Die Mär von der Evolution als aufsteigende Leiter

Rezensiert von Johannes Kaiser · 04.04.2005
Der Autor des Buches "Das Ende vom Anfang der Naturgeschichte", Stephen Jay Gould, war Professor für Zoologie und Geologie an der Harvard Universität und eine Ausnahmeerscheinung unter den Evolutionsforschern.
Berühmt wurde er international vor allem durch zahlreiche Bücher, in denen er wesentliche Themen der Naturwissenschaft sehr unkonventionell für ein großes Publikum aufgearbeitet hatte, wie zum Beispiel "Zufall Mensch" oder "Wie das Zebra zu seinen Streifen kam". Gould starb 2002 mit 61 Jahren. Nun liegt ein letzter Sammelband mit 31 Essays vor, der kurz vor seinem Tod in den USA erschien und endlich ins Deutsche übertragen wurde.

Stephen Jay Gould war ein Querdenker, der Zusammenhänge sah, wo andere nur den Kopf schüttelten, der Witze liebte, um auf naturwissenschaftliche Grundprobleme aufmerksam zu machen, der mit bissig-ironischer Argumentationsschärfe immer wieder überkommene Lehrmeinungen ad absurdum führt.

In den 31 Essays, vom kurzen Zeitungsartikel bis zur ausführlichen Abhandlung in einer Wissenschaftszeitschrift, kommt er immer wieder auf Irrtümer klassischer Überzeugungen von Evolutionsvorgängen zurück, wie der Mär von der Geschichte des Lebens als gradliniger Entwicklung von einfachen zu immer komplexeren Lebewesen. Es gibt sie nicht, die aufsteigende Leiter, die Fortschrittsgeschichte, an deren Ende auf der obersten Sprosse der Mensch als logischer Endpunkt der Fortentwicklung steht. Die Evolution gleicht vielmehr einem Busch, der derselben Wurzeln entspringt, dessen Zweige sich aber in sämtliche Richtungen strecken. Er treibt ständig neue Äste hervor, alte sterben ab. Doch kein Zweig bevorzugt eine bestimmte Richtung. So formuliert Gould zum Beispiel in seinem Essay "Geschichten von einem Federschwanz":

"In einem wesentlich umfassenderen Sinn ... verstehen wir das Prinzip, dass Neuerungen durch Verzweigung und nicht durch die Umwandlung aller Vorfahren in bessere Nachkommen entstehen, wenn wir uns der Tatsache bewusst sind, dass Bakterien bis heute den größten Teil des Lebensstammbaumes ausmachen, einschließlich des gemeinsamen Stammes, den sie mit der Entstehung lebendiger Zellen ganz allein errichteten; alle vielzelligen Organismenreiche dagegen nehmen nur wenige - zugegebenermaßen allerdings sehr gesunde - Zweige am Ende eines einzigen großen Astes ein."

Wir Menschen sind also ein Sonderfall der Evolution, nicht die Krone der Schöpfung. Sie strebt, wie Gould in seinem Essay beweist, keineswegs stets zu Höherem, Komplizierterem. So stimmt es zwar, dass aus einer Linie kleiner Dinosaurier die Vögel abstammen, aber umgekehrt gibt es Saurier, die Nachkommen flugunfähiger Vögel waren. Die Entwicklung kann also in beide Richtungen verlaufen.

Die Wirklichkeit widerlegt auch ein zweite, weit verbreitete Argumentation, die Stephen Gould in seinem provokativen Essay "Der Begriff‚ einheimische Pflanzen aus der Sicht der Evolution" aufgreift. Der Begriff einheimisch hat den schlechten Beigeschmack des Rassistischen: alles wird ausgegrenzt und bekämpft, was nicht dazugehört. Doch die Evolution aber kennt keine ethnischen Unterschiede, keine besseren oder schlechteren Erbanlagen.

Stephen Jay Gould wehrt sich gleich in mehreren Essays unter anderem zum Judentum vehement gegen alle Versuche der Rassentheoretiker, solche Kriterien aus Darwins Evolutionslehre zu ziehen. Stammen wir wirklich alle aus Afrika, wie jüngste Funde belegen, dann haben die Afrikaner allen anderen Rassen gegenüber die längste Entwicklungsgeschichte hinter sich, die größte genetische Vielfalt. Alle anderen sind nur ein Teil des afrikanischen Ganzen.

Welches Thema Gould auch aufgegriffen hat, immer wieder warnt er davor, neue Erkenntnisse ungeprüft zu übernehmen:

"Wenn wir kapitulieren und behaupten, das hätten wir doch schon immer gewusst, setzen wir uns leicht der größten aller Gefahren aus - der arroganten Selbstzufriedenheit - , weil wir keine Fragen mehr stellen und nicht mehr beobachten. Und keine andere Situation kann in der Wissenschaft so abscheulich sein."

Das gilt natürlich auch für Goulds eigene Erkenntnisse. Man muss nicht alles widerspruchslos schlucken, was er einem präsentiert. Aber anregend sind seine Essays gewiss, so unterschiedlich auch in ihrer Qualität sind. Manches Argument wird mehrfach wiederholt, aber man muss ja nicht alle Essays nacheinander lesen. Verständlich ist er auch für ein Nichtfachpublikum. Seine Kritik ist nie bösartig, immer logisch fundiert, erkenntnisorientiert. Seine freundlich-ironischen Seitenhiebe lesen sich nicht immer ganz leicht, aber immer mit Gewinn, bringen sie einen doch zu ungewohnten Einsichten. Die überraschenden assoziativen Seitensprünge Stephen Jay Goulds werden uns fehlen.

Stephen Jay Gould: Das Ende vom Anfang der Naturgeschichte
Übersetzt von Sebastian Vogel
Fischer Verlag Frankfurt a.M. 2005
508 Seiten, 24,90 Euro