Die Moskauer und ihre Datscha

Knoblauch, Pasternak und der KGB

Wladimir Nowikow auf seiner Datscha
Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Wladimir Nowikow präsentiert seine Datscha © Gesine Dornblüth
Von Gesine Dornblüth · 26.08.2017
Die Datscha ist den Moskauern heilig: Hier, weitab von der großen Stadt, finden Sie Zuflucht vor der Sommerhitze in der Stadt, ernten Gurken und trinken Wodka. Der Komfort hält dabei mittlerweile mit Stadtwohnungen mit - zum Bedauern mancher Nostalgiker.
Die Abkühlung auf der Datscha will erkämpft sein. An den Moskauer Bahnhöfen bahnen sich am Freitag, am Ende einer Arbeitswoche, dichte Menschenströme den Weg zu den Vorortzügen, den "Elektritschkas". Die Haut klebt auf den Plastikbänken. Fliegende Händler bieten mehr oder weniger nützliche Dinge an. Es riecht nach Schweiß. Das leichte Ruckeln der Bahn, gepaart mit der Hitze, wirkt einschläfernd.
Die Alternative, die Fahrt mit dem Auto, ist auch keine Freude: Da ganz Moskau am Wochenende aufs Land fährt, steht man erst mal im Stau. Doch wie groß die Strapazen auch sein mögen – am Ziel angelangt, wird jedes Mal aufs Neue klar: Es war gut, die Stadt zu verlassen.

Flucht vor der Sommerhitze

"In Moskau kann man es in der Sommerhitze nicht aushalten", sagt Wladimir Nowikow. "Es sei denn, man sitzt die ganze Zeit vor einer Klimaanlage. Aber das will ja niemand."
Wladimir Nowikows Datscha steht knapp hundert Kilometer vom Stadtrand entfernt, in einer Datschensiedlung, wie es hunderte im Moskauer Umland gibt: Schnurgerade Wege, Blumen, Holzhäuser, Gemüsegärten, die Parzellen jeweils 600 qm groß. Genau so viel Land bekamen die Sowjetbürger vom Staat, von ihren Betrieben oder Gewerkschaften zugeteilt.
"1991 war es, glaube ich. Da bekamen wir die Datscha vom KGB der UdSSR."

Mit Kartoffeln von der Datscha durch den Winter

Vom Geheimdienst. Mittlerweile ist Nowikow Rentner und beim KGB ausgeschieden, deshalb darf er auch mit Ausländern reden und lädt die zufällige Besucherin in den Garten ein. Phlox leuchtet lila, Lilien duften. In der Sonne trocknen Zwiebeln und Knoblauchknollen. Jeder Zentimeter ist genutzt. In schlechten Zeiten wurden auf den Datschen Kartoffeln angebaut, ganze Familien kamen so durch den Winter. Heute beschränken sich die Moskauer auf Gemüse für den täglichen Bedarf. "Knoblauch, Zwiebeln, Dill, Petersilie, Möhren, Rote Beete. Das ist es eigentlich."

Nowikow verbringt den ganzen Sommer auf der Datscha, wie viele Rentner. Am Wochenende kommen seine Kinder mit den Enkeln zu Besuch.
"Was wir hier machen? Wir erholen uns. Wir stehen manchmal um 6 oder 7 auf, manchmal lümmeln wir bis 11 im Bett, je nachdem, wie die Nacht war. Und dann angeln wir, sammeln Pilze, sammeln Beeren."

Werkeln, Gurken ernten, Grillen

Außerdem muss ständig irgendetwas gebaut werden. Das Werkeln gehört zur russischen Datscha wie die Gurkenernte und das Grillen am Abend. Auf Nowikows Grundstück stehen zwei Häuser. Vorn eine niedrige Blockhütte. Hinten ein neues zweistöckiges Holzhaus mit Kunststofffenstern.
"Das alte Haus haben wir in den 90 Jahren gebaut. Damals gab es ja nicht mal Bretter zu kaufen. Das Haus hier hinten hat ein großes Zimmer, ein Esszimmer und zwei große Schlafzimmer."
Das ist immer noch vergleichsweise bescheiden. Findige Russen, die die nötigen Beziehungen, das nötige Geld oder die nötige Kaltblütigkeit besaßen, haben sich in den 90er Jahren Nachbargrundstücke angeeignet, haben ihre 600 Quadratmeter so vervielfacht und Platz geschaffen, um sich sogenannte "Kottedschi" zu bauen: Gemauerte Einfamilienhäuser oder Bungalows, manche mit Zinnen und Türmchen, viele von unglaublicher Geschmacklosigkeit.

Brief von Pasternak

Im Übrigen bekamen schon in der Sowjetunion diejenigen, die gleicher waren als die anderen, bessere Datschen:
Parteifunktionäre, Wissenschaftler, systemtreue Künstler zum Beispiel. Der Dichter Boris Pasternak kam so zu einem Häuschen in der Schriftsteller-Siedlung Peredelkino am Rande Moskaus. Pasternak war geradezu besessen vom Datschenleben, baute Gemüse an und lud seine Cousine, die Literaturwissenschaftlerin Olga Freudenberg, in vielen Briefen nach Peredelkino ein.
"Liebe Olja!
Komm zu uns! Wir werden auf der Datscha biwakieren. Ohne Möbel, aber mit Gemüsegarten. Werden Kartoffeln häufeln, Beete jäten, Würmer vom Kohl lesen. Wirklich, überleg es Dir! Du erholst Dich.
Beeile Dich, der Sommer geht schon zur Neige. Nur eines zählt: raff Dich auf, komm her.
Küsse Dich herzlich. Dein Borja"
Die Cousine ignorierte die Einladungen. Schließlich antwortete sie doch.
"Borja, du mein teurer Freund!
(...) Ich halte nichts vom Steinzeitleben auf den russischen Datschen. Küsse dich von Herzen. Olja"

Die Datscha als Freiheitsversprechen

Walerij Wolkow steht an einem Baggersee im Moskauer Umland. Das Wasser ist dunkelbraun. Kinder buddeln im Kies. Wolkow hat seine Datscha in der Nähe.
"In letzter Zeit unterscheiden sich die Datschen kaum noch von den Häusern in der Stadt", sagt der Geschichtslehrer Walerij Wolkwo. "Jetzt gibt es Klimaanlagen, zivilisierte Toiletten, alle Früchte der Zivilisation. Früher hatten wir einen Ofen, Feuerholz, und Wasser haben wir aus dem Brunnen geholt. Das ist vorbei. Jetzt sind wir näher an Moskau."

Er scheint den alten Zeiten ein bisschen nachzutrauern. Das Ursprüngliche steht bei vielen Russen weiterhin hoch im Kurs. Ein Stück weiter liegen Männer mit nacktem Oberkörper unter Bäumen. Die Datscha bedeutet in Russland mehr als ursprüngliches Leben und frische Luft. Sie bedeutet auch Freiheit.
"Wenn du kommst, ziehst du erst mal bequeme Sachen an. Für Berufstätige gibt es in Moskau einen Dresscode. Da kannst du keine kurzen Hosen tragen. Auf der Datscha ist das normal."
Ausgerechnet der ehemalige Geheimdienstler Wladimir Nowikow bringt es auf den Punkt.
"Hier fühlt sich der Mensch wie vom Joch befreit. In Moskau gibt es immer irgendwelche Beschränkungen: Dies darfst du nicht, jenes nicht. Auf der Datscha dagegen... Entschuldigung, jetzt muss ich aber los, mein Sohn muss zurück in die Stadt, ich muss ihn zur Bahn bringen."

Textstellen aus:

Boris Pasternak, Olga Freudenberg: "Briefwechsel 1910-1954"
Deutsch von Rosemarie Tietze
S. Fischer, Frankfurt/Main 1986.


Hören Sie hier die ganze "Echtzeit"-Sendung vom 26. August 2017:

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