Die menschliche Identität hinterfragt

Von Klaus Hödl · 09.01.2013
Einige wissenschaftliche Disziplinen zerlegen die kulturellen Eigenschaften des freien Willens derart, dass der Mensch wie ein fremdbestimmtes Wesen erscheint. Das geht Klaus Hödl, Historiker am Centrum für jüdische Studien an der Universität Graz, zu weit.
Der schottische Philosoph David Hume, dessen Leben einen Großteil des 18. Jahrhunderts umspannte, hat den Standpunkt vertreten, dass es eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten gebe. Während Fakten einer rationalen Untersuchung zugänglich seien, ließen sich Werte nicht dadurch legitimieren.

Die Frage, ob Tatsachen wirklich rational und objektiv erschlossen werden können, wird heutzutage stark in Zweifel gezogen. Es überwiegt die durchaus gut argumentierbare Auffassung, dass die Erforschung von Fakten durch kulturell bestimmte Perspektiven beeinflusst sei. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen müssten ausgelegt und gedeutet werden, um Sinn zu machen.

Seit einigen Jahren wird wiederum diese Ansicht hinterfragt. Der amerikanische Philosoph Sam Harris etwa meint, nicht nur Fakten, sondern auch Ethik wissenschaftlich-rational begründen zu können. Und der Londoner Neurobiologe Semir Zeki sucht nach der neuronalen Basis ästhetischer Bewertungen. Beide Wissenschaftler sind sozusagen die Speerspitze eines Angriffs auf die sogenannte kulturalistische Perspektive.

Werte erlangen eine objektive Geltung
Den neuen Ansätzen ist gemein, dass sie das Subjektive eines Individuums vernachlässigen. Die Gründe seines Denkens und Handelns suchen sie nicht in seiner Persönlichkeit, in seinem freien Willen oder in seiner kulturellen Prägung. Sie wollen konsequent empirisch vorgehen und dabei auch Werturteile wissenschaftlich fundieren. Werte, denen bislang nur relative Gültigkeit zuerkannt wurde, sollen dadurch eine objektive Geltung erlangen.

Worin liegt der Unterschied zwischen diesen Zugängen? Durch die neue Entwicklung wird der Mensch seiner Urteilskraft weitgehend enthoben. Persönliche Stellungnahmen werden an biologische Ursachen gebunden oder angesichts objektiv geltender Vorgaben als irrelevant betrachtet.

Mit Computerunterstützung nach Gesetzmäßigkeiten suchen
Auch die Geistes- und Kulturwissenschaften, also die wichtigsten Disziplinen, die Kultur deuten und vermitteln, sind gegen diese Art objektivierender Empirie nicht gefeit. Besonders das neue Forschungsfeld der "Digital Humanities" verzichtet zunehmend auf Hypothesen, Methoden und Theorien. Stattdessen sucht es mit Computerunterstützung nach Gesetzmäßigkeiten.

In Anlehnung an den amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz ließe sich behaupten, dass nicht mehr die "dichte Beschreibung" oder "dichte Lektüre" im Vordergrund stehen, sondern die statistische Erfassung und Auswertung eines immensen Datenpools.

Der Methodenwechsel ist noch kein Paradigmenwechsel, doch er scheint ihn anzukündigen; und käme er, wäre er bedenklich. Wie viele andere Entwicklungen wurde auch er - zumindest partiell - durch den Bankencrash von 2008 in Gang gesetzt. Er führte vielen Kulturwissenschaftlern vor Augen, dass sie ähnlich vorgehen wie Finanzanalysten: Beide Seiten beschäftigen sich mit zirkulierenden Zeichen, deren Bedeutung sich häufig lediglich aus der Referenz zueinander ergibt. Die Codes der Kulturwissenschaften wie die derivativen Produkte der Märkte haben bestenfalls einen gebrochenen Bezug zur materiellen Wirklichkeit.

Genetiker erforschen die Identität
Weitreichender zeigt sich der neue Trend zum Empirischen am Beispiel der "Identität". Sie wurde in den vergangenen Jahren zu einem der meist gebrauchten und erforschten Begriffe der Geisteswissenschaften. Kein ernstzunehmender Wissenschaftler konnte umhin, sie als multipel oder fluid zu beschreiben.

Doch nun ist die Identität von Genetikern als Beschäftigungsfeld entdeckt worden. Ihnen gilt sie nicht mehr als dynamisch. Stattdessen wird sie mit der genetischen Verfassung von Menschen in Verbindung gebracht. Und um diesen Ansatz zu stärken, dienen oftmals Juden als Beleg - nicht zuletzt, weil es ja so viele genetische Studien über sie gibt. Und damit ist dann ein Punkt erreicht, wo es bei jedem halbwegs geschichtskundigen Menschen zu unangenehmen Assoziationen kommt.

Klaus Hödl ist Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz, dessen Gründungsdirektor er von 2001-2007 war, und Autor von fünf Monographien über osteuropäische Juden, Bilder des jüdischen Körpers und jüdische Geschichtsschreibung. Das sechste Buch über Juden in Deutschland im 19. Und 20. Jahrhundert erscheint im September 2012 im Paderborner Verlag Ferdinand Schöningh mit dem Titel "Kultur und Gedächtnis".
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