Die Macht der Karten

Sebastian Lentz im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 26.08.2013
Eine Landkarte bietet Orientierung, sie ist scheinbar neutral und wahr und "als visuelles Medium sehr viel kommunikationsmächtiger" als eine Statistik, sagt der Geograf Sebastian Lentz. Doch unser Glaube an den Wahrheitsgehalt von Karten sollte immer kritisch hinterfragt werden, betont der Professor für Regionale Geografie.
Klaus Pokatzky: In Dresden haben sich 2000 Experten für das Kartenlesen versammelt. Wissenschaftler und Praktiker aus aller Welt wollen sich beim 26. Internationalen Kongress der Kartografie eine Woche lang gegenseitig in die Karten schauen, aber natürlich auch in die GPS-Geräte, in Internetsimulationen und andere technische Neuheiten. Und wir blicken jetzt hinter die Karten und fragen auch, wie wahr sind die Karten oder wie verlogen. Und das machen wir mit Sebastian Lentz, mit dem Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde und Professor für Regionale Geografie an der Universität Leipzig, der jetzt im Studio in Leipzig sitzt. Guten Tag, Herr Lentz!

Sebastian Lentz: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Herr Lentz welches ist Ihre absolute Lieblingskarte?

Lentz: Oh, ich glaube, das ist immer die Karte, an der wir gerade arbeiten. Im Moment arbeiten wir an einer Karte über die Verflechtungen der außeruniversitären Forschung in Deutschland mit der universitären Forschung.

Pokatzky: Was kann diese Karte völlig anders aussagen und mir, dem Laien, wenn ich sie angucke, ganz anders erklären, als wenn ich da eine Statistik lese?

Lentz: Die Karte ist zunächst mal als visuelles Medium sehr viel kommunikationsmächtiger. Sie können sehr viel mehr Informationen auf einmal transportieren, während Sie bei einer Erzählung oder beim Lesen einer Tabelle das Ganze sequenziell machen ...

Pokatzky: Was heißt sequenziell?

Lentz: Hintereinander, aufeinander folgend. Sie müssen immer warten, bis ich das eine gesagt habe, und dann sage ich das nächste Wort und so weiter, nehmen Sie beim Sehen sehr viel mehr fast gleichzeitig auf. Und Sie können zum Beispiel die räumliche Anordnung sich viel besser vorstellen, wenn Sie sehen, wie in einem Wissenschaftsstandort wie Berlin die außeruniversitären Institute mit den drei Universitäten dort intensivst kooperieren. Wir können es mit Farben, mit Verbindungspfeilen und ein paar Symbolen, die statistische Größen darstellen, auf einen Blick wahr machen.

Pokatzky: Wie groß ist dabei die Gefahr, dass ich da eher manipuliert werde, als wenn ich ganz nüchtern die Statistik lese?

Lentz: Zunächst ist vielleicht spannend, dass wir bereit sind, die Aussagen, die eine Karte beinhaltet, als eine gültige Aussage über die Welt zu akzeptieren. Das ist in unserer Kultur so. Das hängt damit zusammen, dass wir als Augentiere gewohnt sind, das, was wir sehen, als gegeben hinzunehmen.

Das Zweite ist aber, dass wir Karten vor allem in ihrem Dasein lernen. Das heißt, sie begegnen uns in unterschiedlichsten Zusammenhängen, aber vor allem in Zusammenhängen, in denen der Geltungsanspruch der Karte, etwas über die Welt auszusagen, als wahr empfunden wird. Dieses "dies befindet sich dort und deswegen existiert es auch und ist so, wie es hier dargestellt wird", das hinterfragen wir in der Regel nicht.

Wenn jetzt wir Karten machen, die von solchen einfachen Aussagen, "dies ist dort", abweichen, indem wir Themen und Qualitäten und Quantitäten hinzufügen, dann wird es spannend. Denn dann kann natürlich der Kartenmacher manipulieren. Und dann wird die Aussage über die Welt genauso fälschbar oder gerät einfach falsch ohne Absicht, wie das bei einer Statistik der Fall sein mag, wenn man einen mathematischen Fehler macht oder wenn man eine Zahl absichtlich verdreht.

Wir sollten also Karten grundsätzlich mit einer gewissen Kritikbereitschaft auch anschauen, gerade, wenn sie solche Elemente enthalten, die statistisch aufgeladen sind.

Pokatzky: Ja, aber das kann ja bei der ganz normalen Landkarte mir schon passieren. Wenn ich mir die angucke, da ist zum Beispiel eine exakte Darstellung militärischer Sperrgebiete nicht zu finden. Der Flughafen der US-Airforce im pfälzischen Rammstein ist da dann nur ein heller Fleck. Das heißt, der Ort ist gar nicht richtig da. Wie verlogen können Karten also sein?

Lentz: Vielleicht die spannendste Manifestation aus unserer Perspektive als Regionalgeografen ist die des finnischen Nationalatlas, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht wurde, als Finnland gar kein eigener Staat war ...

Pokatzky: ... sondern zu Russland gehörte ...

Lentz: ... zu Russland gehörte. Also dieser Atlas, dieses Sagen über ein Gebiet, sich die Macht zuschreiben, etwas über ein Gebiet auszusagen, war der Versuch, die Unabhängigkeit einer finnischen Nation zu manifestieren.

Aber natürlich sind auch alle anderen Atlanten solcher Kritik zu unterziehen, und vielleicht können Sie auch auf den Nationalatlas der Bundesrepublik Deutschland, der in unserem Haus, dem Leipziger Institut für Länderkunde, gemacht worden ist, schauen, und dann sehen Sie, dass dieses Deutschlandbild, was wir da viele tausendmal reproduziert haben, eine sogenannte Inselkarte ist. Das heißt, es wird immer nur Deutschland dargestellt, es sei denn, zu den Themen gehören auch die Nachbargebiete Deutschlands.

Aber wenn es um thematische Fixierung geht, wird immer wieder Deutschland als Insel reproduziert. Frankreich, Polen existieren dann quasi nur als graue, angedeutete Flächen. Und so entsteht ein ikonografisches Merkmal von Deutschland, jeder kennt diese Gestalt, mit der man dann so weit arbeiten kann, man kann sie so weit lernen, dass man auch die Inhalte langsam auswendig lernt.

Wenn Sie auf Google Earth gehen oder auf Google Maps oder auf die Open Street Map, dann sehen Sie, dass die Landebahnen von Rammstein inklusive der Hangars und der Bunker für die Flugzeuge alle sichtbar sind.

Pokatzky: Klar. Das heißt also, heutzutage, das Internet korrigiert das, was auf alten, gedruckten Karten, verlogen dargestellt wird?

Lentz: Ich würde das nicht nur dem Internet zuschreiben. Man könnte sich ja eine historische Situation vorstellen, in der es den kalten Krieg noch gäbe. Dann würden vermutlich bestimmte Dinge weiterhin maskiert. Ich weiß nicht, ob die Abhörbaracken der NSA überall als solche markiert sind auf den Karten.

Wenn wir an die GPS-Systeme denken, die wir alle nutzen in den entsprechenden Geräten oder sogar in unserer Smartphones, dann nutzen die wiederum Satelliten, die keineswegs die höchsten Genauigkeiten der Signale aussenden, sondern das genaueste Satellitenortungssystem ist nach wie vor Militärs vorbehalten. Und so haben wir es ähnlich mit Karten, dass bestimmte Technologien demokratisiert werden und uns auch einen allgemeinen Kartengebrauch ermöglicht, wodurch auch ihre Macht steigt, weil sie uns ständig im Alltag begegnen.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Sebastian Lentz, Geografieprofessor an der Universität Leipzig. Wie wahr sind Karten, ist unser Thema. Herr Lentz, in Deutschland ist das Vertrauen in Karten besonders groß?

Lentz: Ich weiß nicht, ob man das so generell sagen kann, aber es gibt ganz anekdotenhaft schöne Erfahrungen, wo man sagen kann, ja, das ist so. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass wir als Nation die Karte vor allem in Zusammenhängen kennengelernt und auch schätzen gelernt haben, die auf diese eingangs berichteten Wahrheitskontexte zurückgeht.

Wenn wir uns eine beliebte Sendung anschauen wie bei Arte die Sendung "Mit offenen Karten", in denen über politische Verhältnisse auf der Welt geschaut wird, dann diskutieren wir als Fachleute immer mal wieder über die Sprache dieser Karten, die uns teilweise sehr faktizistisch vorkommt, teilweise sehr zu hinterfragen ist, ob man Wanderungspfeile oder Eingriffspfeile, ob man die so zeichnen sollte.

Und wenn wir mit französischen Kollegen darüber diskutieren, dann bekommt man manchmal die Antwort: Ich weiß gar nicht, was ihr habt, das ist doch nur eine Karte. Und dann fühlen wir uns als Deutsche oft vor den Kopf gestoßen, ja, Moment, eine Karte ist doch genau das, was die Wahrheit sagt oder was sehr machtvoll ist in ihrer Visualität.

Und die Franzosen verstehen diese Karte oft als eher eine Skizze, etwas, was man mal hinwerfen kann. Und das könnte ein kleines Indiz dafür sein, dass es tatsächlich so etwas wie unterschiedliche Kartenwahrnehmungskulturen gibt.

Pokatzky: Herr Lentz, wo sind denn heute Karten eine wirklich wichtige Grundlage für politische Entscheidungen?

Lentz: Ich würde die Entscheidung nicht kommentieren können, aber ich würde sagen, sie sind die Grundlage, sie sind Informationsgrundlage vermutlich für Entscheidungen. Wir sehen, dass Karten mehr und mehr in Massenmedien, im Fernsehen, Onlineberichterstattung, aber auch in der Qualitätspresse auftauchen.

Beobachten Sie mal die Wahlberichterstattung, die Wahlprognosen, wie schnell die jetzt, in den nächsten Wochen, regionalisiert werden, dass man schon sieht, wo laufen die Prognosen hin. Und das sind natürlich dann Informationen, die auch auf politisches Handeln einen Einfluss haben.

Pokatzky: Danke, Sebastian Lentz, Professor für Regionale Geografie an der Universität Leipzig. Und einen schönen Tag noch!

Lentz: Danke gleichfalls!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.