Die Macht der Mächtigen

16.12.2011
Der ungarische Autor Laszló Krasznahorkai wurde 1954 geboren. Seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Der Roman "Melancholie des Widerstands" ist zwar vor 20 Jahren erschienen, erzählt aber Geschichten aus unserer Zeit.
Eine kleine Stadt im Südosten Ungarns. Ein bitterkalter Winter ohne Schnee. Plötzlich kommt ein Zirkus in die Stadt, uneingeladen und wie aus dem Nichts. Seine einzigen Attraktionen sind ein ausgestopfter Riesenwalfisch und ein winziger Herzog mit drei Augen, der kaum zehn Kilogramm wiegt, aber die Menschen begeistert und fesselt wie ein Diktator. Es ist nicht irgendein Zirkus, der in die winterliche Lethargie der ungarischen Kleinstadt einfällt: Es ist die Apokalypse, das Unbehagen, das Chaos schlechthin.

Mit der Ankunft der Zirkusleute gerät die Welt aus den Fugen, erwacht in den Menschen das Böse - und die blutigen Katastrophen lassen nicht lang auf sich warten. Ja, es ist eine albtraumhafte, kafkaeske Parabel, die László Krasznahorkai in "Melancholie des Widerstands" entfaltet - und doch erzählt dieser Roman - obwohl er schon über zwanzig Jahre alt ist - Geschichten aus unserer Zeit.

Vor allem, weil das Buch ein komplexes Nachdenken über Macht und Übermacht ist: Zwangsläufig fühlt man sich an die politische Lage im heutigen Ungarn erinnert, wo die Regierung unter Premierminister Viktor Orban Medien und Kulturinstitutionen mehr und mehr kontrolliert und die Verfassung nach Belieben ändert.

Bei Krasznahorkai ist die Macht der Mächtigen noch brutaler, noch überspitzter - und dennoch ähneln sich die Mechanismen. Im Zentrum der Geschichte steht der arglose Valuska, ein nie erwachsen gewordenes, altes Kind, das sich Abend für Abend in der Kneipe zum Gespött der Trinker macht. Valuska erklärt den Säufern das Universum, und draußen in der Welt schaut er nie zu Boden, sondern immer in die Sterne. Er ist es schließlich auch, der als einziger Bewohner der kleinen Stadt alles sieht und alles versteht, der die Brutalität der Mächtigen und die Aussichtslosigkeit des Widerstands erkennt - und daran zugrunde geht.

Es ist kein leichtes Buch, inhaltlich, aber auch stilistisch: Manche Sätze ziehen sich über mehr als eine Seite hin, man braucht eine Weile, bis man sich in die "Melancholie des Widerstands" eingelesen hat. Aber dann ist man drin. Und dann ist das Buch ein einziger Genuss: weil Krasznahorkai ein literarisches Schlitzohr ist, weil er mit hauchfeiner Ironie und Humor erzählt, weil er menschliches Leben und Leiden so unerbittlich beschreibt, wie man es selten gelesen hat.

Immer wieder fühlt man sich an J.M. Coetzees Jahrhundertbuch "Warten auf die Barbaren" erinnert, auch eine zeitlose Parabel über menschliche Macht und Paranoia. "Melancholie des Widerstands" ist einerseits ein Roman alter Schule, andererseits moderner als die modernste Gegenwartsliteratur. Aktuell ist diese rabenschwarze Parabel allemal: Viele sehen Ungarn gerade auf dem Weg in eine Diktatur. Und so schaudert man um so mehr angesichts von Krasznahorkais literarischer Vision, die in seinem Heimatland mehr und mehr zur alltäglichen Wirklichkeit wird.

Besprochen von Martin Becker

László Krasznahorkai: Melancholie des Widerstands
Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
Fischer Verlag, Frankfurt 2011
464 Seiten, 10,99 Euro.
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