Die Mehrwertsteuer

Das heimliche Rückgrat der Staatsfinanzen

29:09 Minuten
Eine rotweiss gestreifte Geldbörse liegt auf einem mintfarbenen Untergrund. Daraus schauen einige Euronoten.
Shoppen statt sparen: Die aktuelle Senkung der Mehrwertsteuer soll uns dazu bringen, mehr Geld auszugeben. © Gettyimages / Moment RF / the_burtons
Von Christian Musolff und Elmar Krämer · 22.12.2020
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Egal, was wir konsumieren, ob Dienstleistungen oder Waren, die Mehrwertsteuer kommt noch zusätzlich oben drauf. Sie ist die wichtigste Ressource zur Finanzierung unseres Gemeinwesens. Aber wie ist sie begründet und wie funktioniert sie?
Es ist Anfang November im Corona-Herbst 2020, noch etwa sieben Wochen bis Weihnachten: Susanne W. betritt einen kleinen Fahrradladen in ihrem Viertel, um ein Jugendrad als Weihnachtsgeschenk für ihre Tochter Anne zu kaufen. Letztlich entscheidet sie sich für ein Mittelklassemodell das 464 Euro kostet.
Ihr ist bewusst, dass sie das gleiche Fahrrad über das Internet vermutlich erheblich günstiger hätte erwerben können. Aber das ist Susanne egal. Auch dass sie wegen der vorübergehenden Absenkung der Umsatzsteuer von 19 auf 16 Prozent zwölf Euro weniger für das Rad bezahlen muss, das ist für Susannes Entscheidung nicht ausschlaggebend. Sie hätte das Fahrrad in jedem Fall gekauft.

Umsatzsteuer ist wichtigste Einnahmequelle des Staates

Tagtäglich werden in Deutschland zigmillionen Kaufverträge abgeschlossen, bei denen private Konsumenten und andere Endverbraucher die gesetzliche Umsatzsteuer automatisch und zwangsweise an die Verkäufer entrichten, ohne diesem Vorgang Beachtung zu schenken, obwohl die Mehrwertsteuer, wie die Umsatzsteuer umgangssprachlich oft genannt wird, die wichtigste Einnahmequelle des Staates ist.
Laut dem statistischen Bundesamt betrug das Steueraufkommen von Bund, Ländern und Kommunen in 2019 zusammen rund 800 Milliarden Euro. Davon entfielen 30,4 Prozent oder 243 Milliarden auf Umsatzsteuer beziehungsweise Einfuhrumsatzsteuer.
Zum Vergleich: Die Einnahmen des Fiskus aus der Lohnsteuer betrugen in 2019 "nur" 219 Milliarden, was einem Anteil am Gesamtsteueraufkommen von 27,4 Prozent entspricht.
Unser Gemeinwesen wird also nicht, wie oft angenommen, hauptsächlich durch die direkte Besteuerung von Löhnen und Gehältern finanziert, sondern überwiegend durch die indirekte Besteuerung des Konsums.

Händler führen die Umsatzsteuer für den Kunden ab

Berlin, Unter den Linden 10, unweit des Brandenburger Tores – Sitz der Berliner Dependance der Steuerrechtskanzlei "Flick Gocke Schaumburg". Einer der Partner ist Andreas Erdbrügger. Er ist Rechtsanwalt, Steuerberater, Gastdozent an der Bundesfinanzakademie und Lehrbeauftragter für Umsatzsteuerrecht an der Freien Universität Berlin. Ein Mann, der bei jedem Geschäft sofort Umsatzsteuern sieht, auch wenn es sich um den Kauf eines importierten Fahrrades handelt.
"Wenn die Kundin im Fahrradladen das Fahrrad kauft für 464 Euro, dann ist das ein Betrag, der inklusive Umsatzsteuer ist. Also das heißt, in diesen 464 Euro sind 19 Prozent beziehungsweise aktuell 16 Prozent Umsatzsteuer enthalten. Und das ist das, was auch das Unternehmen dann auch abführt ans Finanzamt, also im Regelfall findet das ja statt. Das heißt, der Fahrradhändler führt die Umsatzsteuer ab, und dadurch wird die Besteuerung im Grunde genommen vorgenommen. Besteuert wird die Käuferin des Fahrrads, aber die Steuer führt praktisch für sie ab: zwangsweise der Fahrradhändler."

Containerhafen Hamburg: Hier werden auch Container mit Fahrrädern aus Taiwan gelöscht und auf LKW zum Weitertransport verladen. Taiwan ist einer der weltgrößten Produzenten und Exporteure von Fahrrädern. Auch Deutschland importiert Fahrräder aus dem asiatischen Land.
Der kleine Laden in Susannes Nachbarschaft kauft seine Fahrräder jedoch nicht direkt im Ausland ein, sondern bezieht sie über eine Einkaufsgenossenschaft. Diese hat auf Importe aus dem Nicht-EU-Land Taiwan die sogenannte Einfuhrumsatzsteuer zu entrichten.

Ab dem Zeitpunkt, an dem das Fahrrad im Hamburger Containerhafen auf das Gebiet der EU gelangt, unterliegen alle weiteren Handelsgeschäfte, die das Rad durchläuft der Umsatzsteuerpflicht.
Luftaufnahme auf den Hafen mit Containern und zwei Windrädern.
Containerhafen in Hamburg: Wie wird garantiert, dass die Mehrwertsteuer für alle hier ankommenden Güter korrekt und nicht mehrfach abgeführt wird? © Gettyimages / Christian Ender

Vorläufer der modernen Umsatzsteuer haben lange Tradition

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin ist das größte Institut seiner Art in Deutschland und wird zu gleichen Teilen von Bund und Ländern finanziert. Hier arbeiten Experten, die unter anderem auch die Bundesregierung beraten. Einer von ihnen ist Stefan Bach aus der Abteilung Staat. Steuergeschichte ist zwar nicht seine tägliche Arbeit, aber sein Steckenpferd. Die "Allphasen-Nettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug", so der sperrige Fachbegriff für die moderne Umsatzsteuer, wurde erst 1968 eingeführt. Ihre Vorläufer haben aber eine lange Tradition, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht.
"Wenn man weiter in die Geschichte zurückblickt, dann entstand so in der frühen Neuzeit, als auch die ersten Vorläufer des modernen Steuersystems sich entwickelten, da kamen dann die absolutistischen Fürsten auf die Idee, dass man ja auch Umsätze, Verbrauch ganz gut besteuern kann. Das war natürlich damals steuertechnisch nur begrenzt möglich. Man hat das dann auf die Städte begrenzt. Da gab es dann ja auch hier in Berlin zum Beispiel die Akzisemauer, um dann eben zu vermeiden, dass geschmuggelt wird. Sie diente natürlich auch dazu, dass die Soldaten der Garnison nicht so ohne Weiteres abhauen konnten. Aber so richtig durchgesetzt eigentlich hat sich die Umsatzsteuer als zweites großes Standbein des modernen Steuerstaates erst im 20. Jahrhundert."

Dem Jahrhundert der beiden großen Weltkriege. Denn diese Kriege kosteten nicht nur Menschenleben, sondern auch unfassbar viel Geld.
"Man hat die Umsatzsteuer in Deutschland während des Ersten Weltkrieges eingeführt, als einen relativ breiten allgemeinen Warenumsatzstempel, der dann nach dem Krieg im Rahmen der Erzbergerschen Steuerreformen noch weiter ausgebaut worden ist zu einer allgemeinen Umsatzsteuer. Das lief dann allerdings so, dass auf alle Umsätze eine relativ geringe Steuer erhoben wurde. Der Nachteil von dem System, den man übrigens auch damals schon erkannt hat, ist, dass das eine sogenannte kumulative Wirkung dann hat, also Steuerkumulation, wenn man mehrere Produktions- und Handelsstufen hat, dann zahlt man ja auf jeder Stufe dann ein, zwei Prozent Umsatzsteuer, hatte man damals. Das kumuliert sich dann, und das hat natürlich dann auch verzerrende Wirkung in den Produktions- und Handelsstufen."
Dr. Stefan Bach steht vor einer Glaswand und schaut in die Kamera.
Die Geschichte der Umsatzsteuer lasse sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen, meint der Finanzexperte Stefan Bach.© Deutschlandradio / Elmar Krämer und Christian Musolff

Steuerakkumulation begünstigte Großunternehmen

Die Reformierung des "Systems Umsatzsteuer" holte also eine Entwicklung nach, die die Realwirtschaft mit der Intensivierung der Arbeitsteilung in Produktion und Handel bereits vollzogen hatte.
"Die Idee, nur die Nettoumsätze zu besteuern und damit diese verzerrenden Wirkungen zu vermeiden, die gab es schon in den 20er-Jahren. Carl Friedrich von Siemens hatte da schon zu Beginn der ganzen Entwicklung 1919 entsprechende Vorschläge gemacht. Die waren auch durchaus präsent damals in der Diskussion. Sie waren noch präsent in den 1950er- und 1960er-Jahren, als man dann breit die Reformmöglichkeiten der Umsatzsteuer diskutiert hat. Aber eben zunächst einmal ließ sich das nicht so ohne Weiteres umsetzen, weil es einfach als zu verwaltungs- und zu befolgungsintensiv galt."
Also blieb es bis 1968 bei der sogenannten "Allphasen-Bruttoumsatzsteuer" aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Ab 1951 betrug deren Höhe schließlich vier Prozent, die – im Unterschied zu heute – auf jede einzelne Phase der Wertschöpfungskette wieder und wieder aufgeschlagen wurde.
Firma A. liefert Rohstahl und schlägt auf den Verkaufspreis vier Prozent Mehrwertsteuer. Firma B. macht daraus Walzstahl: plus vier Prozent. Firma C. zieht daraus einen Fahrradrahmen: vier Prozent. Eine Fahrradmanufaktur baut aus Einzelteilen das Rad, plus vier Prozent. Der Großhändler trägt das Produkt in die Welt: plus vier Prozent. Der Einzelhändler verkauft an den Kunden: plus vier Prozent.

Diese Kumulierung von Steuern hatte zur Folge, dass Endverbraucher damals tatsächlich mehr Umsatzsteuer an den Staat entrichtet haben, als heutzutage. Außerdem begünstigte diese Art der Umsatzsteuererhebung Großkonzerne, da sie große Teile der Wertschöpfung umsatzsteuerfrei im eigenen Haus verwirklichen konnten.
Großkonzern X. kauft Rohstahl, walzt, zieht den Fahrradrahmen, montiert sonstige Teile, beliefert den Einzelhandel, plus vier Prozent. Der Einzelhandel verkauft an den Kunden, plus vier Prozent.
Ein Fahrradmechaniker der ein eingespanntes Vorderrad prüft.
Konnte eine Firma beispielsweise ein Rad vom Rohstoff bis zum verkaufsfertigen Produkt komplett herstellen, war sie früher steuerlich besser dran. (Symbolfoto)© Imago / Westend61 / Daniel Ingold

Vorsteuererstattung birgt Risiko von Steuerausfällen

Die moderne Methode der Umsatzsteuererhebung stellt sicher, dass letztlich nur die Endverbraucher einer Ware oder Leistung belastet werden. Unternehmen hingegen dürfen gezahlte Umsatzsteuern als sogenannte Vorsteuern geltend machen, und sich diese vom Finanzamt erstatten lassen. Die Herstellung eines komplexen Produktes wie beispielsweise eines Flugzeuges, ist ein monatelanger Prozess, bei dem eine große Menge von Rohstoffen, Materialien und Vorprodukten benötigt werden, die das produzierende Unternehmen so lange vorfinanzieren muss, bis das fertige Produkt verkauft und bezahlt worden ist.
Die laufende Erstattung gezahlter Umsatzsteuer als sogenannte Vorsteuer schont die Liquidität der Unternehmen.
Die zeitliche Entkoppelung von Vorsteuererstattungen an Unternehmen durch das Finanzamt, und der Umsatzsteuerzahlungen von Unternehmen an das Finanzamt, birgt allerdings auch das Risiko von Steuerausfällen durch Insolvenzen, Missbrauch und vorsätzlichen Betrug. Eine beliebte und sehr weit verbreitete Methode, Umsatzsteuern zu hinterziehen, wird bevorzugt von Einzelunternehmern und inhabergeführten GmbHs praktiziert, wie Steuerrechtler Erdbrügger zu berichten weiß:
"In der Tat betrifft es hauptsächlich die Einzelunternehmen. Denn diese privaten Entnahmen müssen ja irgendwo bei dem ankommen, dem das Unternehmen gehört. Und das kann man sich jetzt bei einem großen Dax-Konzern nicht so vorstellen, weil er nicht einem gehört, sondern das sind eben typischerweise Einzelunternehmen, kleine GmbHs und ähnliche, wo das, sage ich mal, naheliegend ist – und wo vielleicht sowieso ja auch nicht die Professionalität besteht, dass man diese berufliche und private Sphäre so stark unterscheidet."
Beispielsweise landet der angeblich für den Betrieb angeschaffte Laptop als Vorsteuerabzug in der Buchhaltung und wird vom Finanzamt mit regulär 19 Prozent Vorsteuererstattung unfreiwillig subventioniert, obwohl er vom Sohn des Firmeninhabers höchst betriebsfern genutzt wird. Aber auch andere typische Ausgaben der privaten Lebenshaltung – teure Getränke, Büroartikel, Blumen, Theaterkarten, Restaurantbesuche.

Umsatzsteuerbetrug durch Schwarzarbeit

Die Liste ließe sich beliebig erweitern – all diese Dinge "lässt man über die Firma laufen", wie diese Art des Umsatzsteuerbetrugs von den Tätern verharmlosend umschrieben wird. Ebenso weit verbreitet ist der indirekte Umsatzsteuerbetrug durch Schwarzarbeit.
"Das führt dann zu Einnahmeverlusten, wenn diese Schwarzarbeit eben durch Selbständige dann erbracht wird. Sonst wäre es ja lohnsteuerpflichtige Einnahmen, die dann eine Lohnsteuerhinterziehung wären. Aber bei Selbständigen, Handwerkern zum Beispiel, wenn die eben ohne Rechnung, wie man so schön sagt, eine Leistung erbringen, dann läuft das einerseits ja nicht einkommensteuerlich durch die Bücher und andererseits auch eben umsatzsteuerlich nicht und führt dann zu einem doppelten Einnahmeausfall beim Fiskus."

Onlinehandel bietet Raum für Steuerbetrug

Diese Einnahmeverluste des Fiskus sind gewaltig. Das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen schätzt – im Auftrag des Bundesfinanzministeriums – den Anteil der Schwarzarbeit am Bruttoinlandsprodukt auf etwa zehn Prozent. Demnach könnten jedes Jahr über 340 Mrd. Euro an erbrachten Dienstleistungen und Warenumsätzen, die überwiegend mit 19 Prozent Umsatzsteuer zu belegen gewesen wären, umsatzsteuerlich am Finanzamt vorbeigelaufen sein.
Auch die unpersönliche Weite des Internets, über das quasi jeder mit jedem weltweit Handel treiben kann, bietet reichlich Raum für steuerfreie Geschäfte auf Kosten des Gemeinwohls und zum Nachteil steuerehrlicher Konkurrenzunternehmen.
"Bei diesen Betrügereien, die ja insbesondere in den letzten Jahren bekannt geworden sind, über die Online-Marktplätze, wo ja – Stichwort – chinesische Händler Leistungen angeboten haben, da war es in der Tat so, dass entweder die gleiche Leistung ja statt 119 nur hundert gekostet hat. Also da gab es wohl angeblich Beispiel, die das ganz klar gezeigt haben. Da ist der Wettbewerbsvorteil zu Lasten des steuerehrlichen Unternehmens völlig klar. Und dann gibt es eben die Leute, die auch die 119 trotzdem kassiert haben und dann für sich behalten haben. Dann haben sie natürlich höhere Gewinne und haben dann indirekt durch eine größere Investitionskraft dann natürlich einen Wettbewerbsvorteil."
Erst in jüngerer Vergangenheit ist es ein Stück weit gelungen, wenigstens die großen internationalen Marktplätze wie beispielsweise Ebay und Amazon bei der Prävention verbindlich einzubeziehen – und so die schlimmsten Auswüchse des Umsatzsteuerbetrugs im Onlinehandel einzudämmen.

Der klassische Kassenbetrug

Doch auch in Ladengeschäften können Steuern hinterzogen werden: beim klassischen Kassenbetrug! Denn die an sich unspektakuläre Tatsache, dass die Deutschen immer noch fast 50 Prozent ihrer Käufe mit Bargeld bezahlen, hat den ungewollten Nebeneffekt, dass ein signifikanter Teil der eigentlich abzuführenden Umsatzsteuer nicht beim Fiskus ankommt, weil Händler entweder eine heimliche Barkasse führen, oder die Abrechnung der Kasse manipulieren.
Historische Ladenkasse mit offener Schublade.
Geld hier hinein oder in die eigene Tasche stecken? Mit alten Kassen war Umsatzsteuerbetrug noch relativ einfach.© picture alliance / imageBROKER / Helmut Meyer zur Capellen
"Der Kassenbetrug funktioniert so, wie sich das jeder vorstellen kann: Er steht an der Ladentheke und erwirbt ein Produkt gegen Bargeldzahlung – und anstatt der Registrierkasse geht eben eine andere Schublade auf, da landet dann das Bargeld drin. Das betrifft natürlich alle bargeldintensiven Betriebe. Besonders in der Kritik stehen ja immer die Gastronomen. Es gibt aber auch ganz andere Unternehmen bis hin zur Apotheken, die natürlich viel mit Bargeld umgehen, und es wird eben im Grunde nicht in der betrieblichen Buchführung erfasst und wird damit im Grunde genommen auch nicht besteuert am Ende aller Tage."
Diesen Methoden des Umsatzsteuerbetrugs ist eines gemein: Es werden fällige Umsatzsteuern vom Endverbraucher kassiert, aber nicht an die Finanzämter überwiesen, oder die Umsatzsteuer wird erst gar nicht berechnet, weil der Verkäufer nie beabsichtigt hatte, sie abzuführen. Dem Steuerstaat entsteht dadurch ein erheblicher Einnahmeausfall.

Das Umsatzsteuerkarussell

Noch perfider ist ein anderes Betrugsmodell, das als Umsatzsteuerkarussell bezeichnet wird. Dieses zielt hauptsächlich darauf ab, unrechtmäßige Erstattungen von Vorsteuern durch Finanzämter aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten zu ergaunern, was etwas von einem Banküberfall hat, bei dem die Täter bekanntlich mit leeren Taschen reinkommen, und mit vollen Taschen wieder rausmarschieren.
Nur dass die Bank in diesem Fall Finanzamt heißt und das geraubte Geld der Gemeinschaft der Steuerzahler gehört hat, die damit eigentlich ihre gemeinschaftlichen Aufgaben finanzieren wollte. Dem Staat entsteht dabei kein Einnahmeausfall, sondern er zahlt de facto Geld an die Betrüger aus.
"Der Karussellbetrug ist eigentlich bildsprachlich und geht davon aus, dass man einen ja kreisförmigen Warenhandelskreislauf aufbaut, bei dem eine Ware, im Grunde genommen eigentlich nur mit einer Betrugsmotivation durch eine Kette oder eben einen Kreis gehandelt wird. Und das Ganze basiert eben auf der Funktionsweise des Umsatzsteuersystems. Wir haben ja ein sogenanntes Netto-Allphasen-Umsatzsteuersystem mit Vorsteuerabzug, und das heißt, dass auf jeder Handelsstufe Umsatzsteuer erhoben wird und auch zwischen Unternehmern eben Rechnungen gestellt werden. Der eine führt für die Umsatzsteuer ab. Der andere zieht sie als Vorsteuer, weil er Unternehmer ist. Nur der Letztverbraucher hat ja eben nicht diese Möglichkeit und die Betrüger nutzen das eben aus, in diesem unternehmerischen Rechtsverkehr eben hier Rechnungen zu stellen, wo aber von vornherein nie beabsichtigt ist, dass man die da ausgewiesene Umsatzsteuer abführt, sondern man flieht eben. Deswegen heißt es auch Missing Trader – also der der verschwindende Händler –, der im Grunde genommen ohne diese Steuer abzuführen verschwindet. Aber er produziert eben einen Beleg der einen anderen Handelsteilnehmer, der eben nach ihm kommt, in der Kette den Vorsteuerabzug ermöglicht."

Offene Grenzen ermöglichen den Betrug

So kompliziert, wie es bei Erdbrügger klingt, ist es leider auch. Extrem vereinfacht lässt sich das Karussell in etwa so beschreiben: Mindestens drei Betrüger-Firmen die in verschiedenen EU-Ländern sitzen, handeln eine Ware sehr schnell und wiederholt im Kreis, bis einer sich am Schluss Vorsteuer erstatten lässt, und ein anderer, der sogenannte Missing Trader, Mehrwertsteuer nicht abführt, weil er vorher den Laden einfach dicht macht. Die Ware wird vom Dritten frei und legal verkauft.
Als Schein-Handelsware für Karussellbetrug eignet sich alles, was gut und teuer ist: Smartphones, CO2-Zertifikate, Kupferkabelrollen, Speicherkarten.
"Diese Betrugsmöglichkeit ist eigentlich erst dadurch entstanden, dass im Binnenmarkt seit 1993 die Grenzen entfallen sind, und trotz dieses Binnenmarkts die nationalen Finanzbehörden nicht miteinander kooperieren. Richtig. Dadurch dauert es viel zu lange, bis man so was aufdeckt. Im Inland hätte man das ja auch schon immer machen können. Aber da wären die deutschen Finanzämter natürlich sehr viel schneller gewesen. Die hätten einfach im Zweifel zum Hörer gegriffen und hätten dann das andere Finanzamt angerufen, was da los ist. Und das kann man in Europa eben anscheinend bis heute nicht."
Was verwundert, schließlich liegt die Einführung des gemeinsamen Binnenmarktes bald drei Jahrzehnte zurück. Eigentlich Zeit genug, sollte man meinen, um wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
"Die EU-Kommission hat das auch schon bemängelt, sodass die ohnehin schon bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt werden. Aber es ist, glaube ich, wie vieles in Europa: Wir haben schon sehr viel erreicht, sehr viele Grenzen eingerissen. Aber die nationalen Behörden, die können eben nicht wirklich grenzüberschreitend agieren. Und das fängt natürlich an mit schlichten Themen wie der Sprachbarriere, die man aber heutzutage lösen könnte, wahrscheinlich durch technische Formulare, die eine einheitliche Übermittlung von Informationen ermöglichen würden. Aber es fehlt offenkundig auch der politische Wille, da einen Schritt weiterzugehen."

Umsatzsteuerdelikte in Milliardenhöhe

Den entscheidenden Schritt, den die organisierte Kriminalität den Finanzbehörden bislang offensichtlich voraus ist. Dabei wäre eine effektivere Bekämpfung von Umsatzsteuerdelikten wegen des großen finanziellen Schadens dringend geboten.
"Ich weiß vom Umsatzsteuerbetrug, der klassisch diesen Mechanismus ausnützt, dass es Schätzungen gibt, seitens der EU-Kommission, dass es EU-weit im Jahr 2015 151 Milliarden Euro gewesen sein sollen. Etwa 12,5 Prozent der erwarteten Steuereinnahmen. Es ist aber eigentlich nichts Besseres als eine Schätzung, weil die Mitgliedstaaten, das ist vielleicht auch Teil des Problems, nicht systematisch nachhalten, wodurch ihnen Umsatzsteuer ausfällt. Das muss man ganz klar sagen, es gibt keine Statistik, die sagt: Das war ein Umsatzsteuerbetrug, das war ein Insolvenzfall, das war vielleicht ein Kassenbetrug oder das war irgendwie der Abzug von irgendwelchen persönlichen Ausgaben. Das wird statistisch nicht erfasst."
Wie sollte es auch. Die Schattenwirtschaft arbeitet im Verborgenen und Kriminelle melden ihre illegalen Umsätze selbstredend nicht zur statistischen Erfassung an staatliche Behörden weiter. Folglich basieren die meisten Analysen des Problems auf Schätzungen.
Nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel vom Januar 2020 beträgt der Schaden innerhalb der EU, der auf Umsatzsteuerkarusselle zurückzuführen ist, bis zu 64 Milliarden Euro pro Jahr, wovon zwölf bis 15 Milliarden auf Deutschland entfallen dürften.
Die EU-Kommission schätzt die deutsche "Mehrwertsteuerlücke", die jährlich durch Kassenbetrug- und Kassenmanipulationen entsteht, auf 24 Milliarden. Hinzu kommt noch Umsatzsteuerschwund durch Schwarzarbeit, Ladendiebstahl, Onlinehandel und Privatentnahmen.
Nimmt man alle Umsatzsteuerdelikte zusammen, entsteht dem deutschen Staat jedes Jahr ein Verlust von 40 bis 60 Milliarden Euro, konservativ geschätzt. Geld, das die öffentlichen Haushalte gut gebrauchen könnten.

Soziale Gerechtigkeit und die Umsatzsteuer

Aus der "Tagesschau": "Das Kabinett hat heute erste Teile des milliardenschweren Konjunkturpakets auf den Weg gebracht. Damit will die Bundesregierung den Konsum ankurbeln und die Wirtschaft unterstützen, die unter den Folgen der Coronakrise leidet. Beschlossen wurden unter anderem Zuschüsse für Familien, Hilfen für den Mittelstand und eine befristete Absenkung der Mehrwertsteuer.
Reporter: "Hat sich ihr Konsumverhalten in irgendeiner Form geändert durch diese Mehrwertsteuersenkung?" – Frau: "Eigentlich nicht, nein! Ist alles geblieben." –
Mann: "Bei mir auch nicht."

Klingt erst einmal nicht nach wirksamer Konjunkturspritze. Wobei noch nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden kann, ob die Umsatzsteuersenkungen überhaupt, ganz oder wenigstens teilweise, an die Verbraucher weitergeben worden sind.
An einem Tisch stehen Frauen die Lebensmittel in Konserven verpacken.
Frauen arbeiten während des Ersten Weltkriegs in einer Konservenfabrik: Damals wurde die Mehrwertsteuer eingeführt, um Geld in die Kriegskasse zu spülen.© picture alliance / akg / Haeckel
"Diese konjunkturelle Maßnahme – Steigerung des Konsums – wird insbesondere wahrscheinlich bei hochwertigen Konsumgütern eine Rolle spielen, also dem Erwerb von PKW oder eben auch den Erwerb von Möbeln oder technischen Geräten. Das ist sicherlich, sag ich mal, der typische Bereich, wo man eben ja private Anschaffungen hat, wo man kein Vorsteuerabzug eben hat, weil man ja nicht Unternehmer ist und wo man dann eben wirklich davon profitiert."
Dass die zweiprozentige Absenkung bei Lebensmitteln auf eine Milchtüte einen oder zwei Cent ausmacht, während der sowieso wohlhabende Käufer eines Autos der Oberklasse theoretisch gleich mehrere tausend Euro spart, hat auch die alte, höchst kontrovers geführte Grundsatzdebatte über die soziale Gerechtigkeit der Umsatzsteuer zumindest kurzzeitig neu entfacht. Wer sich jedoch bewusst ist, dass die Umsatzsteuer – ob kurzfristig abgesenkt oder nicht – keine politisch-gesellschaftliche Lenkungsabsicht verfolgt, anders als zum Beispiel die Energie- oder die Tabaksteuer, sondern nur ein Mittel der Staatsfinanzierung ist, stellt sich ganz andere Fragen.

Die Wirtschaft kurzfristig beleben

Würde nämlich die Steuersenkung tatsächlich den vorgezogenen Erwerb langlebiger Produkte anregen, könnte sich die Maßnahme am Ende nicht als konjunkturpolitischer Selbstbetrug entpuppen?
"Das ist ja immer bei solchen Maßnahmen, dass es einen Vorzieheffekt gibt. Nur bei Corona ist es ja schon ein sehr drastischer Konjunktureinbruch. Und ich glaube, die Maßnahme soll ja auch nur begrenzt sein. Insofern wird es eben, glaube ich, immer vorausgesetzt, dass es – wenn irgendwann Corona mal im Griff ist – dann ja auch ausgereicht hat, dass man einen kurzfristigen Konjunkturanreiz setzt, auch wenn er vielleicht zu Lasten der nächsten ein, zwei Jahre vielleicht ist", meint der Steuerrechtler und der Volkswirt vom DIW ergänzt:
"Der Vorzieheffekt ist natürlich gewollt, denn wir haben eben jetzt die Konsumzurückhaltung. Da droht eben die Verschärfung der Rezession mit Multiplikatorwirkungen. Also das ist schon grundsätzlich erwünscht, dass die Leute jetzt das Geld ausgeben und damit die notleidenden Wirtschaftsbereiche belebt."
Allerdings erklären Konsum- und Verbraucherforscher wie die GfK die guten Geschäfte mit hochwertigen Konsumgütern eher mit psychologischen Ursachen, als mit der Absenkung der Umsatzsteuersätze. Die Menschen wollten ihr zum Homeoffice mutiertes Zuhause aufhübschen, die benötigte Hardware zur kontaktreduzierten Kommunikation nachrüsten, konnten ihr Gespartes nicht für Urlaubsreisen ausgeben – und mussten sich vermehrt selbst bekochen, anstatt zur Mittagspause in die Betriebskantine zu gehen.

Die vorübergehende Absenkung der Umsatzsteuer hat aber zumindest eine belegbare Sofortwirkung gezeigt, nämlich unglaublich viel Mehrarbeit bei Unternehmen und Steuerberatern verursacht.
"Es ist ein immenser Aufwand, und ich glaube, das ist auch so der Punkt, den die Politik bei dieser Maßnahme nicht bedacht hat, die ja insbesondere sehr kurzfristig war. Am Abend des 3. Juni wurde das ja beschlossen, und es sollte ja schon am 1. Juli innerhalb von vier Wochen gelten. Und es wurde im Grunde genommen die gesamte deutsche Wirtschaft gezwungen, innerhalb von vier Wochen ihre Systeme umzustellen, was ja eigentlich auch nur durch die heutigen Möglichkeiten von IT überhaupt nur denkbar ist, dass das funktionieren konnte."
Dr. Andreas Erdbrügger steht vor einem Bücherregal und schaut in die Kamera
Die Umsatzsteuersenkung könne kurzfristig die Wirtschaft ankurbeln, meint Rechtsanwalt und Steuerberater Andreas Erdbrügger.© Deutschlandradio / Elmar Krämer und Christian Musolff

Rolle rückwärts zum Jahresbeginn

Wobei man nicht vergessen darf, dass die deutsche Wirtschaft pünktlich zu Silvester eine steuerliche Rolle rückwärts gemacht haben muss, denn ab dem 1. Januar 2021 gelten wieder die alten Umsatzsteuersätze.
"Auf der anderen Seite muss man auch Verständnis haben. Der Gesetzgeber, der so eine Maßnahme durchführt, kann natürlich das nicht weit im Voraus planen, weil dann, wenn er gesagt hätte, wir führen die Mehrwertsteuersenkung erst zum 1. Januar ein, dann wäre bis dahin natürlich ja das Gegenteil einer Konjunkturmaßnahme eingetreten."
Olaf Scholz: "Unsere Maßnahmen haben Wumms!" – Die vorübergehende Absenkung der Umsatzsteuer war derjenige Teil des Konjunkturpaketes vom Sommer 2020, der direkt und in allen Branchen den privaten Konsum ankurbeln sollte. Davon ist bisher wenig zu spüren, stellt Stefan Bach fest: "Der Konsumrausch ist bislang ausgeblieben!"
Und die angesichts von rund 18 Milliarden Mindereinnahmen im Raum stehende Frage, was die Umsatzsteuersenkung tatsächlich gebracht habe, werde man vielleicht nie abschließend beantworten können.
"In der Wirtschaftsforschung haben wir natürlich immer das Problem, dass wir die kontrafaktische Situation nicht kennen: Also was wäre gewesen, wenn wir jetzt die Mehrwertsteuersenkung nicht gehabt hätten, wenn wir das Konjunkturpaket nicht gehabt hätten? Na, das ist ja immer das Grundproblem. Aber dazu werden ja empirische Methoden entwickelt, wo man zumindest versucht, nach Regeln der Kunst sollte Effekte zu identifizieren."
Obwohl die vorübergehende Absenkung der Umsatzsteuer nur einen kleinen Teil der konjunkturellen Stützungsmaßnahmen ausmachte, ist sie wegen des Konjunkturpaketes endlich wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten, wie Andreas Erdbrügger erfreut feststellt.
"Ja, es ist erstaunlich, dass die Umsatzsteuer so wenig Gegenstand in den Medien ist, weil sie ja die aufkommensstärkste Steuer ist, für den Fiskus am wichtigsten und auch den Verbraucher am stärksten belastet. Und insofern ist das schön, dass man sich das Thema jetzt mal näher anguckt."
Das Rückgrat der Staatsfinanzen hat Skoliose und die vorübergehende Umsatzsteuersenkung war allem Anschein nach eher eine teure, wirtschaftspolitische Beruhigungspille für die gestresste Corona-Seele der Republik als eine kräftige Konjunkturspritze.
Im Interesse von Rechtsstaatlichkeit, Steuergerechtigkeit und Haushaltskonsolidierung wäre zu erwägen, dass die Bundesregierung den enormen Anstieg der Neuverschuldung nicht durch Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen zu kompensieren sucht, sondern stattdessen vorhandene Einnahmequellen besser schützt und ausschöpft. Denn schon wenige Jahre ohne Umsatzsteuerbetrug würden zur Schuldentilgung reichen.

Sprecher: Mirko Böttcher, Robert Frank
Ton: Andreas Stoffels
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Martin Hartwig

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