Die Mangelwirtschaft

Von Anja Schrumm |
Junge Frauen sind in Willerstedt oder Hainichen Mangelware. Auf vier Männer im Alter zwischen 18 und 30 kommt in diesen thüringischen Dörfern gerade mal eine Frau. In Hainichen gibt es überhaupt keine Dame unter 30 mehr. Wie lebt es sich in Dörfern ohne Damen? Eine Ortserkundung im Thüringischen von Anja Schrum.
Dreiseitenhöfe. Einer neben dem anderen. Die Dorfstraße entlang. Große Holztore. Verschlossen. Und die Warnung: "Vorsicht, freilaufender Hund".

"Die gibt’s mehr wie Menschen hier."

Hier, in Willerstedt, Kreis Weimarer Land, Bevölkerung: 290 Einwohner.

"Wo haben Sie denn die Zahl her, sind wir noch weniger geworden???"

Kerstin Schmidt steht hinterm Gartenzaun, Harke in der Hand. Blickt die menschenleere Dorfstraße hinunter.

"Mir geht’s ja persönlich genauso. Meine große Tochter studiert woanders, meine kleine Tochter ist fort. Sind gerade mal 18 gewesen - aus'm Haus."

Die Kleine in die Schweiz, die Große nach Oldenburg. Mutti - allein zu Haus.

"Das ist hier im Ort mehr, die Mädchen sind da flexibler. Aber das hast du schon öfters gehört, dass es bei vielen die Mädchen diejenigen sind, die fortgehen."

In Willerstedt leben - so das Statistische Landesamt Thüringen - 10 Frauen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren. 10 Frauen - und 38 Männer.

"Wusstest du eigentlich, dass es in Willerstedt mehr Jungs zwischen 18 und 30 gibt wie Mädchen? Sag mal - wie habt ihr das hingekriegt?"

Frage an den ehemaligen Bürgermeister. Schwer atmend steht er vor dem Kulturhaus. Drinnen feiern die Senioren. Draußen doziert der Landwirt:

"Des ist differenziert. Es werden von Haus aus 51 Prozent Jungs geboren und 49 Prozent Mädchen - nicht. Das ist bei allen Tierarten so - bloß bein Ziegen nicht. Bei den Ziegen nicht."

Frau (lacht): "Weil die mehr Jungs kriegen."

Bürgermeister: "Zwei Drittel Jungs, ein Drittel Mädchen. Aber von den Jungs sind 50 Prozent Zwitter. Hast du das gewusst? Is ein Phänomen. Dann steht's wieder Fünfig-fünfzig. Da ein Drittel, da ein Drittel, drei drittel und ein Drittel Zwitter. Is aber unterschiedlich, in einigen Jahren so, in anderen so."

"Eine normale Sexualproportion sollte ja 100 zu 100 sein. Also 100 Männer auf 100 Frauen. Und das ist im Osten einfach in die Schieflage geraten, in Ostdeutschland gibt’s mittlerweile nur noch 85 Frauen zu 100 Männer in der Altersklasse zwischen 18 und 29 Jahren."

Sagt der Sozialwissenschaftler Steffen Kröhnert: Und nennt den Frauenmangel ein ostdeutsches Phänomen.

"Sie wissen doch, wie Statistiker sind ..."

Antwortet der Alt-Bürgermeister. Und: Sie kennen doch den: Ein neuer Statistiker werde gesucht:

"Da wurde unter anderem die Frage gestellt: Wie viel ist drei mal neun. Da sagt der eine: 28 und der nächste sagt: 26..."

Der dritte sagt: Was soll rauskommen? Den sollen sie genommen haben, schließt der Alt-Bürgermeister.

"Dem seine Tochter ist extra wieder hergekommen aus'm Westen."

Wie alt ist deine Tochter?

"Die ist unter Dreißig. Die ist aus'm Goldenen Westen extra wieder hergekommen, um bei Papa zu wohnen und in Weimar zu arbeiten. (...) Da hätten wir doch schon wieder eine Frau mehr."

Frauenmangel? Der junge Mann, Kinnbart, Ohrring, grüne Arbeitskluft schüttelt den Kopf. Blickt hinüber zu seiner Frau.

"Ich hab mir erst eine hierher geholt. Frau lacht: Die ist aber älter, die paßt nicht mehr in die Gruppierung rein. Ich gloobe, merken tut man das nicht."

Vier Männer auf eine Frau - und keinem fällt's auf?

"Müsst ich glatt überlegen - uns betrifft dat nicht... also, wüsst ich jetzt gar nicht. Also gut, wenn man die Jugend so sitzen sieht, sieht man fast nur Jungs sitzen... Doch ja, wenn man so überlegt. Oder aus der Straße - da sind fast nur Jungs oder so..."

"Das ist die Schweineanlage, das ist der alte Zustand. Die Bratwurstpflanzenfabrik, die arbeitet noch."

Im Gemeindehaus blickt Ingrid Morchel auf eine Luftbildaufnahme von Willerstedt. Ein paar Straßen, ein paar Ställe. Mehr ist nicht. Hier ist Ingrid Morchel Bürgermeisterin, seit Jahren schon.

"Da, als meine Kinder geboren wurden, das waren starke Jahrgänge, aber da war das Verhältnis eins zu zwei. Een Mächen konnte sich zwee Jungs aussuchen. Und wenn dann noch eine verschwindet nach außerhalb, dann verkürzt sich das Verhältnis noch drastischer."

Heute kann eine junge Frau unter vier Männern wählen. Statistisch zumindest. Die Gründe? Ingrid Morchel muss nicht lange überlegen.

"Gerad unsere Frauen, die sind ja auch deswegen ihre Arbeit losgeworden, weil in Apolda die ganze Textilindustrie zusammengebrochen ist. Es hieß: Die arbeiten in der Wolle. Und wenn da früh ein Bus fuhr, dann war der voll. Und jetzt fährt früh ein Bus, da sitzt einer drin."

Männer dagegen arbeiten überall dort, wo Muckis gefragt sind, sagt Ingrid Morchel.

"Für Frauen ist es schwieriger Arbeit zu finden. Selbst der Handel nimmt mittlerweile lieber Männer. Schon so ungefähr im Jahr ’92, ’93, als die Arbeitslosenquoten der Männer noch relativ niedrig war, war die Arbeitslosenquote der Frauen bei 20 Prozent im Osten. Und das hat dann dazu geführt, dass die ganz massiv abgewandert sind und auch nach Ausbildungsmöglichkeiten gesucht haben, im Westen, ja."

Ein Piepton kündigt den Bäcker an. Auch der Schlachter kommt mit einem Verkaufswagen, einmal pro Woche, immer freitags. Einen Konsum hat es hier nie gegeben. Hier in Hainichen.

Hainichen, nördlich von Jena gelegen. Im Saale-Holzland-Kreis. Das sind 205 Einwohner in zwei Ortsteilen: Hainichen und Stiebritz. 205 Einwohner, eine Grundschule, zwei Kulturhäuser, zwei Kirchen, ein Feuerbach-Denkmal, ein gut besuchter Kleintierfriedhof und ein schlecht besuchter Swingerclub.

"Gibt keene Kinder. Bei uns ist das vorbei."

Anderer (lacht). "Ja. Na, die haun alle ab. Die machen alle nach dem Westen."

Alte: "Hier ist ja keener nach'm Westen."

Andere: "Na freilich. Katja, Katja - aber Katja ist ja hier noch gemeldet..."

Anderer: "Nee, das fällt nicht uff. Im umliegenden Tale gibt’s doch welche -"

Auch in Hainichen mangelt es an Frauen. Statistisch betrachtet. Auf der Dorfstraße trifft man keine einzige Frau unter 40. Aber auch keinen Mann.

"Da sieht man eeh keinen. Das Dorf ist wie ausgekehrt. Na ja..."

Eine Frau schiebt vier Knirpse in einer Karre vorbei. Die Tagesmutter. Wo Kinder sind, müssen auch Mütter sein...

" Ja, du bist von Zimmern. Der ist von Jena. Der ist auch von Zimmern und der ist von Hainichen hinten und die Nr. fünf, die ich noch hab, die ist von Postendorf."

Fehlanzeige. Keine jungen Mütter. Klar, sagt der Sozialwissenschaftler:

"Nun ist es so, dass man für ostdeutsche Regionen feststellen kann, die Abwanderung ist überall für Männer größer als für Frauen. Nur die Rückwanderung, da kommen viel weniger Frauen als Männer - was unterm Strich das Frauendefizit aus'macht. Meine These dazu ist, dass Frauen einfach als Singles nach Westdeutschland gehen und dort Partnerschaften finden und Familien gründen..."

Direkt an der Dorfstraße liegt das Kulturhaus von Stiebritz. Im ersten Stock das "Jugendzimmer". Ein geschrumpfter Jugendclub gewissermaßen. Bestehend aus einem Raum plus ein Klo mit Pissoir. Alles frisch renoviert, selbst ausgebaut.

"Wer kommt denn noch alles?"

Mario: "Silvio. Ist ja keener weiter da. Der Moritz, da hab ich niemand erreicht. Chrissi hat Nachtschicht."

Ines: "Der hat Nachtschicht, den hab ich heute früh gehört, wie er kam, um fünfe."

Mario: "Und Ronny, der hat Spätschicht, bis elfe."

Ines: "Und arbeitet Ronny wieder?"

Mario: "Ja, wobei Analytik oder so."

Ines ist heute nur zufällig hier. Zu alt. Und schon verheiratet.

"Hier im Club ist gar keene. Wie viel sind wir im Club? Zehne auf jeden Fall. Alles Jungs."

Andree, 21, blaue Schirmmütze, ist einer von ihnen.

"Wir sind Jugendzimmer, Feuerwehr, alles in einem."

Ines: "Kirmesgesellschaft - bloß dann setzen sie andere Mützen uff."

Wo wenig sind, müssen alle alles machen. Nur die Mädels ersetzen, das wird schwierig.

"Bei uns im Dorf gibt’s nur Männer, Mädels gibt’s hier nicht."

Mario: "In den 80er Jahren sind viele Kinder hier in Stieberitz auf die Welt gekommen, aber bis auf eins waren das alles Jungs."

Ines: "16 Jungs in Folge."

Die einen wurden gar nicht erst geboren. Die anderen sind gegangen.

"Na ja, wenn du das so nimmst: Jeanette ist nicht mehr da oder Kathrin. Sandra ist nicht mehr da."

Frauenmangel - alles eine Frage der Gewohnheit - so scheint's.

"Na ja, Frauenmangel herrscht, glaub ich, überall, erstmal. Aber so: Bei uns in der Region nicht anders als 50 Kilometer weiter. So lange für mich eine übrig bleibt, ist doch alles in Ordnung."

Statt eines Namensschilds steht "Begräbnisstätte für Kleintiere" am Klingelschild von Hainichens Bürgermeister. Jürgen Herford arbeitet im Bestattungsgewerbe. Nicht nur für Kleintiere.

"Als ihr Anruf kam war ich erstmal in Opposition. Ich dachte: Das kann nicht sein. Wer weiß, was für ein Hainichen - deshalb das mit der Postleitzahl noch mal geklärt."

Und dann hat sich Jürgen Herford die Statistik besorgt. Gelesen und geschluckt. Jetzt liegen die Zahlen vor ihm. Gelb sind die Männer markiert. Grün die Frauen. Hoffnung aber ist wenig.

"Die mittleren Jahrgänge sind weg. Wenn Sie's verfolgen, von der Geburt her, die ersten Jahrgänge, stimmt das Verhältnis ja noch einigermaßen. Mit Unterschieden. Aber dann mit einmal, ab 18, sind die Mädchen fort."

Die Statistik verzeichnet 21 Männer in der Gruppe der 18- bis 26-Jährigen. Und: drei Frauen. Drei in Hainchichen und keine einzige in Stiebritz.

"Wie viel sind im Krieg geblieben. Von dem kleinen Hainichen. Sieben? Für das kleine Hainichen ist das viel."

Sechs oder sieben Männer aus Hainichen seien im Krieg geblieben, wirft die Schwiegermutter ein. Der Verlust der Männer - allgegenwärtig. Der Frauenmangel dagegen...

"Wenn ich an unsere Kirmesen denke, wir haben das übliche Eintanzen gemacht - also das Eintanzen ist immer schöne Pärchen, ganz traditionell alles und wir hatten die üblichen zwei Deppen, der eine sitzt an der Kasse, der andere macht den Tresen, aber es war kein Thema, die Pärchen aufzustellen. Oder kannst du dich dran erinnern, dass da irgendwo zwanzig Kerle noch da saßen?"

Weinzheimer: "Aber es wurden eine ganze Reihe Mädchen importiert."

Nicole: "Das wollte ich gerade sagen: Die letzten Jahre zur Kirmes - genau - wenn du das so siehst - das sind nur auswärtige gewesen. Wirklich, ja. Freunde, Bekannte, Cousinen."

Uwe: "Aus'm Westen."

Nicole: "Haha. Aber nicht aus'm Dorf."

Um den Kaffeetisch hat sich die ganze Familie Herford versammelt. Der Bürgermeister und seine Frau, die Schwiegermutter, die beiden Töchter samt Ehemännern. Uwe-Jan Holthoff ist einer von ihnen:

"Ich kenn ein paar nette Kerle, die keine Frau kriegen. Und ich kann's mir nicht erklären. Und es gibt ganz schön hässliche Frauen, die hübsche Kerle kriegen. Also, die müssen aus reiner Not offenbar."

Große Not - so könnte auch der Swinger-Club im Ortsteil Stiebritz entstanden sein. Keine schlechte Idee: Teilen statt Besitzen. Die Frauen - in diesem Fall.

"Das ist eigentlich der einzig geschäftstüchtige, der wollte da einen Swinger-Club gründen und dachte: Das läuft hier. (Lachen) Ja, versucht hat er's, glaub ich."

Bürgermeister: "Er versucht Fuß zu fassen. Es würden ab und an mal Autos da stehen."

Uwe: "Ich glaub nicht, das würd doch auf'm Dorf nicht - wo sich alle untereinander kenne - die wissen doch, wenn da einer gelaufen ist."

Mit dem Frauenmangel ist kein Geschäft zu machen.

"Deswegen können wir uns noch nicht einmal Sex-Gangster leisten hier. Ja, weil es gibt ja keine Frauen mehr. Die sterben an Langeweile. (Lachen) Sitzen da und so'n Bart."

"Klar, Männer natürlich im Alter zwischen 20 und 30 neigen ja zu Aggressivität mehr als andere Bevölkerungsgruppen und eine Partnerschaft, Ehe, wie auch immer, gilt als befriedendes Mittel für solche jungen Männer. Und wenn das eben nicht eintritt - so sind die Befürchtungen - könnte es zu Aggressionsausbrüchen kommen. Ob das aber tatsächlich eintritt, dass weiß im Moment niemand."

Sagt der Sozialwissenschaftler. In Hainichen nickt man:

"Das ist mit Sicherheit eine Theorie, ja."

Weinsheimer: "Irgendwann explodiert die Hirnanhangdrüse." Lachen

Uwe: "Wer Pampers schiebt zu Hause, der hat keine Zeit ein Asylantenheim anzuzünden oder so."

Baseball-Keulen statt Frauen - keine schöne Perspektive. Doch in Hainichen ist man optimistisch. Und denkt historisch.

"Die Statistik sieht vielleicht schlimm aus, aber wenn man es genau betrachtet, wenn man wieder sagt: Im Krieg hatten wir mehr Frauen. Bis nach dem Krieg irgendwann. Dann haben wir jetzt weniger Frauen, wieder mehr Männer. D.h. es ist immer Männlein und Weiblein - immer auf der Suche nacheinander. Also würde ich sagen, das Ungleichgewicht ist die vernünftige Normalität. Also, das ist schon bei den alten Germanen und bei Sabinerinnen, die sind losgetapst und haben ihre Frauen irgendwo gemopst. Und bei den Indianern: Eine Schwarzfuß-Frau bei den Sioux, die war echt was wert. Nicht, weil sie hübscher war. Man hat nicht verstanden, was sie gesagt hat." (haut auf den Tisch). Lachen...

Auch die Thüringer werden irgendwann wieder los müssen. Frauen mopsen, sagt Uwe-Jan Holthoff. Und weiß auch schon wo:

"Dann nehmen wir wieder die Bayern, weil die verstehen wir auch nicht... Toll!"