"Die Mittelschicht wird feindseliger gegenüber schwachen Gruppen"

Der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer hat die aktuelle Unterschicht-Debatte entschieden abgelehnt und stattdessen eine Diskussion um die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft gefordert. Mit dem Begriff Unterschicht gehe eine Wertung einher, die nicht akzeptabel sei, sagte der Professor für Pädagogik.
Tom Grote: Herr Heitmeyer, meine Redakteurin hat mir nach dem Vorgespräch mit Ihnen erzählt, im Moment bräuchte es nur drei Worte, um Sie auf 180 zu bringen, nämlich Beck und neue Unterschicht. Stimmt es?

Wilhelm Heitmeyer: Na ja, mit Beck hat das weniger zu tun. Nein, es ist die Frage der Debatte und die Art, wie sie geführt wird. Es ist völlig klar, in den Sozialwissenschaften ist es immer so, dass man untere Soziallagen von anderen abgrenzt über die Beschreibung des Bildungsstatuts, des Berufsstatus, der Frage der Integration in den Arbeitsmarkt, des Einkommens. Und dann muss man natürlich feststellen, dass wir untere Soziallagen haben, in denen bestimmte Probleme auftauchen. Und damit jetzt schon aufzutauchen, ist schon sehr verwunderlich.

Grote: Haben Sie eine Idee, warum Beck ausgerechnet jetzt diese Debatte losgetreten hat?

Heitmeyer: Ich kann da keine Motivforschung betreiben, nur es ist so, dass die Funktion sein kann, dass auf der einen Seite eine Drohgebärde ist an ein Großteil der Gesellschaft: Passt auf, dass ihr nicht abrutscht, und auf der anderen Seite eine Ablenkung auch ist von den tatsächlichen Problemen, die wir haben. Und das Dritte ist, dass mit dieser Unterschicht jetzt plötzlich eine bestimmte Form von Bewertung hineinkommt, die nicht akzeptabel ist. Aber auf der anderen Seite wird auch heuchlerisch von mehreren Politikern etwas zurückgewiesen, was überhaupt nicht behauptet wird. Nämlich dass die Gleichwertigkeit von Menschen damit in Frage gestellt sei.

Dies behauptet niemand, sondern es gibt in dieser Gesellschaft ganz eindeutig eine Spaltung der Gesellschaft, und das kann man materiell belegen. Wenn Sie Zahlen wollen, kann ich Ihnen die nennen. Und auf der anderen Seite kann man das auch benennen in Form der Wahrnehmung in der Bevölkerung. Wir führen ja, und insofern finde ich die Aufregung jetzt über die Studie nicht besonders prickelnd, wir führen ja seit Jahren solche Untersuchungen durch, um die Prozesse zu benennen, und haben sie auch immer veröffentlicht. Es hat sich im Grunde niemand dafür interessiert über diese schleichenden Prozesse, und jetzt bricht so etwas auf. Man muss früh anfangen und nicht dann, wenn solch eine Debatte kommt.

Grote: Welche Debatte sollten wir denn jetzt eigentlich führen?

Heitmeyer: Nun, wir sollten die Debatte führen über die Integrationsqualität dieser Gesellschaft, denn dort haben wir seit vielen, vielen Jahren Probleme, das heißt Zugänge zum Arbeitsmarkt, die Frage der politischen Partizipation, der Zugehörigkeit in den sozialen Nahräumen, und vor allem immer auch über die Frage: Welche Anerkennungsmöglichkeiten haben Menschen in dieser Gesellschaft? Und diese Anerkennungsquellen sind für einen Teil erheblich versperrt, versiegelt, und da muss man sich darüber nicht wundern. Das heißt die Frage, welche Integrationsqualität hat diese Gesellschaft für Mehrheiten, für Minderheiten - und da kommt, glaube ich, derzeit einiges zu kurz, und man fokussiert so auf solch ein Knallerbegriff, der jetzt durch alle Gazetten geht.

Grote: Sie sagen, die Unterschiede, die man jetzt entdeckt, sind nicht das Neue, sondern die Angst in der Mittelschicht. Können Sie das mal erläutern?

Heitmeyer: Nun, es ist ja so: Wenn es zu Spaltungen in der Gesellschaft kommt, das heißt das obere Viertel gewinnt in den letzten zehn Jahren fast 28 Prozent an Finanzvolumen dazu, im ärmsten Viertel geht das Volumen um fast 50 Prozent zurück, dann gerät natürlich auch die soziale Mitte, die ja sehr viel breiter ist, unter Druck, und die Abstiegsängste dort sind gravierend. Mehr als die Hälfte hat Abstiegsängste, und das hat sich verstärkt durch Hartz IV. Aber der Populismus, der gleichzeitig in der politischen Debatte derzeit da ist, dass nur Hartz IV daran beteiligt ist, ist schon ziemlich bemerkenswert.

Hartz IV hat psychologisch einiges Unheilvolles eingerichtet, weil die Menschen sich jetzt plötzlich in einer Kategorie versammelt fühlen oder dorthin abzustürzen drohen, mit der sie nicht gerechnet haben. Denn gerade die Mittellage oder Mittelschicht hat in der Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik zumindest immer ein Aufstiegsprojekt vor Augen gehabt, und dieses gerät unter Druck. Und gerade Mittelschichten haben auch ihr Finanzbudget, Hausbau et cetera häufig bis an die Grenzen ausgeschöpft, und da genügt jetzt heute einiges Wenige nur, um da tatsächlich abzustürzen.

Grote: Aber diese Angst im Mittelstand vor dem sozialen Abstieg ist doch mindestens genau so alt wie der Mittelstand, oder?

Heitmeyer: Nein, das kann man so nicht sagen, denn wir haben hier eine Erfolgsgeschichte mit ständigen Aufstiegs- und auch Zuwachsraten, und diese sind jetzt ins Stocken geraten, und das ist gerade eben für eine Gruppe, die immer auf Aufstieg getrimmt war, besonders gravierend. Natürlich haben Menschen am unteren Soziallagenrand enorme Ängste, aber diese wachsen in der Mitte.

Und die Mitte steht gewissermaßen für Normalität in der Gesellschaft, und das ist das Gravierende daran, dass dort dann natürlich auch politische Einstellungen sich verändern. Das heißt, wenn man so will, nach unseren Daten über einen Längsschnitt wird die Mitte auch feindseliger, feindseliger gegenüber schwachen Gruppen et cetera, und das ist politisch besonders gefährlich.

Grote: Herr Heitmeyer, Sie sagen, die Angst vor Abstieg ist auch in der Mittelschicht angekommen. Die Angst ist aber doch nicht das Problem, sondern eher die Lethargie, wie sie bei der so genannten Unterschicht auch vorhanden sein soll, oder?

Heitmeyer: Oh, da muss man sehr vorsichtig sein. Selbstverständlich gibt es das, aber das gibt es im Grunde schon immer, nur das, was jetzt politisch als Instrument gedacht ist, nämlich Fordern und Fördern, hat ja einen strukturellen Fehler: Dass in bestimmten Landstrichen Deutschlands die Möglichkeiten des Förderns überhaupt nicht gegeben sind. Als insofern gibt es dort gar keine Strukturen, in denen man auf die Beine kommen kann, und dass das auf Dauer dann Spuren hinterlässt, das ist doch ziemlich normal.

Das heißt, wenn nicht dieser strukturelle Fehler von Fordern und Fördern aufgehoben wird und einfach nur politisch-ideologisch ausgebeutet wird, muss man sich da auch nicht wundern. Das heißt, manchmal haben Menschen keine Kraft mehr, weil ihnen die Gelegenheiten auch nicht mehr geboten werden. Und da gibt es möglicherweise auch so einen Point of no Return, da geht es wirklich nicht mehr, und die Menschen ziehen sich zurück, haben keine Kraft, haben aber auch keine Gelegenheitsstrukturen mehr. Das heißt, die Anerkennungsmöglichkeit in dieser Gesellschaft ist für diese auf Dauer verschlossen, und dann muss man sich nicht wundern, wenn sie selbst NPD wählen, aber die NPD ist derzeit, glaube ich, noch nicht mal das Problem, sondern die Veränderung des sozialen Klimas in der Gesellschaft, und das scheint feindseliger zu werden.

Grote: Was ist mit denen, die erst gar keine Chance bekommen, in die Mittelschicht aufzusteigen, Stichwort Generation Praktikum?

Heitmeyer: Nun, da wird diese Gesellschaft unter Umständen noch Schwierigkeiten bekommen, denn bisher galt immer dieses Versprechen: Wenn eine Person den Leistungskriterien dieser Gesellschaft entsprochen hat, dann gab es auf der gesellschaftlichen Seite auch ein entsprechendes Angebot, das heißt, es gab bestimmte Regeln, nach denen Gesellschaft funktionierte, und darauf konnte man sich einstellen. Diese Regeln sind ja zum Teil außer Kraft gesetzt, denken Sie etwa an den Umstand der horrenden Gewinne von Unternehmen auf der einen Seite bei gleichzeitiger Ankündigung von Massenentlassungen.

Dort entsteht etwas, was man natürlich Orientierungslosigkeit nennen kann, denn man versteht die Regeln nicht mehr, nach denen diese Gesellschaft überhaupt noch funktioniert, das heißt, man kann sich auch nicht mehr darauf einstellen. An manchen Stellen ist es ja so: Was immer man macht, man macht es falsch. Und wenn eine Gesellschaft derart jene vor die Wand laufen lässt, um das mal plakativ zu sagen, die genau diesen Leistungskriterien entsprochen haben, dann wird es wirklich eng.

Grote: Bundesbildungsministerin Anette Schavan, die hat gestern verkündet: Deutschland ist auf dem Weg zur Chancengleichheit. Haben wir denn irgendetwas nicht mitbekommen oder wie kommt die Ministerin zu solch einer gewagten Behauptung?

Heitmeyer: Das ist mir völlig schleierhaft, denn die Chancen sind strukturell ja nun durchaus sehr unterschiedlich: Denken Sie an die verschiedenen Landstriche etwa in Ostdeutschland, wo die gut ausgebildeten jungen Frauen etwa diese Gebiete verlassen, und dort von Chancengleichheit zu sprechen, ist schon ziemlich gewagt.

Grote: Mal ein anderes Zitat, Christa Müller, Mitglied im Landesvorstand der Saar-Linkspartei und Gattin von Oskar Lafontaine, hat auf einer Pressekonferenz am Montag wortwörtlich gesagt: Die Reproduktion des asozialen Milieus lasse sich durch umfassende staatliche Familienberatung begrenzen. Übersetzt, wenn wir keine Kinder mehr kriegen, haben wir auch bald keine Unterschicht mehr. Lässt sich so etwas Geschmackloses eigentlich noch überbieten?

Heitmeyer: Nein, das ist nicht zu kommentieren.

Grote: Also da fällt Ihnen auch nichts mehr zu ein?

Heitmeyer: Nein. Ich meine, Frau Müller hat ja auch gesagt, es müsse endlich Klartext geredet werden in dieser Gesellschaft, aber da wird die tatsächliche Not einiger Menschen auch noch benutzt. Wobei man auch natürlich sagen muss, dass es gefährlich ist in dieser Gesellschaft - das gilt aber für alle Gruppen - wenn Menschen oder Gruppen sich in eine Opferrolle hineinbegeben. Und das bedeutet, wer Opfer ist, hat eine spezifische moralische Überlegenheit und muss sich mit seiner eigenen Lage nicht mehr auseinandersetzen. Das ist natürlich auch gefährlich, aber eine derartige Spezifizierung von sozialen Gruppen kann ich nicht kommentieren.

Grote: Vielen Dank, Herr Heitmeyer, für das Gespräch.

Heitmeyer: Bitte sehr.