"Die Menschen haben es noch vor Augen"

Funahashi Atsushi im Gespräch mit Dieter Kassel · 09.03.2012
Der japanische Regisseur Funahashi Atsushi hat einen Film über die Flüchtlinge der Atomkatastrophe in Fukushima gedreht. Der Hauptgrund, weshalb er den Film begonnen habe, sei, dass die jetzt heimatlosen Menschen von der japanischen Regierung und von Tepco alleine gelassen werden.
Dieter Kassel: Übermorgen jährt sich die Katastrophe von Fukushima zum ersten Mal. Ein Jahr, nachdem ihre Heimat zerstört und verstrahlt wurde, leben viele Menschen aus Futaba, der Stadt, an deren Rand sich das inzwischen zerstörte Atomkraftwerk befindet, noch immer in Notunterkünften. Viele davon leben in einer ehemaligen Schule bei Tokio, wo sie zu Dutzenden in Schlafsälen übernachten und wo sie seit Monaten so gut wie überhaupt kein Privatleben mehr haben.

Der japanische Regisseur Atsushi Funahashi hat einen Film über eben diese Menschen gedreht, hat sie in dieser ehemaligen Schule bei Tokio besucht. "Nuclear Nation" heißt dieser Film, und ich habe während der Berliner Filmfestspiele, als Atsushi hier in Berlin war, mit ihm gesprochen und ihn erst mal gefragt, ob denn diese Menschen, die dort leben, sich immer noch so gut, wie jeden Tag an diesen 11. März 2011 erinnern.

Atsushi Funahashi: Sicherlich, diese Menschen erinnern sich sehr gut an das, was geschehen ist. Ich habe sehr viele von ihnen befragt, ich habe 300 Stunden Material aufgenommen. Die Menschen haben es noch vor Augen, ihre Häuser, aus denen sie ausquartiert worden sind, die vielen Tage, die sie dann unterwegs verbracht haben, all diese schrecklichen Bilder, die sie erleben mussten, die furchtbaren Erfahrungen. Häufig mussten sie durch vier oder fünf Notunterkünfte hindurch, ehe sie eben jetzt dort in dieser Hochschule, in der Kisai-Oberschule nahe Tokio untergebracht worden sind.

Kassel: Haben diese Menschen, als sie evakuiert wurden, als sie ihren Heimatort verlassen mussten, gewusst, war ihnen klar, dass sie nie würden zurückkommen können?

Funahashi: Nein, überhaupt nicht, denn das Erste, was ihnen erzählt wurde, war, sie müssten wegen dieses Tsunamis und wegen der zu erwartenden Nachbeben ausquartiert werden. Ihnen wurde immer wieder gesagt, es sei wegen des See- und Erdbebens, und das hörten sie in der Präfektur Fukushima. Sie hatten deswegen auch gar nichts bei sich, nur eben das Nötigste am Leibe.

Kassel: Aber diese Menschen haben ja am 12. März, bevor sie dann evakuiert wurden, die erste Explosion gehört im Kernkraftwerk. War ihnen wirklich nicht bewusst, was da wirklich passiert ist?

Funahashi: Sie haben diese Explosion miterlebt, als sie schon auf der Flucht waren. Sie hörten die Explosion unterwegs, das gilt auch für den Bürgermeister von Futaba. Er war drei Kilometer entfernt von diesem Kraftwerk Fukushima, nahe dem Rathaus. Aus diesem Grund hat er auch den gesamten radioaktiven Niederschlag mitbekommen.

Sein gesamtes Haar hat er verloren, seine Beine sind schwer geschädigt, wie er mir erzählt hat. Er hat größte Atembeschwerden. Er schreibt dies den Spätfolgen dieses Fallouts zu oder vielleicht auch einer anderen Ursache, er weiß es nicht genau. Er ist jedenfalls ein Beispiel für viele andere Menschen, die die Explosion sahen und hörten und die dann von diesem Niederschlag direkt betroffen waren.

Kassel: Man hat es ihnen nicht gesagt, sie wissen es nicht, es gab keine Informationen, das klang jetzt schon mehrmals an. Die Menschen, die dann Wochen, Monate in diesem Notlager, dieser ehemaligen Schule in der Nähe von Tokio gelebt haben und immer noch leben zum Teil, fühlen die sich alleine gelassen von der japanischen Regierung und von Tepco, der Betreiberfirma des Atomkraftwerks?

Funahashi: Ja, das war auch genau der Hauptgrund, weshalb ich diesen Film "Nuclear Nation" überhaupt begonnen habe. Ende März 2011, also vor einem Jahr, als das geschah, da sah man so viele Aufnahmen auf den Fernsehbildschirmen vom Tsunami, von den Verwüstungen, von den zerstörten Kraftwerken. Es bestand ein Bedarf an Schulung, an Dokumentarberichten über Radioaktivität, über die Folgen der Strahlung - auch weil die Menschen so entsetzt waren. Sie hatten riesige Wissenslücken, sie wussten eigentlich gar nicht, was ihnen geschah. Das galt sowohl für Tokio wie auch im gesamten Japan. Sie wollten also mehr erfahren.

Zwar hatte Japan Hiroshima und Nagasaki erlebt, aber das lag ja schon über 60 Jahre zurück, und man war sich nicht bewusst, was es bedeutete, verstrahlt zu werden oder solcher Strahlung ausgesetzt zu sein. Diejenigen, die am meisten von diesen Schäden betroffen waren, wussten gar nicht, was mit ihnen geschah, und wurden auch vollständig vernachlässigt, im Dunkeln gelassen, besonders die Menschen von Futaba, die jetzt in dieser Kisai-Oberschule hausen, die dort bis zum heutigen Tag in den Klassenzimmern ausharren und dort untergebracht sind. Sie sind mittlerweile eine Gruppe von Menschen, über die sehr viel berichtet worden ist.

Kassel: Es gibt eine Stelle in dem Film "Nuclear Nation", die für mich sehr ungewöhnlich war, die aber auch viele erklärt hat. Das ist ein Moment, da sitzen die Menschen, viele Menschen auf einmal in einem großen Raum, es laufen die Fernsehnachrichten, und ein Vertreter der Betreiberfirma Tepco spricht, und dann sagt jemand was auf Japanisch, und man kann es verstehen, weil in den englischen Untertiteln dann ganz eindeutig steht: "Fuckers". Das heißt, da sind Menschen auch wirklich, was ich Japanern nie zugetraut hätte, wirklich wütend. Es gibt eine sehr große Wut darüber, wie man behandelt wird.

Funahashi: Ja, genau. Und es ist ja jetzt eine lange Zeit her, fast ein Jahr, seitdem das geschehen ist, aber immer noch haben die Menschen keine Entschädigung bekommen. Sie haben natürlich das, was immaterielle Schäden genannt worden sind, ersetzt bekommen, also 1000 Euro pro Monat bekommen sie auch, die sie benötigen, um noch mal nach Hause zu fahren und ihre Sachen zu holen. Das wird bezahlt. Aber die zerstörten Wohnungen, das Land, das verwüstet ist, davon ist nichts ersetzt oder bezahlt worden.

Es gab im September/Oktober letzten Jahres eine 160 Seiten umfassende umfängliche Dokumentation von Tepco, die wurde an jeden Bewohner der Präfektur Fukushima verteilt. Dort wurde das Entschädigungsverfahren erläutert. Ich habe das selbst durchgelesen, man hat es mir versucht zu erklären, aber es war eigentlich völlig unverständlich für all diese Menschen um Fukushima und Futaba. Man musste genauestens angeben, wo, wann und wie etwas geschehen sei, welches Handy man benutzt habe, welche Kleidung oder Nahrung man gekauft habe. Man musste Quittungen beifügen, umfängliche Dokumente ausfüllen, und erst ganz zum Schluss tauchte dann die Frage nach Wohnungseigentum, nach Grundbesitz auf. Und dazu hieß es recht lapidar: Wir werden darüber später sprechen.

Kassel: Ein knappes Jahr nach der Atomkatastrophe von Fukushima reden wir heute im Deutschlandradio Kultur mit Atsushi Funahashi, er ist japanischer Regisseur und hat den Film gedreht "Nuclear Nation", über die Menschen, die ja eigentlich obdachlos geworden sind durch die Katastrophe, die ihr Zuhause verloren haben und vermutlich nie wieder in die Gegend werden zurückfahren können. Es geht aber nicht nur um die. Nach der Atomkatastrophe hatte man zumindest aus der Ferne das Gefühl, dass sich in Japan die Einstellung gegenüber der Atomkraft ändert. Es gab eine verstärkte Antiatombewegung, das gab es so gut wie gar nicht vorher, und dass sich vielleicht etwas ändern würde. Aber ist das jetzt wirklich geschehen, wird sich Japan vielleicht sogar von der Kernenergie verabschieden?

Funahashi: Nun, das schläft ein. Wir hatten ja vom vorherigen Premierminister Naoto Kan die klare Aussage, dass Japan sich von der Kernenergie abwenden würde. Sein Nachfolger, Premierminister Noda, lässt sich jetzt sehr zweideutig vernehmen, er ist irgendwo auf halbem Wege schon wieder zurück. Seine Partei, die DPJ, die Demokratische Partei Japans, scheint jetzt darauf hinzuarbeiten, dass angesichts der erhöhten Elektrizitätsbedarfe im nächsten Sommer dann doch wieder AKWs angeschaltet werden sollen, also alle die, die seit dem März 2011 zu Sicherheitsüberprüfungen abgeschaltet worden waren.

Die ganze Debatte versickert im Augenblick irgendwo im Niemandsland. Die Anti-AKW-Bewegung gewinnt zunehmend an Kraft, aber wir fühlen uns irgendwie ohnmächtig, weil wir einfach nicht genug Einfluss auf die Politiker, auf die Regierung ausüben können. Aus diesem Grunde laufen jetzt Unterschriftensammlungen, um eine Volksbewegung zum vollständigen Verbot von Nuklearenergie zu bewegen. Wir dürfen es nämlich den Politikern nicht überlassen zu entscheiden, ob Japan weiterhin Nuklearenergie verwendet. Wir müssen das selbst in die Hand nehmen.

Kassel: Der japanische Filmemacher Atsushi Funahashi über die Katastrophe von Fukushima und über die Menschen, die durch diese Katastrophe für immer ihre Heimat verloren haben. Er zeigt diese Menschen wie erwähnt in seinem Film "Nuclear Nation".

Es gibt im Moment keine reguläre Methode, diesen Film zu sehen, er wird unregelmäßig auf Festivals gezeigt. Es gibt von diesem Film neben der Kino- aber auch noch eine Fernsehversion, und die soll in absehbarer Zeit dann auch im deutschen Fernsehen zu sehen sein. Mit den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima bei uns in Deutschland beschäftigen wir uns übrigens morgen zwei Stunden lang in unserer Sendung Radiofeuilleton - Im Gespräch von neun bis elf Uhr.

Da geht es dann um die sogenannte Energiewende, die als Folge dieser Katastrophe angestrebt wurde, und die Frage, ob die überhaupt schon begonnen hat.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de:

Fukushima im Film -
Tsunami und Atomkatastophe Japans auf der Berlinale
Fukushima ist Forum-Schwerpunkt - Forumsleiter Terhechte über drei Berlinale-Filme zur Reaktorkatastrophe in Japan

Sammelportal: Ein Jahr nach Fukushima
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