dieser Überfahrt, als nicht einmal mehr die Lichter der irischen Küste zu sehen waren, stürzte Barry, der Bootsmann wie ein Besessener in die Kajüte des Kapitäns, weckte ihn und erklärte, dass er ihm unbedingt was zeigen müsse. Der Kapitän fluchte, ging aber mit.

"Ballsaal der ersten Klasse.
Erloschene Lichter.
Leute im Schlafanzug, am Eingang stehend. Passagiere, die aus ihren Kabinen gekommen waren.
Alle schwiegen und schauten.
Auf Novecento.
Er saß mit Beinen, die ein ganzes Stück über dem Boden baumelten, auf dem Klavierhocker.
Und, wahrhaftigen Gottes, er spielte."


Am Ende von Alessandro Bariccos Erzählung: Novecento, soll das Schiff, das der Pianist sein Leben lang nicht verlassen hat, ausrangiert und in die Luft gesprengt werden.

"Ich habe mich von der Musik verabschiedet, von meiner Musik, als es mir eines Tages gelang, sie ganz und gar in nur einem kurzen Ton zu spielen, und ich habe mich von der Freude verabschiedet, die mich verzauberte, als ich dich hereinkommen sah. Das ist kein Wahnsinn Bruder. Es ist Geometrie. Ich habe das Unglücklichsein entwaffnet. Ich sehe die Szene schon vor mir, wie ich oben ankomme, mit dem Typ, der meinen Namen auf der Liste sucht und nicht findet."

''Wie heißen sie nochmal?

"Ich bin auf einem Schiff geboren und da auch gestorben, ich weiß nicht, ob das da aus der Liste hervorgeht…"

Schiffbruch?

"Nein. Explodiert. Dreizehn Zentner Dynamit. Bum."

Aha. Ist jetzt soweit alles in Ordnung?"



Elfriede Jelinek
Die Klavierspielerin
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004

Der Klavierspielerin Elfriede Jelineks ergeht es auf andere Weise ähnlich. Die Mutter hatte Erika als Genie zur Welt gebracht, aber das Kind weiß seine Gabe nicht sachgerecht zu nutzen und enttäuscht nicht nur die erwartungsvolle Welt sondern auch die erwartungsvolle Mutter.

"Dann versagt Erika einmal bei einem wichtigen Abschlusskonzert der Musikakademie völlig, sie versagt vor den versammelten Angehörigen ihrer Konkurrenten und vor ihrer einzeln angetretenen Mutter, die ihr letztes Geld für Erikas Konzerttoilette ausgegeben hat. Unter Schimpf taumelt Erika vom Podium, unter Schande empfängt sie ihre Adressatin, die Mutter. Auch ihre Lehrerin, eine ehemalige bekannte Pianistin, rügt Erika auf das heftigste wegen Konzentrationsmangels. Was bleibt (Erika) anders übrig, als in das Lehrfach überzuwechseln."

Die Auftritte der einst so verheißungsvollen Pianisten sind damit nicht zu Ende. Aber sie beschränken sich auf den privaten Bereich. Bei einem Hauskonzert tritt die Klavierlehrerin Erika Kohut gemeinsam mit Dr. Haberkorn auf, einem Greis,
"… den der nahende Sensenmann keineswegs zu größeren Leistungen anspornen konnte, wie er es doch bei Mozart und Beethoven vermochte, auch bei Schubert."



Thomas Bernhard
Der Untergeher
Suhrkamp Verlag, 1983

Wie Elfriede Jelinek hatte auch Thomas Bernhard eine pianistische Ausbildung.
In seiner Erzählung, der Untergeher, schreibt er von der vernichtenden Wirkung eines Kontakts mit einem Genie.

Während der Erzähler einen Essay über den kanadischen Pianisten Glenn Gould schreibt, erfährt er vom Selbstmord seines Freundes Wertheimer. Gould, Wertheimer und der Erzähler hatten sich in Salzburg bei einer masterclass von Horowitz kennengelernt. Unter dem Eindruck des pianistischen Genies Glenn Gould gaben die beiden anderen ihre Pianistenkarriere auf.


"Im Grunde war es nicht Horowitz allein, der mich das Klavierspiel in seiner höchsten Konsequenz lehrte, es war der während des Studiums tagtägliche Umgang mit Glenn Gould, dachte ich. Es waren diese zwei, die mir überhaupt die Musik ermöglichten, den Musikbegriff, dachte ich. Mein letzter Lehrer vor Horowitz war Wührer gewesen, einer jener Lehrer, die einen in der Mittelmäßigkeit ersticken, ganz zu schweigen von den vorher absolvierten, die alle, wie gesagt wird, hervorragende Namen haben, alle Augenblicke in den großen Städten auftreten und hochdotierte Lehrstühle an unseren berühmten Akademien haben, aber sie sind nichts anderes als klavierspielende Zugrunderichter, die keine Ahnung vom Musikbegriff haben, dachte ich. Überall spielen und sitzen diese Musiklehrer und ruinieren Tausende und Hunderttausende von Musikschülern, als wäre es ihre Lebensaufgabe, die außerordentlichen Talente junger Musikmenschen im Keim zu ersticken. Nirgendwo herrscht eine solche Verantwortungslosigkeit wie an unseren Musikakademien, die sich neuerdings Musikuniversitäten nennen, dachte ich. Von zwanzigtausend Musiklehrern ist nur ein einziger der ideale, dachte ich. Horowitz war dieser ideale, dachte ich. Glenn wäre, wenn er sich dafür hergegeben hätte, ein solcher gewesen. Glenn hatte, wie Horowitz, das ideale Gefühl und den idealen Verstand für diese Lehre, für diesen Kunstvermittlungszweck. Jährlich gehen Zehntausende Musikhochschulschüler den Weg in den Musikhochschulstumpfsinn und werden von ihren unqualifizierten Lehrern zugrunde gerichtet, dachte ich. Werden unter Umständen berühmt und haben doch nichts begriffen, dachte ich bei meinem Eintritt in das Gasthaus."


Alain Claude Sulzer
Aus den Fugen
Galiani Berlin, 2012

In Alain Sulzers: "Aus den Fugen", tritt Marek Olsberg, der weltberühmte Pianist, an diesem Abend in der ausverkauften Berliner Philharmonie auf." Er hatte am Vortag im Untergeschoß zwischen einem Dutzend Flügel den für ihn richtigen ausgesucht, der am Morgen aus der Versenkung direkt aufs Podium hochgefahren und vom blinde Klavierstimmer nach des Künstlers Wünschen präpariert worden war.
Marek Olsberg Spiel war den Kennern ein Ereignis, doch auch das gewöhnliche
Konzertpublikum war an diesem Abend seinem Spiel bisher schier ohne Huster gebannt gefolgt.

"Etwa drei Minuten vor dem Ende des letzten Satzes der Hammerklaviersonate, diesem Meilenstein der Klaviermusik, etwa nach neun Minuten Spiel, kurz vor Erreichen des Ziels, hielt Marek Olsberg unvermittelt inne und hob langsam die Hände.

Dass das Stück nicht zu Ende war, sondern dass er es vorzeitig abgebrochen hatte, dass jetzt also etwas Außergewöhnliches geschah, war auch denen sofort klar, die die Sonate nie zuvor gehört hatten und mit den Gepflogenheiten von Soloauftritten nicht oder noch nicht vertraut waren: Marek Olsberg schloss den Klavierdeckel mit einer Bewegung, die über die Endgültigkeit seiner Entscheidung keinen Zweifel ließ. Und er sagte laut und vernehmlich, vielleicht nicht bis in den letzten Winkel des riesigen Gebäudes vernehmlich, mit tonloser Stimme:"


Wladislaw Szpilman
Der Pianist
List Taschenbuch, 2011

Das Überleben als Mensch und Pianist im von den Nazis besetzten Warschau hat der Pianist Wladyslaw Szpilman in seinen Erinnerungen beschrieben. Kurz vor Kriegsende rettete ihm in der fast gänzlich zerstörten Stadt sein Klavierspiel das Leben.

Nach zwei Tagen begab ich mich auf Nahrungsmittelsuche. Ich geriet in eine Küche und von dort in eine Speisekammer. Etliche Blechbüchsen gab es dort und irgendwelche Säckchen,(..) deren Inhalt sorgfältig geprüft werden mußte. Ich war von der Suche derart in Anspruch genommen, dass ich die Stimme erst hörte, als sie direkt hinter mir sagte:

Was suchen sie hier?
An den Küchenschrank gelehnt stand ein hochgewachsener eleganter deutscher Offizier, die Arme vor der Brust verschränkt.
Ich sank auf den Stuhl neben der Speisekammertür. Mit nachtwandlerischer Sicherheit fühlte ich plötzlich, dass mir die Kräfte fehlen würden, um dieser neuen Falle zu entrinnen.
Machen sie mit mir was sie wollen. Ich rühr mich nicht mehr vom Fleck."

Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas zu tun."

Der Offizier zuckte die Achseln.


"Was sind Sie von Beruf?"
Pianist.


"Würden Sie mir bitte folgen?"

Wir traten ins erste Zimmer, das sicher das Speisezimmer gewesen war, und dann ins nächste, wo an der Wand ein Klavier stand. Der Offizier deutete mit der Hand auf das Instrument:


Spielen Sie etwas.

Dachte er nicht daran, dass das Klavierspiel sofort die in der Nähe befindlichen SS-Männer herbeirufen würde? Ich sah ihn fragend an und rührte mich nicht von der Stelle. Offenbar hatte er meine Befürchtungen erraten, da er beruhigend hinzufügte:

Spielen Sie ruhig. Wenn jemand kommt, verstecken Sie sich in der Speisekammer, und ich sage, dass ich gespielt habe, um das Instrument auszuprobieren.

Als ich die Finger auf die Klaviatur legte, zitterten sie. Diesmal hatte ich also zur Abwechslung mein Leben mit Klavierspiel zu erkaufen. Ich hatte zweieinhalb Jahre nicht geübt, mein Finger waren steif, mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt, die Fingernägel ungeschnitten seit dem Brand des Hauses, in dem ich mich versteckt hielt. Dazu stand das Klavier in einem Zimmer ohne Fensterscheiben, so dass der Mechanismus vor Feuchtigkeit aufgequollen war und auf den Tastendruck widerspenstig reagierte.
Ich spielte Chopins Nocturne cis-Moll.




Alexander Waugh
Das Haus Wittgenstein
S.Fischer Verlag, 2009

Wie Krieg auf andere Weise Einfluss auf ein Schicksal genommen hat, erzählt Alexander Waugh in seiner Geschichte des Hauses Wittgenstein.
In die reiche Wiener Industriellenfamilie der Wittgensteins wird 1887 Paul geboren, zwei Jahre später sein Bruder Ludwig, der berühmte Philosoph. Gegen den hartnäckigen Widerstand des Vaters wollte Paul von frühester Jugend an Konzertpianist werden. Wie alle Wittgensteins war auch der Vater selbst hochmusikalisch, war mit Brahms und Strauss befreundet, besaß eine bedeutende Sammlung von Musikhandschriften und ließ in seinem privaten Konzertsaal weltberühmte Musiker auftreten.

Seine Söhne aber bestimmte er dazu, das väterliche Imperium aus Schwerindustrie und Banken fortzuführen. Keiner der fünf Söhne wird das schließlich tun. Paul aber widersetzte sich von Anfang an dem väterlichen Befehl und wurde Pianist. Sein erstes öffentliches Konzert 1913 wird ein großer Erfolg. Wenige Monate später bricht der erste Weltkrieg aus, Paul wird verwundet, verliert einen Arm und gerät in russische Gefangenschaft. Als er nach Wien zurückkehrt, hat er seinen Plan nicht aufgegeben. Er wird Pianist bleiben, einhändig.

Vier Monate später gibt er ein Konzert. Das Stück war eigens für ihn geschrieben worden und wurde im Musiksaal des Palais Wittgenstein öffentlich aufgeführt.

"Paul hatte mit obsessivem Fleiß und mit eiserner Entschlossenheit gearbeitet. Manchmal hatte er für dieses Konzert sieben Stunden am Stück geübt. Er saß nicht wie ein normaler Pianist vor seinem Instrument, mit der Hand etwa auf mittlerer Höhe der Tastatur, sondern weit nach rechts versetzt, so dass er die höchsten Noten anschlagen konnte, ohne den ganzen Körper zu verrenken.

Durch ständiges Üben entwickelte er eine beträchtliche Kraft in seinen Fingern, in Handgelenk und Oberarm. Manchmal spielte er eine Note mit der Faust, er lernte Daumen und Zeigefinger dazu zu benutzen, um die Melodie zu spielen, während Mittel-, Ring- und Kleiner Finger in anderer Lautstärke die Begleitung übernahmen. Die weitreichendste Neuerung war eine Technik, bei der er Pedal und Handbewegung kombinierte, um Akkorde erklingen zu lassen, die ein Pianist mit fünf Fingern eigentlich nicht spielen konnte wodurch er selbst bei gewieften Kritikern die Illusion erzeugte, dass er allein mit der linken Hand einen Akkord spielte, der eine Spannweite von siebzig Zentimetern erforderte.

Die Hauptschwierigkeit für ihn war, dass seine Musik in sich vollkommen klingen mußte – es genügte einfach nicht, halb so gut zu sein wie ein Pianist mit zwei Händen."


Maarten t’Hart
Das Wüten der ganzen Welt
Piper Verlag, 2005

Der junge Protagonist und hochbegabte Klavierspieler in Marten t’Harts, "Das Wüten der Welt", versucht als Klavierstimmer sein schmales Budget aufzubessern. Ein Auftrag führt ihn in das Haus einer alten Frau.

Sie öffnete die Haustür. Als ich hineinging, schoss aus dem dunklen Flur ein riesiger Bouvier hervor.

""Aus, Barra, aus!"

Aus, Barra, aus, rief die alte Dame. Sie ging voraus, ich ging hinter ihr her, knurrend folgte mir der Hund und so erreichten wir das große Wohnzimmer, wo gleich neben dem Fenster ein Blüthner prangte. Es war nicht mein geliebter Blüthner, das sah ich sofort, aber ein Instrument, das vielleicht noch älter war als seine Besitzerin.

"Soll ich Ihnen eine Tasse Kaffee machen, Mijnheer Goudvuil?"

"Gern, Mevrouw."

Sie ließ mich mit dem Bouvier allein, der alle meine Bewegungen misstrauisch verfolgte. Er knurrte, als ich den Klavierdeckel hochklappte. Er bellte, als ich ein paar Tasten anschlug. Offensichtlich von dem Gebell alarmiert, kehrte die alte Dame zurück und sagte:

"Still doch, ist ja nichts, leg dich hin, ist ja gut."

Zu mir sagte sie:

"Sie brauchen keine Angst vor dem Hund zu haben, er ist sehr wachsam, aber wenn Sie sich anständig benehmen, wird er bestimmt nicht beißen."

Sie ging wieder und ich deckte vorsichtig den Blüthner ab. Das Instrument war, das war leicht festzustellen, kaum verstimmt. Vor allem brauchte an den tiefen und hohen Tönen kaum etwas getan zu werden. Nur das tiefe B war ein Problem, ich drehte und horchte, versuchte, ein paar leise Schwingungen wegzubekommen, und beschloss, als das nicht glückte, das B zu lassen, wie es war. In dem Augenblick jedoch tippte mir jemand auf die Schulter. Aus meiner Konzentration hochgeschreckt, blickte ich mich erstaunt nach demjenigen um, der mir zwar gutmütig, aber doch recht eindringlich auf die Schulter getippt hatte.

Hinter mir stand aufrecht, die linke Vorderpfote auf der Lehne eines niedrigen Sessels gestützt, mit heftig wedelndem Schwanz der Bouvier. Wie er so dastand und mich ansah, konnte ich seinen Blick nur auf eine einzige Art interpretieren. Offenbar war er nicht damit einverstanden, dass ich nicht versuchte, das B sauber zu stimmen. Ich schlug es erneut an, dreht, und der Hund schnaubte. Völlig sauber bekam ich das B nicht, aber, wie es schien, sauber genug.

Der Bouvier, der ein kurzes Bellen hören ließ, konnte sich offenbar damit abfinden, dass ich schließlich zum H überging. Sogar jetzt, fast dreißig Jahre später, kann ich kaum glauben, dass ich damals wirklich einen Blüthner in Gegenwart eines Bouviers gestimmt habe, der sich in meine Arbeit einmischte.

Nach dem letzten C stand ich auf. Ich setzte alle Holzteile, die ich herausgenommen hatte, wieder ein. Wo blieb um Gottes willen die Witwe? Um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich ihren Blüthner fertiggestimmt hatte, spielte ich eine Sonate von Scarlatti.



Oliver Sacks
Der einarmige Pianist,
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2011

Er habe die Frau getötet, schreibt der amerikanische Psychiater Oliver Sacks in seiner Abhandlung über "Musik und das Gehirn", er habe sie getötet "obwohl er einsehen muss, dass der wirkliche Feind, der Feind, den er nicht töten kann, die Musik ist."

Das Thema der verführerischen, aber gefährlichen Musik, habe die Vorstellung der Menschen schon immer beschäftigt, schreibt Oliver Sacks weiter.

"In der griechischen Mythologie wurden die Seeleute von der berückenden Musik der Sirenen in den Untergang gelockt und wie unheimlich und unheilschwanger die Musik war, die während des Koreakrieges eingesetzt wurde, beschreibt ein Beobachter so: Sie hörten Musikinstrumente, die wie unheimliche asiatische Dudelsäcke klangen. Es waren aber keine Dudelsäcke, sondern schaurige, äußerst fremde Klänge, die viele von ihnen zeitlebens nicht vergaßen. Später stellte sich heraus, dass diese Musikinstrumente den Chinesen vor dem Gefecht dazu dienten ihren Feinden Furcht einzuflößen."

Verstörend scheint Musik nur auf den Hörer wirken zu können, nicht aber auf den Musizierenden.
Ein junger Mann, der an einer schweren bipolaren Störung litt, so schwer, dass er sich Monate nicht vor die Tür oder mit jemandem zu reden, traute, schreibt an Sacks:

"Wenn ich am Klavier saß, konnte ich spielen, improvisieren und mich auf meine Stimmung einstellen. Wenn ich eine Zeitlang gespielt hatte, gelang es mir, in einem fast tranceartigen Zustand, meine Stimmung auf diese Weise aufzumuntern. Anscheinend kann ich Musik auf dieselbe Weise zur Stabilisierung der Stimmungslage benutzen, wie andere Leute eine Therapie oder Medikation….Musikhören hat ganz und gar nicht dieselbe Wirkung – es hat mit dem Output zu tun, dass ich jeden Aspekt der Musik – Stil, Struktur, Tempo und Dynamik – selbst steuern kann."

Und Sacks merkt zu diesem Bericht über die "erlösende Macht der Musik" an:

"Da Musik sich offenbar den Verzerrungen durch Träume, Parkinson, Amnesie oder Alzheimer entzieht, besitzt sie diese Fähigkeit manchmal auch bei einer Psychose und ist imstande, die tiefsten Zustände der Melancholie oder des Irrsinns zu durchdringen – wenn nichts anderes mehr dazu fähig ist."