Die Musik der deutschsprachigen Immigranten

Melting Pot USA

54:45 Minuten
Ein Mann blickt durch ein geöffnetes, leeres, durchsichtiges CD-Cover und lacht.
Der Musikethnologe Jim Leary hat hunderte historischer Aufnahmen deutschsprachiger Immigranten gesammelt © J. Leary / J. Leary
Von Arndt Peltner · 12.02.2021
Nachfahren deutschsprachiger Einwanderer im Mittleren Westen der USA spielen bis heute Ländler, tanzen Polkas und singen Jodler. Die klingen allerdings ein wenig anders als vor 100 Jahren.
Schweizer Volksmusik auf US-amerikanischen Bühnen war in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil, die Musikerinnen und Musiker aus Europa wurden in den USA zum Teil wie Superstars gefeiert.

Auf der Suche nach einer neuen Existenz

Millionen Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zog es ab der Mitte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert aus politischen und wirtschaftlichen Gründen in die USA - vor allem in den Mittleren Westen, nach Illinois, Minnesota, Michigan und Wisconsin. Sie wollten sich in der Neuen Welt eine neue Existenz aufbauen und brachten neben ihrer Arbeitskraft und ihren Träumen auch ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Lebensvorstellungen mit. Und ihre Musik.
Der in die USA ausgewanderte Ferdinand Ingold mit seiner Familie bei der "Cheese Days Parade" 1915 in Monroe.
Ferdinand Ingold, aus der Schweiz in die USA ausgewandert, gründete das Label Helvetia Records, hier auf einem Foto von der "Cheese Days Parade" 1915 in Monroe.© J.Leary / Mills Music Library
Wisconsin war damals Ziel vieler Einwanderer: Norweger, Tschechen, Irländer kamen, aber vor allem viele Deutsche und Schweizer. So viele, dass Wisconsin als der "deutscheste" aller US Bundesstaaten galt und zeitweilen im Scherz sogar "Swissconsin" genannt wurde.
Jim Leary arbeitet als Ethnologe an der University of Wisconsin. Sein Spezialgebiet ist die Musik der Immigranten, die aus Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern in den Mittleren Westen gekommen sind.
"Grundsätzlich werden in dieser Region die vielen verschiedenen Traditionen willkommen geheißen und auch gewürdigt. Aber gleichzeitig grenzt es fast an Ironie, dass in den letzten Jahren in den USA diese Vielfalt kaum geschätzt wurde. Denn es kamen ja neue Immigranten aus Südostasien, Mexiko, afrikanische Flüchtlinge. Deren Kulturen wurden anerkannt, sogar in den Schulen nimmt der Multi-Kulturalismus mehr Raum ein, was ich für eine gute Sache halte. Aber es gab auch den Glauben, dass die Einwanderer aus Europa irgendwie Englisch sprechende Amerikaner gewesen sind. Tatsache ist jedoch, dass das früher noch viel komplexer war, aber das wird heute in diesem Land gar nicht mehr so wahrgenommen."

Die Musik der "Germans"

Jim Leary ist einer der wenigen, der Licht in diese Komplexität bringt. Er veröffentlichte Bücher und Tonträger zur Musik der Einwanderer, wie die "Folksongs of another America – Field Recordings from the Upper Midwest" oder auch die CD-Box, die an das von Ferdinand Ingold gegründete Label "Helvetia Records" erinnert und dessen besten Aufnahmen beim Label Archeophone wiederveröffentlicht: "Alpine Dreaming: The Helvetia Records Story, 1920-1924". Darin blickt Leary zurück auf die Wurzeln, auf das, was im Mittleren Westen durch die vielen verschiedenen Einflüsse der Einwanderer entstanden ist.
"Die Aufnahmen in dieser Sammlung 'Folksongs of another America' sind aus der Library of Congress. Es sind alles Feldaufnahmen aus den 1930er und 1940er Jahren. Der Tontechniker der Bibliothek gab mir digitale Kopien, die ich dann noch etwas bereinigt habe. Viele dieser Aufnahmen stammen von Helene Stratman-Thomas, die diese in den 1940er Jahren aufgezeichnet hat. Es ist eine interessante Sammlung an unbegleiteten Gesängen, Jodlern und Zither-Musik. Ich wusste aber, dass es noch mehr Aufnahmen gibt. Ich habe versucht, weitere Aufnahmen zu finden, die repräsentativ sind für die verschiedenen Genres, und dazu auch nach 70 Jahren noch gut klangen."
Eine junge Frau mit auffälligem Hut und Tracht lächelt auf einer historischen Fotografie in die Kamera.
Die "Schweizer Nachtigall" Frieda M. Haldi in ihrer Tracht© J.Leary / Mills Music Library
"The Germans", so werden in den USA alle Deutschsprechenden genannt – egal ob aus Deutschland, der Schweiz oder Österreich. Diese "Germans" spielten ihre Musik auf Festen, Hochzeiten, Veranstaltungen. Es ist bekannt, dass es auf den Feiern der Deutschen immer zünftig zuging, mit viel Bier, Tanz und Musik. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Aufnahmetechnik kommerziell nutzbar wurde, merkten die Plattenfirmen schnell, dass die Einwanderer durchaus eine große Zielgruppe und damit eine zahlungskräftige Kundschaft waren.

A für Amerika, E für Europa

"In den Vereinigten Staaten wurde eine Menge deutsche Musik aufgenommen. Kommerzielle Plattenfirmen, wie Columbia und Victor, waren an den verschiedenen Einwanderer-Gruppen interessiert. Anfangs haben sie Platten aus Europa importiert, doch während des ersten Weltkrieges wurde das schwierig. Also haben Menschen mit deutschem, litauischem oder polnischem Hintergrund selbst Platten aufgenommen… Die Musiker dieser Einwanderergruppen gingen in Aufnahmestudios in New York City. Etwas später dann änderte sich das. Bands und Musiker, die in der Mitte des Landes wohnten, konnten in den 1920er Jahren in Minneapolis und vor allem in Chicago aufnehmen. Diese Kombination aus kommerziellen Aufnahmen, Radio- und Live- Auftritten in Tanzhallen prägte in den 20er Jahren die deutsche Musikszene. Vor allem in Wisconsin und Minnesota und Teilen von Iowa."
Das Schweizer Duo "Die Rindlisbacher" mit seinen Instrumenten auf einem historischen Foto.
Das Schweizer Duo Iva und Otto Rindlisbacher© J.Leary / Mills Music Library
Auch die Zahlen der veröffentlichten Schallplatten in den USA sprechen eine deutliche Sprache. Im Zeitraum von 1908 bis 1923 brachte Columbia rund 5000 Schellack-Platten in der A-Serie heraus, A für Amerika. In der E-Serie, E für Europa, veröffentlichte die Schallplattenfirma im gleichen Zeitraum 6000 Platten.

Zither-Trios und Polka-Bands

Der deutsche Musikjournalist Christoph Wagner hat bereits mehrere CD-Veröffentlichungen für das Münchner Trikont Label zur Musik der europäischen Einwanderer produziert. Seit Jahren durchstöbert er US-amerikanische Plattenläden nach diesen alten Aufnahmen und ist immer wieder erstaunt:
"Natürlich hat mich das schon überrascht, also die ganze Bandbreite dieser Musik, weil die geht ja von religiösen Gesängen bis zur Nationalhymne, bis zum Zithertrio, bis zur Polka-Band. Die ganze deutsche Musikkultur wurde auch in den USA genauso abgebildet, wie sie war. Gerade in der Mills Music Library in Madison/ Wisconsin, die sind ja spezialisiert auf diese Dinge. Da gibt es einen riesigen Fundus dieser Musik. Man findet diese Platten auch noch bei Schellackhändlern. Ich war in Milwaukee, habe mir dort einige gekauft, auch in Illinois bei Händlern. Man findet die noch, die sind einfach da."
Auszug einer Angebotsseite mit Musikerfoto und Auflistung.
Original-Katalogwerbung zu Helvetia Records Veröffentlichungen.© J. Leary / Green County Historical Society
Eine umfassende Sammlung, ein Archiv aller Veröffentlichungen deutschsprachiger Musiker in den USA existiert jedoch nicht, erklärt der Ethnologe Jim Leary.
"Es existiert keine komplette Sammlung von kommerziellen Aufnahmen von Deutsch-Amerikanern vor dem Zweiten Weltkrieg. In der Library of Congress lagern Tausende dieser Aufnahmen und wir an der University of Wisconsin haben in unserer Musikbibliothek eine besondere Sammlung von 78er Platten. Darunter auch einige Tausend deutsch-amerikanische Aufnahmen. Wir sind dabei, alles zu katalogisieren und sie auszugsweise zu digitalisieren. Es ist ein langsamer und zeitaufwändiger Job. Es ist Material, das über Generationen vernachlässigt wurde. Erst jetzt also wird vieles aus dieser Sammlung bekannter und auch zugänglicher gemacht."
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