Die Macht des Diskurses

Von Michael Schornstheimer |
Tim Guldimann ist am Montag in Berlin mit dem Moses-Mendelssohn-Preis 2006 ausgezeichnet worden. Der 55-jährige Schweizer Diplomat erhält die Auszeichnung, die vom Land Berlin verliehen wird, für seine Verdienste als Leiter der OSZE-Unterstützungsgruppe in Tschetschenien, als Chef der Mission in Kroatien und als Botschafter in Teheran.
Moses Mendelssohn hatte einst seinen christlichen Gönnern entgegengehalten: "Bereits euer Reden über mein recht zu leben stellt es infrage". Genauso argumentiert Tim Guldimann. Er warnt die westlichen Poker-Diplomaten davor, dem Iran im Atomstreit irgendein Zugeständnis anzubieten, damit er künftig auf die Bedrohung des Staates Israel verzichtet. Denn - so Guldimann - das Existenzrecht eines Volkes dürfe niemals Verhandlungsobjekt sein. - Diese Position des ehemaligen Schweizer Botschafters im Iran ist für den Laudator Klaus Brigleb eine zentrale Einsicht:

"Er hat jüngst, interviewt zum Problem der UN-Interventionstruppe am Libanon, seine Sorge um Israel ohne Umschweif mit Blick auf ein übergeordnet anderes akzentuiert, auf die Weltmachtpolitik akzentuiert, die zwischen Nordamerika und der muslimischen Welt eskaliert. Hier, im Konflikt der beiden neuen West-Ost-Riesenkörper, hier zwischen sei Israel bedroht. Deshalb gebe es zu autonomen, direkten Friedensverhandlungen zwischen dem Staat Israel und seinen Feinden keine Alternative mehr. Ich glaube, wir sollten uns wünschen, dass unser Preisträger, wie jetzt noch publizistisch, bald auch wieder im diplomatischen Dienst, seine Einsichten einer europäischen Politik zur Verfügung stellen wird, die solche Verhandlungen unterstützt."
Tim Guldimann wurde 1950 in Zürich geboren und studierte dort nach dem Abitur Recht und Ökonomie, später auch in Mexiko und Santiago de Chile. Sein erstes Arbeitsgebiet war die Sozialpolitik. In Stockholm und am Max Planck-Institut in Starnberg bereitete er seine Dissertation über den staatlich organisierten Arbeitsmarkt in Schweden vor. Danach war er Stipendiat der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Aus diesen Erfahrungen entstand ein Buch, ein "Klassiker der politischen Autobiographie", so Laudator Klaus Briegleb, mit dem er den Untergang des Sowjetimperiums vorausgesehen hat.

Anfang der achtziger Jahre trat Tim Guldimann in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein. Gut zehn Jahre später wurde er Botschafter und Leiter der OSZE-Unterstützungsgruppe in Tschetschenien. Dort hat er unter lebensgefährlichen Bedingungen mitgeholfen, die russische und die tschetschenische Führung an den Verhandlungstisch zu bringen. In dieser Zeit wurde ihm klar, dass eine Verständigung ohne ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt unmöglich ist. 1996 moderierte er ein Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Jelzin und dem tschetschenischen Präsidenten Jandarbiev:

"Wir warteten im Verhandlungssaal des Kreml. Plötzlich wurde eine große Tür geöffnet. Im Türrahmen stand Jelzin mit rotem Kopf und brüllte in den Saal: Der Präsident der Russischen Föderation hat noch nie auf eine Delegation warten müssen. Stille. Jelzin setzte sich an den Kopf des langen Verhandlungstischs und herrschte Jandarbiev an: 'Sadis’. Dutzform: Setz Dich. (...) Jandarbiev richtete sich an mich. Ich wandte mich an Jelzin mit der freundlichen Bitte, dass Jandarbiev am anderen Tischende Platz nehmen dürfe. Jandarbiev hatte nämlich darauf bestanden, gleichberechtigt von Präsident zu Präsident mit Jelzin zu verhandeln. Stille - Dann stand Jelzin auf und setzte sich an die Mitte einer Tischseite und forderte Jandarbiev auf, sich ihm gegenüber hinzusetzen. 'Sadites’ - Setzen Sie sich, Höflichkeitsform. Drei Stunden später wurde der Waffenstillstand unterzeichnet."

Trotzdem scheiterte der Vermittlungsversuch. Doch seine zweite OSZE-Mission 1997/98 in Kroatien war ein Erfolg, rühmt Laudator Klaus Brigleb. Das europäische Kontrollgremium habe unter Guldimanns Führung die Donauregion befriedet.

Zurzeit unterrichtet der Preisträger an der Johann-Wolfgang Goethe- Universität in Frankfurt und hat deshalb den Diplomatischen Dienst unterbrochen. Dennoch bleibt er diplomatisch nicht untätig und setzt sich ein für eine Öffentlichkeit zwischen den Parteien und Fronten:

"Auf eine Macht des Diskurses im Vorfeld der Diplomatie. Mit dieser Macht könne gründlicher und mit mehr Ruhe den Konfliktursachen nachgegangen werden, als es in den offiziellen (Geheim-)Verhandlungen angeblich bisher möglich war. Es müsse Druck auf die Konfliktparteien ausgehen, in ihre Verhandlungen nicht mit diktierten Bedingungen hineinzugehen. Das verletze die diplomatische Grundregel des Respekts vor dem Partner. Seien Verhandlungen, die dem Krieg zwischen Völkern entgegenwirken, wechselseitig blockiert, lohne es, 'Verhandlungen über Verhandlungen’ zu führen, um Zeit und Vertrauen zurück zu gewinnen."

Allerdings glaubt Tim Guldimann keineswegs, dass wir alle Konflikte dieser Welt durch Verständigung lösen können. Mit Osama bin Laden sei es nicht ratsam, einen Dialog zu suchen. Wahrscheinlich wäre er auch gar nicht möglich. Umgekehrt aber würden fehlender Respekt und Ausgrenzung beziehungsweise Dialogverweigerung die meisten Konflikte zusätzlich verschärfen, wie derzeit im Nahen und Mittleren Osten.

"Abwehr ist angesagt gegenüber dem neuen Feind. Dabei haben wir in der Vermengung verschiedenster Konfliktfronten ein Feindbild aufgebaut, das in seiner Pauschalierung die ideologischen Verzerrungen des Kalten Krieges noch übertrifft. Der Terrorismus wird zum globalen Phänomen im Singular, Sicherheit zum höchsten politischen Gut, das vor allem in den USA der Rechtsgüterabwägung kaum mehr Raum lässt. Wir glauben unsere Werte zu verteidigen, und sehen nicht, dass wir dabei eben diese Werte untergraben."