Die Meisterin der Verzögerung

Von Moritz Schuller |
Die meisten Probleme verschwinden von selbst. Auch auf die Finanzkrise werden wir einmal melancholisch zurückblicken, ohne die ganze Aufregung zu verstehen. Aus Hysterie wird unweigerlich Historie. Es ist also meistens klug, einfach nur abzuwarten und zu schweigen.
Abzuwarten gilt als Herumdrucksen, als Zaudern und Zagen. Zögern zu können, ist jedoch eine Kunst. Der römische Feldherr Quintus Fabius Maximus Verrucosus beherrschte sie: Während des Zweiten Punischen Krieges wich er dem Angreifer Hannibal so lange aus, bis dem die Luft ausging. Danach wurde er in Rom als der "Zögerer" gefeiert. Der Beiname "cunctator" war seitdem sein Ehrentitel.

Auch am Wahlabend 2005 wich Angela Merkel dem rasenden Gerhard Schröder so lange aus, bis dem die Luft ausging. Später sagte Merkel über diesen Moment: "Es gibt in meinem Leben immer wieder Situationen, in denen ich sicher bin, dass nichts zu sagen jetzt der allerbeste Weg ist." Merkel schwieg und Schröder verschwand.

Angela Merkel ist die große Zögerin der deutschen Politik. Sie zögert, weil sie auf den richtigen Moment wartet. Sie hat ein feines Gespür für die Zerfallsgeschwindigkeit von Dingen und Menschen: Sie erkannte als Erste, dass Helmut Kohl am Ende war. Der Zeitpunkt ihrer Distanzierung von ihrem Förderer, durch einen Artikel in der "FAZ", war perfekt gewählt.

Nicht anders das Abwarten beim Fall Hohmann oder beim Fall Oettinger, ihre Zurückhaltung bei Jürgen Rüttgers’ Forderung nach einer Verlängerung des Arbeitslosengeldes II oder ihr langes Schweigen zur SPD-Forderung nach Mindestlöhnen: Angela Merkel wartet darauf, dass bereits Klarheit besteht, bevor sie sich einmischt.

Kaum war klar, wie die meisten Deutschen über den umstrittenen Bischof Williamson denken, kritisierte Merkel öffentlich den Papst. Und weil beim Fall Erika Steinbach lange keine Klarheit herrschte, weil die einen für und die anderen noch gegen Steinbach waren, schwieg Merkel.

Zögern ist politisch klug, wenn es Taktik ist. Wenn es bedeutet, dass man durch Abwarten die eigenen Interessen durchsetzt. Wenn einem dadurch Vorteile entstehen. Doch Merkels Philosophie des Zögerns ist erfüllt von einer inneren Leere. Sie zögert, um Konflikte und Kritik zu vermeiden, nicht um etwas zu erreichen. Sie zögert, um nicht handeln zu müssen.

Auch das Problem Erika Steinbach ist nun verschwunden. Das haben aber die Polen entschieden. Sie haben aus der "blonden Bestie” ein so großes Politikum gemacht, dass angeblich sogar die Regierung in Warschau zu stürzen drohte, wenn Steinbach als eines von 13 Mitgliedern in den Stiftungsrat des Vertreibungs-Zentrum entsendet würde. Merkel schwieg. Auch als der ehemalige polnische Außenminister Bartoszewski das CDU-Mitglied Steinbach auf skandalöse Weise angriff, schwieg deren Parteichefin. Nun ist das Problem verschwunden, ohne dass Merkel sich positionieren musste. Aus ihrer Sicht ein idealer Verlauf.

Der römische Zögerer Fabius hatte diktatorische Vollmachten, als er Hannibal besiegte. Die hat Merkel nicht. Und doch könnte auch bei ihrer Politik ein Hinweis darauf durchscheinen, was sie täte, wenn sie einmal machen könnte, was sie wollte. Dass ihr das Wahlergebnis die Hände bindet, wie sie stets behauptet, und sie zum großen Konsens zwingt, ist schließlich nur die eine Wahrheit. Die andere lautet, dass die Wahl gar nicht erst so knapp ausgegangen wäre, wenn sie sich im Wahlkampf weniger unentschieden präsentiert hätte. Die Wahrheit ist, dass ihre Hände gebunden sind, weil sie sie selbst verschnürt hat.

Merkel zögert, um sich die Entscheidung abnehmen zu lassen. Mal von Rüttgers, mal von den Polen, mal von der SPD, mal von der Finanzkrise.
So minimiert sie das Risiko, für eine falsche Entscheidung zur Verantwortung gezogen zu werden. So läuft sie aber auch Gefahr, irrelevant zu werden. Der kluge Zögerer maximiert seine politischen Handlungsoptionen, Merkel reduziert sie, meistens auf Kosten ihrer eigenen Partei.

Der Wahlkampf ist eine Zeit, in der alles Zögern Stimmen kostet. Frank-Walter Steinmeier, Merkels Kontrahent um die Kanzlerschaft, wird in der kommenden Woche sein Buch vorstellen. Es trägt den Titel "Mein Deutschland”. Wie sieht Angela Merkels Deutschland aus? Sie schweigt dazu. Doch das Bedürfnis, darauf eine Antwort zu bekommen, wird nicht verschwinden.

"Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man", schreibt Franz Kafka. Die Kanzlerin Merkel hat vier Jahre vor der Tür gezögert, statt einzutreten. Sie ist in diesen vier Jahren nicht weniger fremd geworden. Im Gegenteil.
Moritz Schuller, geboren 1968 in München, in Berlin aufgewachsen, Studium der Altphilologie in Oxford und der Vergleichenden Literaturwissenschaften in Yale, dort Ph.D 1998. Freier Journalist bei der "Süddeutschen", der "FAZ" und der "Welt", seit 2002 beim "Tagesspiegel", heute als Verantwortlicher Redakteur Meinung/Politische Literatur.
Moritz Schuller
Moritz Schuller© Doris Spiekermann-Klaas