"Die Menschenrechte sind ein Prozess"

Christoph Antweiler im Gespräch mit Dieter Kassel · 10.12.2008
Der Ethnologe Christoph Antweiler hält die Menschenrechte für eine "sehr gute, im besten Sinne infektiöse Idee". Allerdings sei es naiv zu glauben, "dass in direkter Eins-zu-eins-Manier bestimmte formulierte Werte nun jetzt gleich in allen Kulturen der Welt zu finden seien". Es sei wichtig, die Menschenrechte als eine Idee zu begreifen, die sich in einem fortlaufenden Prozess ausweitet.
Dieter Kassel: Vor exakt 60 Jahren, am 10. Dezember 1948, wurde vor der Vereinten Nationen in New York die allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. Seit dem wird darüber gestritten, ob dies wirklich die universellen, weltweit gültigen Menschenrechte sind oder die Menschenrechte des Westens, die dieser dem Rest der Welt überstülpen will. Sind denn die Menschen überhaupt universell genug für universelle Rechte? Bevor wir darüber reden erinnert Fabian Dietrich an den denkwürdigen Tag.

(folgt Beitrag: Vor 60 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet)

"Was ist den Menschen eigentlich gemeinsam?"

Wir geben diese Frage von Fabian Dietrich jetzt weiter an Christoph Antweiler. Er lehrt an die Universität Bonn, ist Ethnologe und Universalienforscher und sucht quasi hauptberuflich nach dem, wonach die Menschenrechte auch immer suchen, nämlich nach dem, was die unterschiedlichen Kulturen der Welt gemeinsam haben. Schönen guten Tag, Herr Antweiler!

Christoph Antweiler: Schönen guten Tag!

Kassel: Wenn Sie das jetzt hören, diese sicherlich auch berechtigte Freude über 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, müssen Sie dann auch ein bisschen schmunzeln? Ist aus Ihrer Sicht das eine naive Vorstellung, dass es einen Katalog von Rechten geben kann, der für alle Kulturen der Welt gilt?

Antweiler: Ich halte das überhaupt nicht für naiv, sondern ich halte das für eine sehr gute Idee, eine im besten Sinne infektiöse Idee, die sehr wichtig ist. Naiv ist nur zu glauben, dass in direkter Eins-zu-eins-Manier bestimmte formulierte Werte nun jetzt gleich in allen Kulturen der Welt zu finden seien. Das wäre naiv. Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man Universales und Relatives, Kulturrelatives, nicht gegeneinander ausspielt. Menschen sind in mancher Hinsicht wie alle Menschen, in mancher Hinsicht wie manche Menschen und in mancher Hinsicht sind sie einzigartig, nämlich wie kein Mensch. Und das gilt auch auf der Ebene von Kulturen.

Kassel: Was haben denn die, ich glaube, rund 7000 Kulturen dieser Welt wirklich alle gemeinsam?

Antweiler: Ja, ich nenne mal ein paar Beispiele. Zum Beispiel das, was man Populärinzestverbot nennt, wobei nur relativ ist, dass mit welcher Art von Verwandten Geschlechtsverkehr oder Heirat verboten ist. Ein zweites Beispiel wäre Nepotismus als Problem. Das finden wir in allen Kulturen.

Kassel: Vetternwirtschaft?

Antweiler: Trittbrettfahrertum. Ja, genau. Oder wir finden in allen Kulturen Hochzeitsriten, wir finden übrigens auch in allen Kulturen ein lineares Zeitkonzept, was häufig bestritten wurde. Es ist zwar so, dass in vielen anderen Kulturen auch noch andere Zeitkonzepte vorhanden sind, zum Beispiel ein zyklisches, aber wir finden in allen Kulturen, über die wir bisher was darüber wissen, auch ein lineares Zeitkonzept. Dies nur mal als Beispiel.

Kassel: Nehmen wir mal als Gegenbeispiel den Artikel 16 Abs. 3 der Deklaration der Menschenrechte. Da heißt es: "Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat". Die Familie, so wie wir sie in Europa kennen, haben Sie jetzt aber nicht erwähnt als Universalie.

Antweiler: Gut, die Familie in dieser jüdisch-christlichen Tradition, Vater, Mutter, Kind, ist in dieser strengen Form nicht universal. Aber wenn man noch enger das fasst, als engere Kernfamilie eine Mutter mit ihren Kindern und häufig ihre Schwester und ihre Kinder, das ist in allen Kulturen das Verwandtschaftsatom, auch in Gebieten, wo es keine vollständigen Familien im westlichen Sinne gibt, wie zum Beispiel in Migrationsgebieten wie in der Karibik oder Westafrika. Da gehören tatsächlich die Männer nicht zum festen Familienbestand, weil sie auch meistens woanders leben und arbeiten.

Kassel: Das würde aber bedeuten, dass zum Beispiel dieser dritte Absatz des Artikels 16 ja nicht funktionieren kann als überall gültiges Menschenrecht, weil es ja nicht nur um die Frage geht, hält man das für schützenswert oder nicht. Man kann ja nicht für schützenswert halten, was man so nicht kennt?

Antweiler: Ja, das stimmt, wenn man das so wörtlich nimmt. Allerdings könnte man natürlich versuchen, so ein Recht langsam zu universalisieren. Man könnte bestimmte Kernnormen in anderen Kulturen finden, die in etwa in die Richtung geht, die man anstrebt, und die dann versuchen, langsam lokale Begründungen für so eine Norm zu finden und die langsam auf diesem Wege zu universalisieren. Das Wichtigste ist meines Erachtens, dass Menschenrechte eben ein Prozess sind. Sie sind eine Idee, die in einem Prozess immer weiter ausgeweitet werden.

Kassel: Wenn wir auf die Dinge zurückkommen, die die Kulturen der Welt wirklich gemeinsam haben, woran liegt das denn, ich habe es schon mal gesagt, dass in rund 7000 Kulturen gewisse Dinge gleich sind? Ist das angeboren, wie man heute dann immer glaubt, genetisch bedingt oder woran liegt das?

Antweiler: Ja, das ist eine ganz wichtige Frage, weil die meisten Menschen, übrigens auch viele Wissenschaftler wie zum Beispiel Steven Pinker als Linguist und Bestsellerautor, gleich denken, wenn etwas universal ist, dann muss die Basis biologisch sein. Demgegenüber muss man sagen, das kann sein, das trifft auch für viele Universalien zu. Zum Beispiel die Basis des Nepotismus, dieser Vetternwirtschaft, liegt wahrscheinlich darin. Aber es gibt auch andere Mechanismen.

Eine alternative Erklärung ist über Diffusion, praktisch weltweite Ausbreitung von bestimmten Ideen oder Kulturmuster, die nicht immer universal waren, aber dann später universal geworden sind. Ein weiterer, dritter Mechanismus, der eine Ursache für Universalien abgibt, ist die Tatsache, dass wir einfach in einer materiellen Welt leben und dass auch Gesellschaften mit ihrer materiellen Umwelt umgehen müssen und es einfach mal für manche Dinge praktischere Lösungen gibt, die unabhängig voneinander überall auf der Welt erfunden werden, zum Beispiel im Bereich der Kommunikation, im Bereich der Medien, im Bereich der Verkehrsleitung.

Kassel: Wenn ich gerade an die Vetternwirtschaft denke oder, ich glaube, man darf das so vereinfachen, einfach an die Neigung von Menschen, Leuten, die zur eigenen Familie gehören, zum eigenen Clan gehören, diese Leute zu bevorzugen gegenüber Fremden. Machen wir es mal so ganz einfach. Wenn das nun einer dieser Werte ist, der in allen Kulturen gleich ist, dann frage ich mich, weil das ist natürlich im modernen Wirtschaftsleben nun nicht unbedingt etwas Positives, kann man so was eigentlich ausrotten? Denn das wollen natürlich wir westlichen Industrienationen eigentlich gerne.

Antweiler: Ja, ich würde sagen, das ist natürlich klar, dass das als Wert nicht universal ist, denn wir kennen selber Kulturen, nämlich unsere eigene, wo das als Wert nicht gilt. Aber als Verhaltenstendenz ist Vetternwirtschaft universal. Also muss jede Kultur, muss jedes Wirtschaftssystem auf diese grundsätzliche Verhaltensneigung des Menschen, der ja auch anders handeln kann, aber es ist eine Verhaltensneigung, eingehen.

Kassel: Ich habe jetzt aber mit einer gewissen Lässigkeit gesagt, es gibt rund 7000 Kulturen, habe Sie gefragt, was haben die gemeinsam und Sie haben Beispiele gebracht. Wie macht man das? Wie kann man denn tatsächlich 7000 Kulturen und ihr Verhalten miteinander vergleichen? Sie haben vermutlich in Ihrem Leben auch noch nicht alle 7000 persönlich besucht?

Antweiler: Nicht ganz. Ja, erst mal muss man sagen, 7000 ist eine ganz grobe Schätzung. Das ist auf Hunderte nicht genau sagbar, weil da bestimmte Abgrenzungsprobleme und verschiedene Kriterien eine Rolle spielen. Das sollte man nur so über den groben Daumen gepeilt, diese Zahl, nehmen. Aber es sind einfach viele Tausend.

Wie macht man das? Man kann diese vielen Tausend Kulturen nicht untersuchen. Man hat aber Datenbanken, vor allem eine spezielle Datenbank in den USA, wo über Jahrzehnte hinweg Beschreibungen von Kulturen, die als Einzelbeschreibung aufgrund von Feldforschungen von Ethnologen angefertigt worden sind, die hat man dort gesammelt. Man hat sie sortiert, systematisiert und codiert. Und wenn Sie sich für eine bestimmte Frage heute interessieren, zum Beispiel gibt es sexuelle Eifersucht in allen Kulturen als regelmäßiges Phänomen, auch wenn nicht jeder Einzelmensch eifersüchtig sein muss, dann kann man versuchen, dort eben die entsprechenden Seiten der entsprechenden Bücher zu finden und daraufhin empirisch zu befragen.

Es gibt aber noch eine sparsamere Methode, nämlich in dem man einfach ganz wenige Kulturen vergleicht, sagen wir mal, fünf bis zehn und die aber über die ganze Welt verstreut, die wenig miteinander oder gar nichts miteinander historisch zu haben. Wenn man dann in diesen Kulturen, die erst mal sehr unterschiedlich sind, die ganz viele Unterschiede aufweisen, wenn man da spezifische Ähnlichkeiten aufweist, zum Beispiel dass überall Jungen und Mädchen unterschiedlich erzogen, dann kann man aufhorchen und überlegen, ob da universale Muster drin sind.

Kassel: In Bezug auf die Menschenrechte ist gerade dieses Beispiel, was Sie genannt haben, mit dem unterschiedlichen Erziehen oder auch generell dem unterschiedlichen Umgehen mit Jungen und Mädchen und auch später Männern und Frauen ja doch eine schwierige Sache. Die Menschenrechte sagen natürlich auch, Männer und Frauen sind gleich in jeder Phase und in jedem Feld ihres Lebens. De facto ist das ja fast schon auch wieder gleich in allen Kulturen, dass sie nicht gleich behandelt werden. Spricht das gegen die Menschenrechte, weil natürlich die Befürworter sagen, na gut, was nicht ist, kann ja noch werden, und indem wir das zu Menschenrechten machen, verstärken wir die Möglichkeit, dass es auch wird?

Antweiler: Ja, das ist ein tatsächliches Problem. Man kann eindeutig sagen, dass die Idee, dass die beiden Geschlechter erstens gleich sind und zweitens gleich behandelt werden, dass die beide nicht universal sind, wenn auch diese Ideen beide weit verbreitet sind.

Es ist aber durchaus universal, dass zum Beispiel Individuen, also die Idee ist universal oder fast universal, dass Individuen ein Recht auf Freiheit haben, dass Individuen autonome Wesen sein sollten. Und das hängt damit zusammen, dass eben alle Kulturen wohl eingesehen haben, dass Menschen zuallererst auch Mal Organismen sind, leidensfähig sind, schutzbedürftig sind. Und auf dieser Idee könnte man dann die Ideen der Gleichheit auch zwischen den Geschlechtern kultivieren.

Kassel: Immer schon gab es natürlich rund um die Menschenrechte Diskussionen. Früher auch schon, 1948, als sie erklärt wurden, war es die Sowjetunion oder später Russland, die einwanden, das sind streng genommen im Detail gar nicht unsere Rechte. Heute ist es vor allen Dingen China. Kann man das so sehen oder gibt, jetzt sage ich mal nicht Recht, jetzt sage ich nicht Angewohnheit, jetzt sage ich Moral, gibt es eine Moral, die eigentlich, die kulturübergreifend gilt?

Antweiler: Bestimmte Kernbestände der Moral gibt es durchaus kulturübergreifend. Aber erst mal muss man dagegen argumentieren gegen diese These, dass es in allen anderen Kulturen einfach völlig andere Moral gebe. Es ist erst mal so, die Idee der Menschenrechte ist vorwiegend im Westen geäußert worden. Sie ist aber absolut nicht rein westlich, schon 1948 in den Gremien saßen Vertreter nichtwestlicher Kulturen.

Zweitens, die Idee der Menschenrechte musste sich im Westen selber erst gegen extreme Widerstände langsam mit vielen Konflikten durchsetzen, was übrigens auch die Kirchen betrifft, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg langsam das wirklich anerkannt haben.

Andererseits, wenn man in andere Kulturen geht, zum Beispiel aktuell jetzt nach China, wo immer gesagt wird, dort gebe es nur so Kommunalorientierung gegen den Individualismus, das stimmt großenteils, aber auch nicht nur. Alle Traditionen, alle großen Traditionen und Religionen haben auch Gegenrichtungen, abweichende Richtungen. So gibt es zum Beispiel durchaus in chinesischen Traditionen, das kann man heute nachweisen, die Idee der individuellen Freiheit.
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