Die moderne Stadt

Wolfsburg wird in der öffentlichen Wahrnehmung meist gleichgesetzt mit Volkswagen. Doch die niedersächsische Stadt hat weit mehr zu bieten und verkörperte in den 60er Jahren den städtebaulichen Aufbruch in die Moderne. Heinrich Heidersbergs Bildband "Wolfsburg - Bilder einer jungen Stadt" erinnert an diese Zeit.
Ein schmaler Bildband im von der ersten Nachkriegszeit so geliebten, weil irgendwie neutral modern wirkenden quadratischen Format: "Wolfsburg – Bilder einer jungen Stadt". Wie jung, wie frisch – das war Wolfsburg zu Beginn der sechziger Jahre, als dies Buch des Fotografen Heinrich Heidersberger erstmals erschien, wirklich. Eine Stadt nur aus Neubauten, mit der modernsten Autofabrik der Welt als Herz, mit einem marmor- und blaufliesen blitzenden Kulturhaus Alvar Aaltos, des damals gerade in Deutschland geradezu verehrten finnischen Modernen, in dem Versammlungsräume, eine bis heute grandiose Bibliothek mit der legendären "Bücherkuhle", einem Theater Hans Scharouns, einer Fußgängerzone und breiten Autostraßen, die jeden Stau auf ewig zu verhindern schienen, einem Bahnhof, dessen Dächer elegant im Nierentischstil geschwungen sind. Wolfsburg, das wird auf jedem dieser Fotos deutlich, war eine Zukunftshoffnung der alten Bundesrepublik. Eine Stadt, die keine Ruinen kannte, wie sie sonst allerorten zu sehen waren, in der nicht alte Besitzstände den von vielen Planern, Bürgern und Politikern gewünschten radikalen Stadtumbau zugunsten von Autoverkehr, Licht, Luft und Sonne verhinderten, in der die Deutschen scheinbar ganz von vorne anfangen konnten, direkt und ohne Geschichte heraus aus dem ländlichen Heideidyll heraus, wie es Heinrich Heidersberger ebenfalls abbildete.

Er war ein Moderner, wie man so schön sagt, einer, der zwar auch die weite, flach gewellte Landschaft der norddeutschen Tiefebene mit ihrem kargen Charme einfangen konnte, der aber vor allem fasziniert war von der Technik, von Geschwindigkeit, Neuigkeit, dem ständigen radikalen Wandel. Sein Buch ist ein Auftragswerk gewesen, die Volkswagen-Werke warben damit um kulturelle Anerkennung, aber auch um Arbeiter. Es waren jene Jahre, als in der Bundesrepublik Vollbeschäftigung herrschte und der norddeutsche Neuankömmling unter den Städten mit dem Rheinland, mit dem Ruhrgebiet, mit Hamburg oder auch schon mit den im Aufstieg befindlichen süddeutschen Industriegebieten konkurrieren musste. Heiderberger lieferte dazu die Bilder – es sind faszinierende Einsichten in eine Welt, die unendlich lange vergangen scheint, in der Vater arbeitet und Mutter sorgt und die Kinder frisch gewaschen in der Bibliothek sitzen. Und in dem die Moderne der zwanziger Jahre mit ihren schrägen Fotoanschnitten, dramatischen Perspektiven, langen Sichtachsen und scharfen Kontrasten eine Wiederbelebung erfuhr.

Das Buch ist aber auch ein Dokument der Verdrängung. Mit einem einzigen Halbsatz wird darauf hingewiesen, dass Wolfsburg gegründet wurde als eines der wichtigsten Industrieentwicklungsprojekte Hitlers, und selbst dieser Halbsatz feiert vor allem einmal die Chancen: "Die einzigen Sünden der Vergangenheit – die in Stein und im Kasernenstil auf Befehl eines Diktators errichteten Baracken – fielen nicht ins Gewicht" der neuen Stadtplanung, ließt man da. Kein Wort von Görings "KDF-Stadt", von dem Riesenunternehmen, am Mittellandkanal genau in der Mitte zwischen den Industriezentren West- und Ostdeutschlands eine ganze Stadt neu zu gründen. Und dann entdeckt man, dass dies nun vom Nikolai-Verlag mit einigen klugen, wenn auch wieder nicht übermäßig kritischen Worten zur Stadtgeschichte eingeleitete Buch ursprünglich im Münchner Kunstverlag F. Bruckmann erschien, dessen Besitzer in den 1920er Jahren dafür gesorgt hatten, dass Hitler in die bessere Gesellschaft Bayerns eingeführt wurde und noch in den 1950er Jahren die stramm-nationalistische Geschichte der deutschen Kunst herausgab. Moderne und Reaktion, hier lernt man es wieder, konnten prächtig miteinander. Ein schönes Buch, eines, das sich lohnt zu kaufen, und sei es nur, um sich der deutschen Nachkriegsgeschichte auch in ihren seltsamen Seitenwegen wieder einmal bewusst zu werden.

Rezensiert von Nikolaus Bernau

Heinrich Heidersberg: Wolfsburg - Bilder einer jungen Stadt
Nicolai Verlag, Berlin 2008
104 Seiten, 24,90 Euro