Die Macht des Clans
"Die Feuerprobe" handelt tatsächlich von einer unerhörten Begebenheit. Ebenso beunruhigend wie unerklärlich und geheimnisvoll führt sie zuletzt beinahe wider Erwarten zu einem guten Ende. Dabei geht es um nichts Geringeres als um Mord und die von allen Parteien akzeptierte Reinwaschung von Schuld.
Da das Stammesrecht der Beduinen auf dem Prinzip der kollektiven Haftung beruht, war Salim Alafenisch als Mitglied seines Clans selbst betroffen von dem Vorfall im Jahr 1966 und seinen Folgen. Das Erlebte konnte zur Erzählung werden, nachdem sämtliche handelnden Personen gestorben waren.
Kurz skizziert Salim Alafenisch das vom Rhythmus der Jahreszeiten geprägte Leben der Beduinen in der Nähe von Beer Sheva. Statt die Idylle zu beschwören, rekapituliert er den Einbruch von Technik und Politik: Traktoren verändern die Arbeitsweise. Anschläge kurz nach der Gründung der palästinensischen Fatah erreichen ihr Gebiet, in dem sich das israelische Militär zusammenzieht wegen Angriffen auf Jordanien. Schließlich bringt ein Mord die so hierarchisch geregelte Ordnung im Zeltlager grundsätzlich durcheinander.
Unbekannten Täter hatten ein Mitglied der benachbarten Sippe ermordet und der Verdacht fiel auf den Alafenisch-Clan. Die israelische Polizei konnte zwar mit Hilfe eines Spurensuchers feststellen, dass die Täter sich nicht in ihrem Lager aufgehalten hatten und in die Westbank geflohen waren. Trotzdem blieb der Vorwurf, sie gesehen oder gar informiert zu haben, weiter bestehen.
Nach Untersuchungshaft, Befragungen und Einsatz des Lügendetektors stellten die israelischen Behörden das Verfahren mangels Beweisen ein. Doch der Militärgouverneur nutzte die Ausnahmesituation und schickte sechs Männer in die Verbannung, statt die gesamte Sippe ihres Lebensumfeldes zu berauben, wie es die Geschädigten verlangten. Für die Betroffenen, die sich nie einer Regelung nach dem Gewohnheitsrecht verweigert hatten: pure Willkür.
Nur selten verlässt Salim Alafenisch die Rolle eines Erzählers, der Umstände schildert, wörtliche Rede dokumentiert und Vermutungen der Beteiligten widergibt. Nur momenthaft tauch er als Ich-Erzähler, als Leidtragender auf, wenn er zuhört, wie ihn sein Vater einplant, das das ökonomische Überleben während der Verbannungszeit durch Arbeit in den Zitrusplantagen zu sichern.
Mit ihren weiteren Vorstößen erreicht die Klägersippe schließlich Zugeständnisse weit über den üblichen Rahmen hinaus, denn sie geht weder auf Schlichtungsversuche noch auf das Angebot eines Eidschwurs ein. Schließlich einigt man sich vor dem Kadi auf die Feuerprobe, die höchste Gerichtsinstanz der Beduinen, und im Falle der erwiesenen Schuld auf den Tod von vier Männern.
Dabei spielt es aufgrund der überzeitlichen und überindividuellen Bindung an den Rechtsspruch gar keine Rolle, dass die politische Situation im Nahen Osten eine Reise zu den Gerichtsorten in Saudi-Arabien und Ägypten unmöglich macht. Kinder und Kindeskinder werden daran gebunden sein.
Jahre später können beide Parteien nach Ägypten reisen und sich dort bei einem Richter der Feuerprobe zu unterziehen - einer ebenso rätselhaften wie grausamen Zeremonie. Indem ein Clanmitglied drei mal mit der Zunge über einen zum Glühen gebrachten eisernen Topf fahren muss, soll das Feuer über eine schriftlich festgehaltene Formulierung urteilen. Bleiben Blasen auf der Zunge zurück, ist die Schuld bewiesen, während Verbrennungen an Lippe oder Nase nicht von Bedeutung sind. Der Alafenisch-Clan kann sich aufgrund der erfolgreichen Feuerprobe reinwaschen von allen Vorwürfen.
Salim Alafenisch breitet nicht nur eine Fallgeschichte aus, sondern vermittelt Lebens- und Denkweise der Beduinen, ihr Zeitverständnis, ihre ausgeklügelten Verhandlungsrituale, geleitet von Regeln, Erfahrung und Wissen. Doch obwohl er selbst zurückgekehrt ist zu dem Feuerproben-Richter in Ägypten, ihn beobachtet und befragt, Formulierungen zur Schuld eingesehen sowie Fall-Situationen zusammengestellt hat: das Geheimnis dieses in religiös aufgeladener Atmosphäre stattfindenden Rituals bleibt bestehen.
Rezensiert von Barbara Wahlster
Salim Alafenisch: Die Feuerprobe
Unionsverlag, Zürich 2007, 14,90 Euro
Kurz skizziert Salim Alafenisch das vom Rhythmus der Jahreszeiten geprägte Leben der Beduinen in der Nähe von Beer Sheva. Statt die Idylle zu beschwören, rekapituliert er den Einbruch von Technik und Politik: Traktoren verändern die Arbeitsweise. Anschläge kurz nach der Gründung der palästinensischen Fatah erreichen ihr Gebiet, in dem sich das israelische Militär zusammenzieht wegen Angriffen auf Jordanien. Schließlich bringt ein Mord die so hierarchisch geregelte Ordnung im Zeltlager grundsätzlich durcheinander.
Unbekannten Täter hatten ein Mitglied der benachbarten Sippe ermordet und der Verdacht fiel auf den Alafenisch-Clan. Die israelische Polizei konnte zwar mit Hilfe eines Spurensuchers feststellen, dass die Täter sich nicht in ihrem Lager aufgehalten hatten und in die Westbank geflohen waren. Trotzdem blieb der Vorwurf, sie gesehen oder gar informiert zu haben, weiter bestehen.
Nach Untersuchungshaft, Befragungen und Einsatz des Lügendetektors stellten die israelischen Behörden das Verfahren mangels Beweisen ein. Doch der Militärgouverneur nutzte die Ausnahmesituation und schickte sechs Männer in die Verbannung, statt die gesamte Sippe ihres Lebensumfeldes zu berauben, wie es die Geschädigten verlangten. Für die Betroffenen, die sich nie einer Regelung nach dem Gewohnheitsrecht verweigert hatten: pure Willkür.
Nur selten verlässt Salim Alafenisch die Rolle eines Erzählers, der Umstände schildert, wörtliche Rede dokumentiert und Vermutungen der Beteiligten widergibt. Nur momenthaft tauch er als Ich-Erzähler, als Leidtragender auf, wenn er zuhört, wie ihn sein Vater einplant, das das ökonomische Überleben während der Verbannungszeit durch Arbeit in den Zitrusplantagen zu sichern.
Mit ihren weiteren Vorstößen erreicht die Klägersippe schließlich Zugeständnisse weit über den üblichen Rahmen hinaus, denn sie geht weder auf Schlichtungsversuche noch auf das Angebot eines Eidschwurs ein. Schließlich einigt man sich vor dem Kadi auf die Feuerprobe, die höchste Gerichtsinstanz der Beduinen, und im Falle der erwiesenen Schuld auf den Tod von vier Männern.
Dabei spielt es aufgrund der überzeitlichen und überindividuellen Bindung an den Rechtsspruch gar keine Rolle, dass die politische Situation im Nahen Osten eine Reise zu den Gerichtsorten in Saudi-Arabien und Ägypten unmöglich macht. Kinder und Kindeskinder werden daran gebunden sein.
Jahre später können beide Parteien nach Ägypten reisen und sich dort bei einem Richter der Feuerprobe zu unterziehen - einer ebenso rätselhaften wie grausamen Zeremonie. Indem ein Clanmitglied drei mal mit der Zunge über einen zum Glühen gebrachten eisernen Topf fahren muss, soll das Feuer über eine schriftlich festgehaltene Formulierung urteilen. Bleiben Blasen auf der Zunge zurück, ist die Schuld bewiesen, während Verbrennungen an Lippe oder Nase nicht von Bedeutung sind. Der Alafenisch-Clan kann sich aufgrund der erfolgreichen Feuerprobe reinwaschen von allen Vorwürfen.
Salim Alafenisch breitet nicht nur eine Fallgeschichte aus, sondern vermittelt Lebens- und Denkweise der Beduinen, ihr Zeitverständnis, ihre ausgeklügelten Verhandlungsrituale, geleitet von Regeln, Erfahrung und Wissen. Doch obwohl er selbst zurückgekehrt ist zu dem Feuerproben-Richter in Ägypten, ihn beobachtet und befragt, Formulierungen zur Schuld eingesehen sowie Fall-Situationen zusammengestellt hat: das Geheimnis dieses in religiös aufgeladener Atmosphäre stattfindenden Rituals bleibt bestehen.
Rezensiert von Barbara Wahlster
Salim Alafenisch: Die Feuerprobe
Unionsverlag, Zürich 2007, 14,90 Euro