Die menschliche Seite des "Zuchtmeisters"

Rezensiert von Andreas Abs · 22.06.2006
Herbert Wehner ist vielen Beobachtern als grimmiger Zuchtmeister der SPD-Bundestagsfraktion und als geschickter Strippenzieher der Bonner Republik in Erinnerung geblieben. Kurz vor seinem 100. Geburtstag am 11. Juli zeigt Christoph Meyer in seiner Biographie des 1990 verstorbenen Wehners eine andere Seite des SPD-Politikers: Meyer zeichnet das Bild eines menschlichen und fürsorglichen Mannes.
Christoph Meyer legt mit diesem Werk kurz vor Wehners 100. Geburtstag die erste vollständige Lebensbeschreibung des SPD-Politikers vor. Es gibt bereits einige Abhandlungen, die sich aber nur mit bestimmten Abschnitten der politischen Tätigkeiten Wehners beschäftigen. Meyer ist parteilich bei seiner Arbeit, was er aber gleich im Vorwort offen legt: Er ist seit 1998 Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerkes in Dresden. Wenn sein Blick auch aus einem bestimmten Winkel komme, so sei er dennoch hoffentlich unverstellt, schreibt Meyer. Demzufolge ist keine nüchtern-distanzierte, sondern eine mitfühlende Biographie entstanden, in der uns Meyer einen neuen, nämlich menschlichen und gar nicht sonderlich widersprüchlichen Wehner präsentiert.

Der Autor schildert Wehner, der am 11. Juli 1906 als Arbeiterkind in Dresden geboren wurde und am 19. Januar 1990 in Bad Godesberg starb, als außerordentlich fleißigen, energischen, fast verbissenen Parteiarbeiter und dabei ungewöhnlich warmherzigen Menschen. Letzteres ist durchaus überraschend im Wehner-Bild. Da ist Wehner vor allem als langjähriger "Zuchtmeister" der SPD-Bundestagsfraktion von Oktober 1969 bis März 1983 in Erinnerung, mit Pfeife, giftigen Zwischenrufen und immerwährender Grimmigkeit. Das stimmt auch, aber auf der anderen Seite gab es Meyer zufolge einen gefühlvollen Wehner, der rührende Briefe an seinen Vater verfasst und sich nachdrücklich um Menschen in seiner näheren und sogar weiteren Umgebung kümmert. Seine Menschlichkeit zeigte sich beispielsweise daran, dass sich Wehner seit Bestehen der DDR vehement für Einzelschicksale dort einsetzte und über den DDR-Anwalt Wolfgang Vogel Tausenden von Menschen zur Ausreise in den Westen verhilft.

Für Meyer ist der politische Werdegang Wehners nachvollziehbar und ohne wirkliche Brüche. Wehner war für ihn stets ein glühender Idealist und Kämpfer für bessere Lebensbedingungen für das Volk. Dass er sich da für den Kommunismus und den Weg in die KPD in den zwanziger Jahren entschied, lag nahe. Seinen schnellen Aufstieg in die Spitze der KPD verdankt Wehner aus Meyers Sicht vorrangig seinem Fleiß und seiner Beharrlichkeit. Die Zeit der Säuberungen im Exil in Moskau von 1937 und Wehners Anteil daran sieht der Autor natürlich kritisch. Wehner habe zwar bei Verhören nur das angegeben, wovon er angenommen habe, dass es schon bekannt war. Es war aber vielleicht auch mehr, was bei Meyer offen bleibt. Eine endgültige Beurteilung fällt schwer, einmal weil in solchen übertaktierten, mörderischen Situationen die Ereignisse immer schwierig zu bewerten sind, zum anderen weil noch nicht alle Akten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD vorliegen. Meyer sagt, Wehner sei in eine Situation geraten, in der er, um zu überleben, andere auch belastet habe. Da habe er sich schuldig gemacht. Seine zweite Lebenshälfte sei eigentlich als tätige Wiedergutmachung für die erste zu sehen. Das klingt nach religiösem Ethos und das lässt sich bei dem evangelischen Christen Wehner auch vermuten.

Unklar bleiben dabei aber mehrere Punkte: Bevor Wehner nach Moskau in die Höhle des Löwen ging, hatte er über die Zustände dort bereits einiges erfahren – warum ging er dennoch in die Sowjetunion? Unklar bleibt bei Meyer auch, warum Wehner danach 1941 die Sowjetunion in Richtung Schweden verließ, um von dort die Untergrundarbeit der deutschen Kommunisten in Nazi-Deutschland zu organisieren. Eigentlich hätten die Erfahrungen in Moskau reichen können, um mit dem Kommunismus zu brechen. Erstaunlich bleibt auch, wie lange Wehner braucht, nämlich rund fünf Jahre, um schließlich doch mit dem unmenschlichen kommunistischen Parteiapparat zu brechen und 1946 in die SPD einzutreten. Ein hässlicher Punkt ist ferner, und dies widerspricht dem Bild vom mitfühlenden Wehner, dass er 1941 seine Lebensgefährtin Lotte Treuber, mit der er immerhin zwölf Jahre zusammen war, in Moskau zurücklässt entsprechend der Weisung der russischen Führung. Von da an scheint sie bei ihm in Vergessenheit geraten zu sein, erst nach dem Krieg bemüht er sich noch einmal um Kontakt zu ihr. Das könnte man als menschlichen Verrat werten, wozu Meyer aber schweigt.

Dass Wehner nach dem Krieg ein Sozialdemokrat und kein sowjetisches U-Boot war, wie es die Union jahrzehntelang behauptete, steht für Meyer außer Zweifel und es hat ja auch nie einen ernsthaften Beleg dafür gegeben. Wehner wollte nach dem Krieg den Sozialismus mit demokratischen Mitteln erreichen. So gehörte er entscheidend zu den Modernisierern der SPD mit dem Godesberger Programm und ihrer Ausrichtung auf den Westen. Etwas kurz kommt dabei die Darstellung, was denn Wehner im Einzelnen unter Sozialismus versteht. Wehner wird vor allem in seinem Bestreben betrachtet, die SPD regierungsfähig zu machen und Deutschlands Einheit zu wahren. Das war sicher der Höhepunkt seines Wirkens, als er seine Partei endlich 1966 aus der Ecke des Staatsfeindes herausgeführt hatte und die SPD in die große Koalition ging. Beim Sturz Willy Brandts verneint Meyer ein aktives Mitwirken Wehners, was Brandts Witwe Brigitte Seebacher in einem Interview zu der bissigen Bemerkung veranlasste, Meyers Buch sei ein Heldenepos, in dem nicht einmal eine kritische Frage auftauche. Die Witwe ist freilich selber und mehr als Meyer Partei. Meyer zufolge distanzierte sich Wehner zunehmend von Brandt, auch wenn er sich immer wieder um Gespräche mit ihm bemühte, weil der bei weitem nicht das gleiche Arbeitsethos wie Wehner hatte. Wehner war der klassische Parteisoldat und Pflichtmensch, während Brandt bekanntlich eher das Fach Frauenheld besetzte. Wehner habe zwar an Brandt in der Guillaume-Affäre festgehalten, war dann aber auch nicht unglücklich über dessen Abschied aus dem Kanzleramt, und zwar weil es der sozialdemokratischen Sache diente, jedenfalls wie Wehner sie verstand. Meyer zitiert einen Vermerk Brandts, in dem dieser bestätigt, Wehner habe ihn nie zum Rücktritt gedrängt.

Vieles an Wehners Erscheinung als Dunkelmann erklärt sich für Meyer daraus, dass Wehner ungewöhnlich rüden Angriffen seiner politischen Gegner von rechts und links ausgesetzt war, die unmittelbar auf die Person zielten. Während ihn Franz-Josef Strauß als Einfluss-Agenten Moskaus schmähte, organisierte die DDR Kampagnen gegen Wehner wegen seines "Verrats" an der Arbeitsklasse. Diese außerordentlich verbissen vorgetragenen Angriffe über Jahrzehnte (schon Adenauer ließ "Dossiers" über Wehner für Wahlkampfzwecke zusammenstellen) haben ihn in der Tat außerordentlich verletzt - wie hätte es auch anders sein können - und so legte er sich den Panzer zu, der heute unser Bild bestimmt.

Die Schwäche des Buches liegt naturgemäß im mitfühlenden Standpunkt des Autors begründet, der in seinem Gegenstand tatsächlich, wie Brandts Witwe sagt, einen Helden der deutschen Politik nach 1945 sieht und das ja auch mit einer Reihe guter Gründe. Etwas zu kurz kommen dabei generell das programmatische Gerüst Wehners und seine große taktische Begabung und seine Winkelzüge. Man erfährt mit Meyers Buch also offenbar nicht immer, wie es wirklich war. Es ist das alte Lied mit Biographien: Meist muss man noch reichlich drum herum lesen, um sich wirklich ein Bild machen zu können. Mit dieser Einschränkung sei jedoch Meyers Werk dem Leser empfohlen, zumal es flüssig geschrieben ist. Es vervollständigt auf jeden Fall wegen seiner zahlreichen neuen Quellen - darunter vor allem viele Gespräche mit Wehners Witwe Greta - das Bild der ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik.

Christoph Meyer: Herbert Wehner
Biographie
Deutscher Taschenbuch Verlag, München
Juni 2006, 579 Seiten, 16 Euro
SPD-Parteitag in Bad Godesberg am 13.11.1959 mit Erich Ollenhauer, Herbert Wehner, Alfred Nau, Fritz Erler, Carlo Schmid, Erwin Schoettle und Willy Eichler (von l.n.r.)
SPD-Parteitag in Bad Godesberg am 13.11.1959 mit Erich Ollenhauer, Herbert Wehner, Alfred Nau, Fritz Erler, Carlo Schmid, Erwin Schoettle und Willy Eichler (von l.n.r.)© AP Archiv